Gleich zu Beginn legt er drei Bücher auf den Tisch: «Penser l'Europe» von Edgar Morin, «Faire l'Europe dans un monde de brutales» von Enrico Letta und «Génération Erasmus. Ils sont déjà au pouvoir» von Sandro Gozi. Damit ist alles gesagt: Bastien Nançoz, der 31-jährige Historiker aus dem Wallis, ist ein überzeugter Europäer. Er ist sogar einer der letzten, der es wagt, es offen auszusprechen: «Die Schweiz sollte der EU beitreten!» In allen drei Büchern geht es um eine Geschichte, von der Schweizer Schüler nie etwas hören. Nançoz weist auf einen wunden Punkt hin: «In der Mittelschule wurde uns nie etwas über den Aufbau Europas erzählt. Wir haben in der Schweiz ein Problem mit dem Geschichtsunterricht.»

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Zwei Preise

Erst an der Universität Freiburg lernte Nançoz Gilbert Casasus kennen, den Leiter des Masters in Europastudien. Anlässlich des 100. Geburtstags von François Mitterrand leitete Casasus ein Seminar über die Beziehungen zwischen dem französischen Präsidenten und der Schweiz, die dieser während seiner beiden Amtszeiten acht Mal besucht hat. Bastien Nançoz beschloss, seine Diplomarbeit diesem Thema zu widmen. In Bern, Paris und Nantes tauchte er in die Archive ein und traf die beiden ehemaligen Bundesräte Pascal Couchepin und Adolf Ogi. Seine Arbeit ist von bemerkenswerter Qualität und wurde mit zwei Preisen ausgezeichnet, darunter der Preis des Instituts François Mitterrand, den er am 10. Mai in Paris entgegennehmen durfte. Die Früchte seiner Forschung sind im Oktober 2021 im Genfer Verlag Editions Slatkine erschienen.

Portrait de Bastien Nançoz, politologue. Fribourg, avril 2022.
Quelle: Stéphanie Borcard und Nicolas Métraux für «Le Temps»
Bastien Nançoz: Der europhile Historiker

1991 Geboren in Sitten

2011 Preis für griechische Geisteswissenschaften am Collège de l'Abbaye de Saint-Maurice

2018 Master in Europastudien

2020 Verleihung des Jean-Baptiste-Duroselle-Preises für die beste Masterarbeit in Geschichte der internationalen Beziehungen

2021 Veröffentlichung des Buches «François Mitterrand et la Suisse: une amitié européenne» (François Mitterrand und die Schweiz: eine europäische Freundschaft)

2022 Verleihung Preis des Instituts François Mitterrand für seine Masterarbeit

2022 Wahl zum Impulsgeber 2022 vom Europa Forum

François Mitterrand liebte die Schweiz so sehr, dass er sie einmal als ein «Kunstwerk in seiner Fähigkeit, die Identität eines jeden zu bewahren, ohne der nationalen Identität zu schaden» bezeichnete. Doch diese Bewunderung hielt die Schweiz nicht davon ab, ihre Termine in der Geschichte zu verpassen, sei es am 6. Dezember 1992, als das Volk den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ablehnte, oder am 26. Mai 2021, als der Bundesrat beschloss, das Projekt eines Rahmenabkommens mit der EU aufzugeben.

Bastien Nançoz geht noch weiter in die Vergangenheit zurück, um diese verpassten Gelegenheiten zu erklären: Im Januar 1963 unterzeichneten Frankreich und Deutschland den Elysée-Vertrag, der den Beginn eines Europas markierte, das sich auf das deutsch-französische Bündnis ausrichtete. «Die Schweiz, die die Bedeutung dieses Vertrags für den Aufbau Europas falsch interpretierte, offenbarte damals ihren sehr angelsächsischen Ansatz für Europa, der sich im Wesentlichen auf seinen Binnenmarkt konzentrierte», bedauert der Historiker.

