Nach einer Zugfahrt und einem kurzen Stück im Bus ist das Ziel erreicht: das IBM-Forschungslabor in Rüschlikon, hoch über dem Zürichsee. Hier befindet sich das 1962 gegründete Forschungslabor des Technologiegiganten, einer von 19 Forschungsstandorten weltweit. In Rüschlikon arbeiten insgesamt 400 Mitarbeitende aus 45 Nationen. Ein Ziel des Standorts ist klar: den Durchbruch schaffen im Quantencomputing.

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Denn Quantencomputing wird als eine der Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts betrachtet. Die Theorie, der zufolge Quantencomputer Probleme lösen können, die klassische Computer nicht bewältigen können, wurde in den 1980er Jahren vom amerikanischen Physiker Richard Feynman und dem russischen Mathematiker Yuri Manin entwickelt. Seither arbeiten weltweit Entwickler und Entwicklerinnen daran, das theoretische Potenzial der Quantencomputer zu erschliessen.

Marktreife weit entfernt, Potenzial vielversprechend

Da sich das Quantencomputing auf dem Weg zur Markreife befindet, werden sowohl vom öffentlichen Sektor, allen voran von China und der Europäischen Union, als auch der Privatwirtschaft immer grössere Investitionen getätigt. Laut einer Berechnung des Beratungsunternehmens McKinsey wurden im Jahr 2020 700 Millionen Dollar privater Finanzmittel an Startups im Bereich der Quantentechnologie bereitgestellt. Im Jahr 2021 hat sich dieser Betrag sogar verdoppelt.

Etablierte Technologiegiganten und Startups sind also längst auf den Zug aufgesprungen und befinden sich in einem Wettrüsten um den leistungsfähigsten Quantencomputer. So eben auch IBM. Heike Riel, Spitzenforscherin und Leiterin der IBM-Quantencomputerforschung in Europa und Afrika, ist überzeugt von ihrem Forschungsgebiet: «Die Quantentechnologie wird so viel verändern wie vor siebzig Jahren die klassische Computertechnologie.»

Zwischen dem Quantencomputer und einem herkömmlichen Computer lassen sich optisch kaum Vergleiche ziehen. Andreas Fuhrer, IBM-Forscher für Quantentechnologie, erklärt, dass das Innere des Quantencomputers auf minus 273 Grad Celsius heruntergekühlt werden müsse. Diese Umgebungstemperatur ermöglicht den Qubits eine optimale Funktionsweise. Qubits, die Abkürzung von Quantenbits, sind die kleinste Informationseinheit eines Quantencomputers (siehe Box).

Qubits und Schrödingers Katze

Qubits verhalten sich fundamental anders als Bits: Sie können sich gleichzeitig in den Zuständen 0 und 1 befinden oder in Theorie unendlich viele Zustände dazwischen einnehmen. Dies wird auch als Superposition bezeichnet. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist ein Globus, auf dem Bits entweder am Nord- oder am Südpol existieren, während Qubits überall auf dem Globus existieren können. Sobald das Qubit jedoch gemessen wird, fällt es stets entweder in den Zustand 0 oder 1 zurück. Die Wahrscheinlichkeit des Ergebnisses ist abhängig von dem Quantenzustand des Qubits unmittelbar vor der Messung. Andreas Fuhrer verweist auf das Gedankenexperiment von Schrödingers Katze, mit dem der Physiker Schrödinger ergründen wollte, ob das Quantenphänomen auch für alltägliche Objekte relevant ist. Beim Gedankenexperiment befindet sich eine Katze in einer geschlossenen Box und ihr Zustand ist unbestimmt, da in der Box aufgrund eines Superpositionszustands ein Gift ausgetreten sein könnte. Schrödinger fragte sich, ob die Katze demnach gleichzeitig lebendig und tot sein kann – erst beim Öffnen erlangt der Betrachter Gewissheit, ob die Katze tot oder lebendig ist. 

