Für die Zukunft Europas gibt es nur wenige Fragen, die wichtiger sind als diese: «Was wünschen sich die jungen Europäerinnen und Europäer von der Europäischen Union?» Genau dieser Frage ist Timothy Garton Ash, Professor für Europastudien an der Universität Oxford, gemeinsam mit einer Gruppe von Postgraduierten aus ganz Europa nachgegangen. Ihre Studie mit dem Titel «Young Europeans speak to EU: The state of youth opinion on Europe» untersucht die gegenwärtige Einstellung junger Menschen zu Europa und klärt, welche Erwartungen und Wünsche junge Europäer an die EU und den europäischen Integrationsprozess im Allgemeinen haben. Im Fokus stehen Themen wie Reisefreiheit, Klimawandel, Demokratie und die Rolle Europas in der Welt.

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Reisefreiheit als Haupt-Benefit der EU

Junge Europäerinnen und Europäer sind in einem ganz anderen Europa aufgewachsen als ihre Eltern. Der Fall der Berliner Mauer etwa markierte für die Generation der Babyboomer und die Generation X den Beginn einer neuen Freiheit. Durch diese kollektive Erfahrung fühlen sie sich in Europa vereint. Die Generation Y – auch Millennials genannt – war 1989 zum Teil zwar schon geboren, doch war das Ereignis für sie weniger einschneidend. Die Millennials werden vielmehr durch Freizügigkeit und individuelles Reisen geprägt und finden Gemeinsamkeiten in persönlichen Erfahrungen, die sie während ihrer Reisen und Erasmus-Austauschen in Europa gesammelt haben.

Angesichts dieser Tatsache ist es nicht überraschend, dass die jungen Befragten Freizügigkeit und freies Reisen als unverzichtbare Aspekte der EU ansehen. 

Auch die Möglichkeiten, im Ausland zu leben, zu arbeiten und zu studieren, werden von jungen Europäerinnen und Europäern mehr geschätzt als von den älteren Generationen. Derselben Umfrage zufolge stehen jüngere Europäer auch der Einwanderung von Menschen aus anderen EU-Mitgliedstaaten in ihr Heimatland eher positiv gegenüber als ältere Generationen.

Dem Klima zuliebe

Die Ergebnisse der Befragung bestätigen einerseits die Unterstützung der Freizügigkeit, anderseits die Besorgnis über den Klimawandel. Diese beiden Schwerpunkte sind in gewisser Weise widersprüchlich, da die derzeitigen Wege zur Erreichung der Freizügigkeit oft mit erheblichen Kosten für das Klima verbunden sind.

Die Besorgnis über den Klimawandel ist in allen Altersgruppen ähnlich gross. Ausserdem sind sämtliche Befragten der Studie davon überzeugt, dass der Einzelne die Hauptverantwortung für den Klimaschutz trägt. Eine grössere Kluft besteht hinsichtlich der Art der Massnahmen, die zur Bekämpfung der globalen Erwärmung ergriffen werden sollten. So sind junge Europäerinnen und Europäer eher bereit, persönliche Einschränkungen in Kauf zu nehmen, um den Klimawandel zu bekämpfen, als ältere Generationen. Junge Europäer befürworten zudem eher starke Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels, wie z. B. die Einschränkung der Autonutzung, weniger zu fliegen oder die Reduktion ihres Fleischkonsums.

Soziales Europa

Mehrere in der Studie zusammengefasste Umfragen aus den letzten fünf Jahren zeigen, dass sich die jungen Europäer nicht nur mit Klimaschutz, sondern auch mit sozialen und beschäftigungspolitischen Fragen befassen. Sie wünschen sich zunehmend, dass die EU soziale Fragen in Zusammenarbeit mit den nationalen Regierungen in Angriff nimmt.

Da Beschäftigung und soziale Fragen bei den jungen Europäern ganz oben auf der Liste der Sorgen stehen, ist es nicht überraschend, dass sie diese auch als Politikbereiche bezeichnen, die für die EU von entscheidender Bedeutung sind. Der Eurobarometer-Bericht 2019 über die Ansichten junger Menschen hebt hervor, dass die Bekämpfung von Ungleichheiten und das Schaffen von Arbeitsplätzen zu den fünf wichtigsten Prioritäten der jungen Europäer für die EU gehören. Sie werden von 56 beziehungsweise 49 Prozent der Befragten genannt, weit vor Sicherheit und Verteidigung (28 Prozent), und rangieren an dritter Stelle, hinter Klima- und Umweltschutz (67 Prozent) und der Verbesserung des Bildungswesens (56 Prozent).

Die Pandemie könnte die Bedeutung von Beschäftigung und sozialen Angelegenheiten für alle jungen Menschen weiter erhöht haben. So sind die Jungen stärker um Löhne, vergleichbare Lebensstandards, Bildung und Berufsausbildung besorgt als ältere Bevölkerungsgruppen. Es bleibt gemäss Studienautoren abzuwarten, ob es sich bei diesem Trend um einen blossen Periodeneffekt handelt oder ob er nach dem Ende der Pandemie anhalten könnte.

Die Studie

Für die Studie «Young Europeans speak to EU: The state of youth opinion on Europe» kamen eine Vielzahl von Methoden zur Anwendung: Es wurden rund 200 Interviews geführt mit einem breiten Spektrum von Europäerinnen und Europäern. Dieselben Fragen stellte das Autorenteam führenden Wissenschaftern, Politikern, Journalisten und Künstlern. Ergänzt wurden die Interviews mit Meinungsumfragen in den 27 Mitgliedstaaten der EU und in Grossbritannien. Hier gehts zur Studie.

