Glückwunsch, Herr Osborne: Die britische Wirtschaft wächst wieder, die Reallöhne steigen sogar schneller als vor der Brexit-Abstimmung. Was ist da los?
George Osborne: Die Wirtschaft wäre noch stärker, wenn wir dagegen gestimmt hätten, die EU zu verlassen. Aber die Abwertung des Pfunds hat einen grossen Teil des Schocks absorbiert.
Speziell die Konsumausgaben sind hoch – die Briten wirken optimistischer als zuvor.
Grossbritannien ist immer noch ein sehr guter Ort für Geschäfte. Anderseits warten viele lieber ab, ob der Brexit wirklich stattfindet und wie er aussieht. Selbst drei Jahre nach der Abstimmung wissen wir nicht, wie unser Verhältnis zu unserem wichtigsten Handelspartner sein wird.
George Osborne, 48, ist heute Herausgeber und Chefredaktor des «Evening Standard» in London. Er ist Mitglied der Konservativen Partei, war einst ihr jüngster Abgeordneter und arbeitete in der Regierung von David Cameron als Schatzkanzler von Grossbritannien (2010–2016), wobei er sich nach der Finanzkrise als Sanierer profilierte. Osborne hat einen Abschuss in Geschichte der Oxford University. David Osborne tritt am 3. Dezember am Europa Forum Luzern auf.
Was halten Sie von der Idee eines «Singapur in der Nordsee»? Eines Staats, der sich durchsetzt mit einer sehr freien Wirtschaft, tiefen Steuern, effizienten Behörden und vielen Freihandelsverträgen.
Als ich Schatzkanzler war, setzten wir alles daran, Grossbritannien wettbewerbsfähiger zu machen. Wir holten viele Investitionen ins Land, wir machten London zum Tech-Hub Europas – man kann all dies innerhalb der EU tun. Und es hilft nichts, wenn man es ausserhalb der EU versucht. Den Menschen, die für den Brexit stimmten, ging es auch nicht um tiefere Steuern und weniger Regulierung. Sie wollten kein zweites Singapur, sie wollten das Land vor der Globalisierung schützen. Sie stimmten für mehr Staat. Darum wird nun vor allem darüber debattiert, welche neuen Normen oder welche Staatshilfen für kranke Branchen wir einführen könnten.
Beispiel Kunsthandel: Hier herrscht Zuversicht. Hier hört man: Wenn England die EU verlässt, wird der Standort London sogar an Bedeutung gewinnen.
Es stimmt, viele Märkte sind kaum betroffen durch die EU, und Kunst ist das Beispiel einer sehr globalen Branche. Überhaupt profitiert Britannien davon, dass manche europäische Staaten nicht so wettbewerbsfähig sind: Ihr Arbeitsmarkt ist weniger flexibel, ihr Investitionsumfeld ist nicht so stark. Aber das war schon so, bevor wir in die EU eintraten. Und wenn wir sie verlassen, wird es nicht einfacher. Es wird schwieriger.
Als Schweizer kann man beruhigen: Es geht. Es geht sogar sehr gut.
Gerade der Schweizer Fall zeigt es schön: Das Verhältnis zur EU ist nicht gelöst, indem man nicht dabei ist. Es bleibt ein Dauerthema: Wie sehr muss man den Vorgaben der EU folgen? Wie frei ist man bei der Kontrolle der Grenzen, bei der Immigration? Die Schweiz befindet sich oft in einer Lage, in der die EU am längeren Hebel ist und drohen kann, die ganze Beziehung auszusetzen. Wenn jemand weiss, dass man den Brexit nicht einfach durchziehen kann und dann ist Schluss, dann die Schweizer. Denn sie wissen: Ist man draussen, so hat man einfach eine endlose Debatte darüber, wie das Verhältnis sein soll.
«Man kann nicht einfach einen Brexit durchziehen und dann ist Schluss. Das wissen die Schweizer am besten.»
Sie waren stets gegen den Brexit, aber Sie waren in der Regierung, welche die Abstimmung über die EU beschloss. Unterschätzten Sie die Kraft des Populismus?
Ich wollte nie das Referendum und nachdem wir es beschlossen hatten, fuhren wir keine sehr gute Kampagne. Unsere Botschaft sprach den Kopf an. Sie drehte sich darum, ob man ausserhalb der EU reicher oder ärmer sein werde; oder wie sich das Ganze auf die Sicherheit in Europa auswirken wird. Die Brexiteers brachten dagegen emotionale Argumente vor, die mit der EU-Mitgliedschaft nicht wirklich zu tun hatten: Holen wir die Kontrolle über unser Leben zurück! Bessere Dienste in den Gemeinden! Weniger Einwanderung!
Es war auch viel Nostalgie dabei.
Man schuf eine emotionale Bindung. Und wir standen am falschen Ende.