Ihr Zustand könnte dann mit der Superposition eines Qubits verglichen werden. Dieses Gedankenexperiment verdeutlicht, wie paradox und kontraintuitiv die quantenmechanischen Gesetze für den menschlichen Verstand sind, der sich an den uns bekannten Gesetzen der makroskopischen Welt orientiert. Doch gerade diese für uns befremdlichen und widersprüchlichen Gesetze, die Überlagerung von Zuständen und die Verschränkung von Quantenobjekten, wollen führende Forschende weltweit nutzen, um unvergleichlich hohe Rechenleistungen zu erzielen. 

Computer stossen an ihre Grenzen

Die fortschreitende Digitalisierung und die damit einhergehende, rasante Zunahme der verfügbaren Daten (Big Data) bringen klassische Computer zunehmend an ihre Leistungsgrenzen. Die Computer, die wir tagtäglich nutzen und deren Bit als kleinste Einheit lediglich die Zustände 0 oder 1 einnehmen können, basieren auf einer Technologie, die 1947 erfunden und zur Steigerung der Rechenleistung immer weiter miniaturisiert wurde. Auf diese Weise hat sich die Rechenleistung seit Jahrzehnten rund alle zwei Jahre verdoppelt.

Inzwischen ist die physikalische Grenze der Miniaturisierung fast erreicht, weshalb die Quantenmechanik als Hoffnungsträger für weitere Leistungssteigerungen in den Vordergrund rückt.

Angesichts des grossen Potenzials der Quantentechnologie verschärft sich der internationale Wettbewerb zwischen Startups und etablierten Unternehmen. Das Ziel: den Quantenvorteil zu erreichen, das heisst den Moment, in dem ein Quantenrechner ein reales Problem im Vergleich zu einem klassischen Computer schneller, günstiger oder genauer lösen kann.

Die Beurteilung, welches Unternehmen an der Spitze steht, ist ausgesprochen komplex, denn erstens verwenden die Unternehmen unterschiedliche Computerarchitekturen für ihre Quantencomputer und zweitens bewerten sie die Leistung ihrer Quantencomputer mit unterschiedlichen Metriken.

Prototyp bricht die 400-Qubit-Marke

Das amerikanische Technologieunternehmen IBM ist bemüht, an vorderster Front mitzumischen. Laut Heike Riel ist es für IBM zentral, ihre technologischen Ambitionen in der Quantentechnologie mit der wissenschaftlichen Community zu teilen.

Zudem baut Riel im Rahmen des IBM Quantum Network ein Firmennetzwerk auf, dessen Ziel es ist, gemeinsam die Kompetenzen in der Quantentechnologie aufzubauen und sich auf die Ära des Quantencomputers vorzubereiten. Mit dem Qiskit Runtime Program bietet sie, wie viele andere Firmen auch, einen Cloud-basierten Dienst für Quantencomputer an.

Da es unwahrscheinlich ist, dass individuelle oder mobile Quantencomputer in diesem Jahrzehnt eingeführt werden, ist die Cloud ein wichtiger Weg für frühe Nutzerinnen und Nutzer, sich mit der Technologie auseinanderzusetzen, noch bevor sich ein umfassenderes Ökosystem herausbildet.

Ambitiöser Entwicklungsfahrplan von IBM

IBM veröffentlichte 2020 erstmals einen Entwicklungsfahrplan mit konkreten Meilensteinen, der unter anderem ihren Zeitplan bezüglich Quantenprozessoren, Quantenalgorithmen sowie Software-Applikationen offenlegt. Im Jahr 2021 gelang IBM mit der Entwicklung eines Quantenprozessors mit 127 Qubits der grosse Durchbruch, jüngst folgte der nächste Schritt mit dem 433-Qubit-Prozessor Osprey.

Einer der Köpfe hinter dem Schweizer Quantencomputer: Andreas Fuhrer

Einer der Köpfe hinter dem Schweizer Quantencomputer: Andreas Fuhrer.

