Digitalisierung ist für alle Unternehmen – ob gross oder klein – eine Herausforderung. Disruptive Entwicklungen erschweren die Orientierung. Junge Mitbewerber greifen unbekümmert die Geschäftsmodelle gestandener Branchenkrösusse an. Die nachwachsende Kundengeneration zeigt ein eigenes und – wenigstens aus Sicht digitaler Immigranten und Dinosaurier – eigenwilliges Kommunikations- und Konsumverhalten. In wenigen Jahren wird die Generation Z zu einem kaufkräftigen Segment heranwachsen – die erste Alterskohorte, die von Geburt weg den Sound digitaler Klingeltöne kennt.
Die Digitalisierung stellt die meisten Unternehmen vor die gleiche Herausforderung: Ein immer grösserer Teil der Kundeninteraktion und der Erlebniswelt von Konsumenten verschiebt sich in den digitalen Bereich. Dies bietet Chancen – aber nur für jene Unternehmen, die über das notwendige Know-how, genügend agile Organisationsstrukturen und passende Geschäftsmodelle verfügen. Die Realität in vielen Unternehmen sieht anders aus. Es herrscht ein Mangel an Knowhow und geschultem Personal. Die Angst vor Risiken und Fehleinschätzungen geht um. Es fehlen Erfahrungswerte und deshalb der Mut, sich in Neuland vorzuwagen. Zuständigkeiten sind ungeklärt, etwa zwischen Business und IT. Entscheidungsprozesse und Vorgehensweisen sind wenig agil. Oft steht auch eine Nullfehlerkultur dem digitalen Wandel im Weg.
Vielen Unternehmen fällt es schwer, das Tempo des digitalen Wandels mitzugehen. «Die grösste Gefahr in Zeiten des Umbruchs ist nicht der Umbruch selbst, sondern ihm mit der Logik von gestern zu begegnen», hatte bereits der Management- Guru Peter F. Drucker erkannt. Die Bedeutung des Rohstoffs Daten ist bei den Entscheidungsträgern angekommen. Unternehmen beginnen Datenstrategien auszudenken und «Data Lakes» anzulegen. Es werden «Hadoop Cluster» installiert, «Data & Analytics Labs» eingerichtet und «Data Scientists» eingestellt.
Eine erfolgreiche Datenstrategie erfordert aber mehr als Investitionen in Daten, Personal und Technologien. Sie verlangt ein Mindset, das digitale Geschäftsmodelle, Organisationen, Produkte und Prozesse umfassend denkt. Dies wird gerne vergessen, wenn man das Thema wieder einmal «in die IT» gibt oder wenn sich IT und Business Units darüber streiten, wem «das Thema gehört». Der digitale Wandel ist aber kein Thema, um das sich einzelne operative Einheiten oder technische Spezialisten kümmern sollten. Er erfordert strategisches Denken, das von ganz oben geführt wird und sich tief in die gesamte Organisation eingräbt.
Der digitale Wandel erfordert strategisches Denken, das von ganz oben geführt wird und sich tief eingräbt.
Sportlerinnen und Sportler wissen es ganz genau: Erfolg beginnt im Kopf. Innere Blockaden, leistungshemmendes Verhalten, unbewusste Ängste werden durch mentales Training abgebaut. Die Leistungssteigerungen sind oft verblüffend, bei vergleichbarem Trainingsaufwand. Für Unternehmen gilt das Gleiche. Digitale Leistungsfähigkeit beginnt im Kopf. Unternehmen müssen lernen, das Potenzial der Digitalisierung für das eigene Unternehmen laufend neu zu entdecken. Sie müssen diese Fähigkeit verinnerlichen, weil sie eine Schlüsselkompetenz in der digitalen Wirtschaft ist. Externe Berater helfen da nur bedingt weiter. Dieses neue Denken – nennen wir es «Data Thinking» – setzt weit vor konkreten Digitalisierungsprojekten an. Unternehmen müssen nach innen verstehen, wie Daten, neue algorithmische Verfahren (zum Beispiel Maschinenlernen) und Technologien für die Optimierung des eigenen Geschäftsmodells genutzt werden können. Sie müssen nach aussen ihre Sensoren ausfahren, um technische Entwicklungen am Markt, in der eigenen Branche und im Kundenverhalten zu verstehen. Sie müssen lernen, Startup-Trends und Bottom- up-Entwicklungen in Data-, Techund Open-Source-Communitys zu lesen.
Nötig sind neugierige Mitarbeitende – nennen wir sie «Data Scientists» –, die die richtigen Fragen an Daten stellen. Es braucht deren Intuition und technische Kompetenz, um den Daten die verschlüsselten Informationen zu entlocken. Und es braucht ein tiefes Verständnis für die Bedürfnisse von Kunden, um diese Informationen in innovative Datenprodukte und -services zu übersetzen. Kreativität, Neugier, Intuition und technische Kompetenz der Mitarbeitenden sind entscheidende Ressourcen für digital erfolgreiche Unternehmen. Die Freiräume dafür sind längst nicht immer gegeben. «Das Problem in vielen grossen Unternehmen ist, dass Prozesse das Denken ersetzen», sagt der Tesla-Gründer Elon Musk. Was Mitarbeiter vor allem benötigen, sind Freiräume, um sich von der Big-Data-, Open-Source- und Artificial-Intelligence- Welt inspirieren zu lassen. Mitarbeitende müssen Bestehendes infrage stellen und gezielt «hacken» dürfen. Sie müssen «Startup- Luft atmen», Technologien und Tools ausprobieren dürfen. Nur so lernen sie die Möglichkeiten der Digitalisierung fürs Unternehmen zu verstehen.
Am Anfang digitaler Erfolgsgeschichten steht selten der grosse strategische Wurf. Die Entwicklung von Unternehmen zu digitalen Champions ist viel häufiger ein evolutionärer Prozess. Er wird getrieben durch konsequentes Datendenken und erfolgreiche Datenprodukte. Geschäftsmodelle und Organisationsstrukturen mit den entsprechenden Ressourcen; Tools und Prozesse werden häufig erst im Nachhinein um erfolgreiche Datenprodukte «herumgebaut». Jedes neue Datenprodukt fügt einen neuen Baustein zum digitalen Unternehmen hinzu. Schritt für Schritt gewinnt das Unternehmen an digitaler Reife. Mit jedem neuen Projekt wird Wissen gewonnen; werden Technologien verstanden, integriert, verworfen; Prozesse aufgesetzt, optimiert, verfeinert; die notwendigen Kompetenzen und Strukturen aufgebaut. Die grössten und erfolgreichsten Plattformunternehmen haben früh verstanden, dass attraktive Datenprodukte der Schlüssel zum digitalen Erfolg sind. Attraktive Datenprodukte generieren Kundenbindung. Denn die Beziehung zu Kunden ist häufig wichtiger als das Produkt selbst.
Prof. Dr. Andreas Brandenberg, Data Thinker, Gründer und Leiter Master in Applied Information and Data Science, Hochschule Luzern – Wirtschaft.