Unterschätzen etablierte Politiker die emotionalen Bedürfnisse, die vom Populismus angesprochen werden?
Alle gewählten Politiker wollen populär sein. Regierungen, die nicht populär sind, werden nicht wiedergewählt. Es gibt also einen Unterschied zwischen populär sein und dem Populismus, der bedeutet: Man gibt ganz einfache Antworten auf schwierige Fragen – so einfach, dass es im Grunde Lügen sind. Oft gehört dazu, dass eine Gruppe beschuldigt wird – Einwanderer, Milliardäre, die Elite, die Richter… Und statt positiver Fälle suchen Populisten lieber negative Beispiele. Die Mitte braucht hier bessere Antworten. Sie sollte auch weniger eine Verteidigungshaltung einnehmen und mehr Vertrauen in die Institutionen des Landes zeigen.
Sie waren ein Politiker der Mitte und sind jetzt im Zeitungsgeschäft. Wo sehen Sie mehr Zukunft?
Unser «Evening Standard» verkauft fast eine Million Exemplare pro Tag und ich versuche, ihn als Stimme der Mitte zu platzieren. Hier sehe ich ein Vakuum: Wir sind für die Wirtschaft, aber auch gesellschaftsliberal, wir sind Internationalisten. Millionen von Menschen möchten solch eine Stimme hören. Und sie hören sie nicht unbedingt aus der Politik.
Soeben war Christine Lagarde in Berlin: In ihrer ersten Rede als EZB-Präsidentin forderte sie die Staaten auf, mehr Souveränität an Brüssel abzugeben. Was empfindet ein Engländer, wenn er so etwas hört?
Ich war immer dafür, dass Grossbritannien in der EU ist, aber ich wollte nie den Euro. Ich fand, wir hatten das Beste von beiden Welten: die wirtschaftlichen Vorteile der EU sowie den Vorteil, mit Europa eine starke Stimme in der Welt zu bilden – aber ohne den Souveränitätsverlust, den wir als Euro-Land gehabt hätten. Für die Euro-Länder ist die Logik von Christine Lagarde richtig: Wenn man eine Währungsunion hat, muss auch eine Budget-Union folgen, eine Finanzmarkt-Union und letztlich auch eine politische Union. Der Euro wird zu einer stärkeren Integration der EU antreiben, ob man es will oder nicht. Das geht manchmal langsamer, und in Zeiten der Krise geht es schneller. Wie wir es in der Euro-Krise vor zehn Jahren gesehen haben.
Bezeichnet denn der ehemalige Schatzkanzler von Grossbritannien die Konstruktion des Euro als Fehler?
Nein, ich sage nicht, dass es ein Fehler ist. Ich sage nur, dass es Konsequenzen hat. Wenn Sie den Euro wollen, bewegen Sie sich hin zu einer politischen Union. Letztlich sitzen die Entscheide über Budgets und Staatsausgaben im Herz der demokratischen Politik: Wer bezahlt wie viel, wer bezahlt was? Diese Entscheide gelangen jetzt auf die Ebene der Euro-Zone. Man sah es in der Finanzkrise: Da standen letzten Endes die deutschen Steuerzahler hinter den spanischen Banken. Die Deutschen mochten das nicht, obwohl sie viele Vorteile daraus ziehen…
…zum Beispiel profitiert ihre Industrie von einer eher günstigen Währung.
Genau, es ist ein recht vorteilhafter Wechselkurs für sie. Und Deutschland profitiert auch von der Sicherheit, welche die Union und die Euro-Zone schaffen. Der Preis wiederum besteht darin, dass die deutschen Steuerzahler mehr und mehr zur Sicherung der Euro-Zone beitragen müssen.
«In meiner ganzen Zeit als Schatzkanzler von Grossbritannien kam es niemals vor, dass ich etwas tun wollte und dabei von der EU gestoppt wurde.»
Grundsätzlich verlagert die EU stetig Macht von unten nach oben – weg von Bürgern, Gemeinden, Staaten. Das schadet doch der Effizienz.
Ich war sechs Jahre lang Schatzkanzler von Grossbritannien. In der ganzen Zeit kam es niemals vor, dass ich etwas tun wollte und dabei von der EU gestoppt wurde. Es ist auch ein Mythos, dass die EU ein Land davon abhält, konkurrenzfähig zu sein. Nehmen Sie die Niederlande: Das ist eines der dynamischsten Länder der Welt. Alle Staaten Europas haben doch eine Beziehung zueinander. Die Schweiz und Norwegen sind im gemeinsamen Markt, die Türkei ist in der Zollunion, England mag bald ausserhalb der EU sein. Aber es geht stets um dasselbe: Man muss eine Balance finden zwischen Souveränität und den Stärken durch die Gemeinsamkeit.
Braucht es also einfach eine möglichst pragmatische, nutzenorientierte Haltung zur EU?