Vom Mauerfall zu Erasmus

Der italienischer Politiker Sandro Gozi, der 2019 auf der Liste der französischen liberalen Partei «La République en Marche!» zum Mitglied des Europäischen Parlaments gewählt wurde, ist ein Vertreter der ersten «Erasmus-Generation», die den Fall des Eisernen Vorhangs live miterlebt und von diesem damals ganz neuen Programm für Auslandsstudien profitiert hat. Bastien Nançoz seinerseits unterbrach sein Geschichtsstudium mit einem einjährigen Aufenthalt in Berlin, um die europäische Soziologie zu studieren. Das war im Jahr 2015, als Europa aufgrund der Finanzkrise, der Herausforderung der Migration und dem Aufstieg des Populismus nicht mehr zum Träumen einlud.

«Wir müssen dringend von den nationalen Geschichtserzählungen wegkommen, welche die Amnesie fördern und historische Analphabeten hervorbringen.»

Bastien Nançoz

Auch wenn es vom Schriftsteller Robert Menasse in seinem Buch «La Capitale» brillant parodiert wurde, ist das technokratische und neoliberale Europa, das von Mario Draghi, Gerhard Schröder oder Tony Blair geprägt wurde, nicht Bastien Nançoz’ Ding. Mit François Mitterrand im Hinterkopf, der warnte, dass «Nationalismus Krieg bedeutet», wünscht sich der Walliser sehnlichst, dass das Europa der Nationen ein gemeinsames Narrativ schafft. «Wir müssen dringend von den nationalen Geschichtserzählungen wegkommen, welche die Amnesie fördern und historische Analphabeten hervorbringen», betont er.

«Die EU darf nicht mehr als ein Projekt gesehen werden, das von Eliten für Eliten realisiert wird», fügt er hinzu. Nançoz träumt also von einem reformfähigen Europa, das «demokratischer und egalitärer» wird. Er hätte sich gerne vorgestellt, dass die EU-Verfassung Gegenstand eines Volksreferendum wäre, was ihr mehr Legitimität verliehen hätte. Dies jedoch in allen Mitgliedsländern, um die länderspezifische Ratifizierung zu vermeiden, die sich oft zu einer Sanktionsabstimmung gegen die amtierende Regierung entwickelt. Bei den Europawahlen befürwortet er auch transnationale Listen, wiederum um der Falle zu entgehen, dass sie von der nationalen Politik als Geisel genommen werden.

Bilaterale Abkommen im Sterben

Was ist mit der Schweiz? Bastien Nançoz bedauert sehr, dass der Bundesrat das Rahmenabkommen nicht dem Volk vorgelegt hat. «In der Schweiz pflegen wir eine Art Schizophrenie. Kulturell und wirtschaftlich sind wir Europäer, aber unsere politische Integration in die EU ist ein Tabu.» Für ihn besteht kein Zweifel daran, dass der bilaterale Weg, den die EU nicht mehr will, zu einem langsamen Tod verurteilt ist. Zwar hat der Ausbruch des Krieges in der Ukraine, der zur rechten Zeit daran erinnert, dass der Frieden auf dem Kontinent nie sicher ist, der Schweiz ermöglicht, sich bei den Sanktionen gegen Russland und bei der Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge solidarisch zu zeigen. Doch die Beziehung zwischen Bern und Brüssel ist für lange Zeit getrübt. «Mit der Pandemie und dann dem Krieg hat die EU Wichtigeres zu tun, als sich um ihre Beziehung zur Schweiz zu kümmern.»

Millennials im Brennpunkt

«Let Europe arise. Die nächste Generation übernimmt in herausfordernden Zeiten. Welches Europa wollen die Millennials jetzt?» lautet das diesjährige Hauptthema der Gesprächs- und Ideenplattform Europa Forum. Als Höhepunkt der Jahresaktivitäten findet am 23. und 24. November 2022 das Annual Meeting im KKL Luzern statt.

Zu den namhaften Speakerinnen und Speakern zählen Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Deutschlands früherer Aussenminister Sigmar Gabriel, Bundespräsident a.D. Christian Wulff, Historiker und Publizist Timothy Garton Ash, Schriftstellerin Nora Bossong, Chefin Sicherheitspolitik des VBS Pälvi Pulli, Alena Buyx und Franca Lehfeldt. Sichern Sie sich jetzt Ihr  Ticket.