Eine weitere Dimension des Sozialen Europas ist die europäische soziale Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Junge Menschen (84 Prozent) stimmen häufiger als alle anderen Altersgruppen (79 Prozent) zu, dass die EU-Mitgliedstaaten einem anderen Mitgliedstaat helfen sollten, einen Mindestlebensstandard für seine Bevölkerung zu gewährleisten. Auf die Frage, wie sie ein mögliches Budget der Euro-Zone verwenden würden, gaben Millennials aller Bildungsstufen der Unterstützung wirtschaftlich schwächerer Länder (über 40 Prozent) und der Arbeitslosen (über 30 Prozent) den Vorrang.

Insgesamt deuten die Studienergebnisse darauf hin, dass sich die jungen Europäer in hohem Masse für soziale Gleichheit einsetzen. Bei Umfragen zu verschiedenen Politikbereichen stufen sie soziale Fragen regelmässig als vorrangig ein. Darüber hinaus unterstützt ein signifikanter Anteil der jungen Europäerinnen und Europäer (im Vergleich zu den älteren Jahrgängen) spezifische europäische sozialpolitische Massnahmen. So befürworten viele junge Europäer höhere Steuersätze für wohlhabendere Mitgliedstaaten – selbst wenn dies für ihre eigenen Länder gilt.

Junge Europäer zeigen auch einen gewissen Optimismus in Bezug auf die Zukunft der europäischen Sozialpolitik. So sind sie eher (72 Prozent) als der Durchschnitt (62 Prozent) der Meinung, dass es bis 2030 ein sozialeres Europa geben wird und dass Fragen der sozialen Rechte eine wichtige Rolle beim Aufbau einer stärkeren EU spielen werden.

Demokratie unter der Lupe

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind das Herzstück der Europäischen Union. Junge Europäerinnen und Europäer schätzen die EU gerade deshalb, weil sie diese Werte innerhalb und ausserhalb ihrer Grenzen vertritt. Es scheint jedoch, dass die jungen Europäer etwas desillusioniert sind, was die Fähigkeit und Glaubwürdigkeit der EU angeht, ihre Gründungswerte aufrechtzuerhalten. Auf die Frage, was die EU für sie persönlich symbolisiert, wählten junge Europäer in den frühen 2010er Jahren «Demokratie». Dieser Trend hat sich jedoch seit der zweiten Jahreshälfte 2018 umgekehrt. Dennoch war der Prozentsatz der jungen Europäer, die die EU mit Demokratie assoziieren, in den letzten zehn Jahren durchweg der höchste aller Altersgruppen.

Hausaufgaben für die EU

Die Studie fasst die wichtigsten Handlungsempfehlungen für die EU hinsichtlich der jungen Generation zusammen:

Was sollte die EU tun? Versprechen kompetent und zeitnah einhalten. Die Einführung des Covid-19-Impfstoffs hat die Inkompetenz der EU-Institutionen offenbart – und zwar in zweifacher Hinsicht: ihre begrenzte Reichweite in einem vielschichtigen System und ihre unzureichende Leistung. Aus dieser Episode lässt sich eine umfassendere Lehre ziehen: Die europäischen Institutionen müssen in erster Linie die Leistung in den Vordergrund stellen, gemessen an greifbaren Ergebnissen.

Was sollte die EU sein? In drei Bereichen der Interaktion sind sich viele junge Europäerinnen und Europäer einig: eine Gesellschaft, die auf Freizügigkeit basiert, ein soziales und ökologisches Europa und eine Wertegemeinschaft in einer sich verändernden Welt. Die jungen Europäer gehen von der Existenz der EU aus und befürworten generell eine weitere Integration. Viele sehen die europäischen Institutionen aber auch als Ausgangspunkt und nicht als Endpunkt und möchten sie auf grössere globale Ziele ausrichten – seien es soziale, ökologische, politische oder andere. Die Aufgabe wird darin bestehen, in diesen Bereichen Fortschritte zu erzielen und gleichzeitig die Vielfalt und die Meinungsverschiedenheiten in der europäischen Öffentlichkeit zu berücksichtigen.

Wie sollte die EU sprechen und zuhören? Effektivere Kommunikationsgewohnheiten entwickeln. Wenn die EU überleben und gedeihen soll, muss sie anfangen, klar und überzeugend zu kommunizieren. In ähnlicher Weise muss die EU neue Gewohnheiten des Zuhörens kultivieren. Sie sollte nicht mit einem idealen Ziel der perfekten europäischen Einheit beginnen, sondern mit einem klareren Verständnis dafür, wo die Europäer in Bezug auf Europa tatsächlich stehen und was sie sich von der EU wünschen.

Millennials im Brennpunkt

«Let Europe arise. Die nächste Generation übernimmt in herausfordernden Zeiten. Welches Europa wollen die Millennials jetzt?» lautet das diesjährige Hauptthema der Gesprächs- und Ideenplattform Europa Forum. Als Höhepunkt der Jahresaktivitäten findet am 23. und 24. November 2022 das Annual Meeting im KKL Luzern statt.

Zu den namhaften Speakerinnen und Speakern zählen Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Deutschlands früherer Aussenminister Sigmar Gabriel, Bundespräsident a.D. Christian Wulff, Historiker und Publizist Timothy Garton Ash, