Fallen die Schweizer Interessen in Brüssel mit dem pendenten bilateralen Rahmenabkommen tatsächlich zwischen Stuhl und Bank, wie das eine grosse Zürcher Tageszeitung schrieb? Für die Teilnahme an den EU-Forschungs- und Bildungsprogrammen jedenfalls scheint dies zuzutreffen. Das zeigt ein Blick auf den Status der Schweiz bezüglich des 9. Rahmenprogramms für Forschung "Horizon Europe", des Förderprogramms "Erasmus+" sowie des Freiwilligenprogramms "European Solidarity Corps". Alle drei Programme werden für das Zeitfenster 2021 bis 2027 derzeit neu aufgesetzt.
Bereits Ende März hatten sich die EU-Institutionen wie das Parlament und der Ministerrat über den Rechtsrahmen zu "Horizon Europe für Forschung und Innovation" geeinigt. Das Programm wird voraussichtlich über ein Rekordbudget von 94 Milliarden Euro verfügen. Im Vorgängerprogramm waren Schweizer Forscher und ihre Institutionen seit 2017 voll assoziiertes, sprich gleichwertiges Mitglied. Die Mitgliedschaft im neuen, für den Wirtschafts- und Innovationsstandort Schweiz eminent wichtigen Programm muss indes vollständig neu verhandelt werden.
"Die Situation ist nach wie vor offen. Eine Teilnahme als Drittstaat wird wohl möglich sein. Die Teilnahmebedingungen werden sich in den nächsten Monaten klären", sagt Rudolf Minsch, stellvertretender Vorsitzender der Geschäftsleitung von Economiesuisse zum aktuellen Stand der Dinge. Pikant ist: Sollte die Schweiz tatsächlich nur als Drittland beim weltweit grössten Forschungsprogramm mitwirken können, wäre das eine eklatante Benachteiligung gegenüber den vollassoziierten EWR-Länder Norwegen, Island und Liechtenstein sowie sogar Israel.
Wie wichtig aber wäre für die Schweizer Wirtschaft die volle Teilnahme an Horizon Europe? "Das grösste Interesse der Schweizer Wirtschaft ist, dass die hiesigen Hochschulen kompetitiv bleiben. Dazu gehört eine gute internationale Vernetzung in der Forschung. Horizon 2020 und das Nachfolgeprogramm sind wichtig, um diese Vernetzung sicher zu stellen", antwortet Minsch. Forschung sei auf Netzwerke angewiesen. Diese wiederum förderten die Wettbewerbsfähigkeit der Hochschulen. Für die Innovationsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft sei die Qualität der Schweizer Hochschulen deshalb insgesamt sehr wichtig, fasst der Verbands-Vize zusammen.
"Die Schweiz erwartet weiterhin die Teilnahme an Horizon Europe und setzt sich dafür ein", hiess es beim Staatssekretariat für Wirtschaft, Bildung und Forschung (SBFI) noch vor der Sommerpause. Die Teilnahme an Horizon stelle kein Marktzugangsdossier dar und sei deshalb losgelöst vom institutionellen Rahmenabkommen zu betrachten. Ob das Brüssel auch so sieht, ist bisher nicht bekannt. Sicher ist, dass neben dem blockierten bilateralen Rahmenabkommen auch der Brexit die volle Schweizer Teilnahme bisher erschwert. "In den aktuellen Verhandlungen um die Neugestaltung des Programms wollte die EU wohl verhindern, dass Grossbritannien in Sachen Forschung trotz des Brexits weiterhin wie ein EU-Mitglied behandelt wird. Dies hat sich auch auf die Schweiz ausgewirkt", heisst es in einem Blog-Beitrag von Economiesuisse. Sinnigerweise liegen die besten Hochschulen in Europa bisher in Grossbritannien und der Schweiz. "Wenn die EU aus politischen Gründen protektionistisch reagieren und den Zugang zu Horizon Europe für die Schweiz und Grossbritannien unattraktiv machen würde, wäre dies auch eine schmerzliche Schwächung für das Programm selber", stellt Minsch nüchtern fest. Daran aber könne eigentlich niemand ein Interesse haben.
Im Hinblick auf eine mögliche Assoziierung an das Programm Erasmus+ habe der Bund technische Gespräche mit der EU-Kommission in Brüssel aufgenommen, heisst es in einer Mitteilung des SBFI. In der Programmperiode 2014 bis 2020 hatte die Schweiz bisher den Status eines einfachen Drittstaates. Das Programm fördert die grenzüberschreitende Mobilität und Kooperation in Sachen Bildung, Jugend und Sport. Obwohl Schweizer Studierende nicht gerade für eine ausserordentliche Mobilität bekannt sind, fordert der Verband der Schweizer Studierendenschaften (VSS) eine Vollassoziierung. 2017 investierte die EU übrigens den Rekordbetrag von 2,8 Milliarden Euro in das Programm. Seit 2014 haben daran immerhin über 3,7 Millionen Menschen teilgenommen. Für die nächste Budgetperiode 2021 bis 2027 schlägt die EU-Kommission übrigens eine stärkere Konzentration auf den Bereich Jugend und Ausgaben von insgesamt 30 Milliarden Euro vor. Das ist eine Verdoppelung der bisherigen Ausgaben. (jjs)