Quelle: ZVG

Die Geschwindigkeit der Entwicklungen soll laut der Roadmap weitergehen und IBM verspricht, bereits Ende 2025 einen Quantenprozessor mit 4158 Qubits vorzustellen. Wenn man sich nun vor Augen führt, dass sich die Leistung eines Prozessors mit jedem Qubit verdoppelt, wird man sich des exponentiellen Leistungswachstums eines Quantencomputers bewusst.

Die Anzahl der Qubits ist jedoch nicht das einzige Kriterium für die Performance eines Quantenrechners. Denn die Quantenzustände der quantenphysikalischen Pendants der Bits sind sehr fragil und werden von Umgebungsfaktoren stark beeinflusst. Aufgrund dieser Empfindlichkeit der Quantenzustände schleichen sich bei den Berechnungen Fehler ein, weshalb ein Quantencomputer bislang auch noch nicht in der Lage ist, besonders anspruchsvolle Probleme zu lösen. Deshalb arbeiten die Quantenforscher intensiv an der Entwicklung der notwendigen Fehlermitigations- und Fehlerkorrekturverfahren.

Die Frage bleibt jedoch, wann die Menschheit den Meilenstein eines fehlerkorrigierten Quantencomputers erleben wird. Die Meinungen von Expertinnen und Experten gehen weit auseinander – die einen erwarten ihn innerhalb der nächsten fünf, zehn oder gar zwanzig Jahre, andere nie.

Einsatzgebiete des Quantenrechners

Bei IBM ist man, logischerweise, optimistisch: Denn laut Heike Riel ist es sehr wahrscheinlich, dass es den Forschenden bis 2030 gelingen wird, den Quantenvorteil zu zeigen. Sobald dies erreicht ist, sind viele Anwendungsfälle denkbar.

Stefan Woerner, Quantenforscher bei IBM, hat bereits mit verschiedenen Finanzinstitutionen zusammengearbeitet, um Use Cases zu ermitteln und die Rechenleistung der aktuellen Quantencomputer zu testen. «Auch wenn wir bereits einige Anwendungen kennen, bin ich der Meinung, dass sich noch sehr viele weitere entscheidende Anwendungen ergeben werden, insbesondere wenn wir diese Technologie in der Praxis einsetzen können», so der Wissenschafter. Zum jetzigen Zeitpunkt sind die Anwendungsfälle noch weitgehend experimentell und hypothetisch.

Einem Bericht des Beratungsunternehmens McKinsey zufolge werden die ersten lukrativen Anwendungsfälle in vier Branchen erwartet: Pharmazie, Chemie, Automobilindustrie und Finanzwesen. So würden Quantencomputer der Medizin helfen, Krankheitsdiagnosen genauer und besser zu erstellen. Betrugserkennung wird einfacher und da der Quantencomputer parallele Berechnungen durchführen kann, sind besonders hohe Gewinne bei der Optimierung von Lieferketten, Logistik oder Energieversorgungsnetzen zu erwarten.

Schön anzusehen, komplex zum Verstehen – ein Blick ins Innere des Quantencomputers von IBM in Rüschlikon

Schön anzusehen, komplex zu verstehen – ein Blick ins Innere des Quantencomputers von IBM in Rüschlikon.

Quelle: ZVG

Im Finanzwesen winken Gewinne beim Portfolio- und Risikomanagement. So könnten Kreditgeber dank effizienten, quantenoptimierten und auf Sicherheiten ausgerichteten Kreditportfolios ihr Angebot verbessern, möglicherweise die Zinsen senken und Kapital freisetzen.

Obwohl es noch einige Hürden auf dem Weg zu einem marktfähigen Quantencomputer zu überwinden gibt, sind führende Unternehmen ausserhalb der Quantencomputerbranche gut beraten, sich jetzt auf die Einführung des Quantencomputers vorzubereiten. Möglich ist die Kollaboration mit anderen Unternehmen im Rahmen eines Quanten-Netzwerks oder die aktive Prüfung von Anwendungsfällen für die eigene Branche. Strategische Investitionen in die Quantentechnologie sowie die Durchführung einer Risikoanalyse helfen, die bedeutendsten Gefahren zu identifizieren.