Es gibt vieles, was einen an der EU frustriert, aber es gibt auch vieles, was einen an der britischen Regierung frustrieren muss. Politiker beschuldigen gern Brüssel für ihre eigenen Probleme. Es ist schon interessant: Jetzt, nach dem Referendum, hört man nichts von all den guten Ideen, was wir ausserhalb der EU alles vollbringen könnten. Am besten war noch die Idee eines Freihandelsabkommen mit den USA. Aber sobald man in die Materie geht, fängt es an: Müssen wir dann amerikanische Landwirtschaftsprodukte reinlassen? Oh nein! Dürfen dann amerikanische Firmen in unser Gesundheitssystem? Oh nein! Am Ende bleibt auch da nicht viel übrig.
Kennen wir in der Schweiz.
Es geht immer um die konkreten Details. Selbst bei der Einwanderung ist es so: Die Immigration ist immer noch sehr hoch; die Regierung will, dass mehr junge Leute ins Land kommen, weshalb sie die Visa-Anforderungen für Studenten erleichtert hat. In der Theorie ruft man also nach Kontrolle der eigenen Grenzen – in der Praxis benötigen wir hier in London und andernorts viele gut ausgebildete Einwanderer, um unsere Wirtschaft zu beleben.
«Polen ist in der EU, die Ukraine ist nicht in der EU: Welches Land ist gegenüber Russland viel verletzlicher?»
Es gab ja die Vorstellung, dass ein Brexit die Auflösung der EU befördern könnte. Das ist überhaupt nicht geschehen. Warum nicht?
Die Erfahrung von Grossbritannien war den anderen Ländern eine Warnung. Die Auflösung des Vereinigten Königreichs ist nun die grössere Gefahr.
Um ihre Stärken auszuspielen, benötigte die EU vor allem eine gemeinsame Aussenpolitik, doch gerade das scheitert. Jetzt muss sie wieder hilflos zusehen, wie die Türkei in Nordsyrien einmarschiert.
Die Welt entwickelt sich in grosse Machtblöcke: China, die USA, Indien. Wir in Europa müssen für uns, für unsere Werte und unsere Lebensart kämpfen. Das muss nicht innerhalb der EU sein, ich sage nicht, dass die Schweiz beitreten sollte. Aber der EU verdanken wir drei Leistungen. Erstens hat sie den Frieden in Westeuropa bewahrt und Diktaturen ausgeschaltet; Spanien, Portugal und Griechenland waren noch zu meinen Lebzeiten Rechtsdiktaturen.
Den Frieden in Europa garantierten doch zuallererst die Amerikaner.
Polen ist in der EU, die Ukraine ist nicht in der EU: Welches Land ist gegenüber Russland viel verletzlicher? Die EU schafft offenbar auch Sicherheit. Und jetzt, wo sich die USA eher zurückziehen, wird diese Rolle umso wichtiger.
Die zweite Leistung der EU?
Sie schuf einen einheitlichen Markt, der ähnlich gross ist wie die USA, wenn nicht grösser. Und drittens machte die EU unsere Stimme auf der Welt hörbarer. Ein Beispiel wäre die Regulierung der grossen Tech-Konzerne. Wenn die Schweiz neue Regeln für Facebook oder Google wollte, würde sich niemand in Kalifornien darum scheren. Wenn die EU kommt, müssen sie reagieren. Dasselbe beim Klimawandel: Weder ein Schweizer noch ein britischer Minister würde in dieser Frage beachtet – aber gemeinsam in Europa haben sie Gewicht.
Muss der Premierminister, der am 12. Dezember gewählt wird, Grossbritannien aus der EU führen?
Nein, muss er nicht. Das sollen die Wähler entscheiden. Wenn sie ein weiteres Referendum wollen, soll es ein weiteres Referendum geben.
Ihr Partei- und Ministerkollege William Hague hat unlängst gesagt: Findet der Brexit jetzt nicht statt, so könnte dies eine ernste Krise der Demokratie in England auslösen – schlimmer als alles zuvor.
Ich kenne William gut, aber ich würde ihm hier sagen: Wir haben doch jetzt schon eine rechte Krise. Ich glaube nicht, dass es die Lage verschärfen würde, wenn man das Volk nochmals befragt. Man muss sich letztlich der Wahrheit stellen: Wenn wir die EU verlassen, werden wir nicht mehr ganz so reich sein. Wir werden keine bedeutsame Stimme mehr sein. Wenn uns dessen bewusst sind und auf dieser Basis eine ehrliche Wahl treffen – prima. Die Brexit-Politiker verkünden aber, wir würden ausserhalb der EU reicher. Derzeit sind wir nicht ehrlich zu uns. Deshalb waren wir seit dreieinhalb Jahren nicht fähig, das Problem zu lösen.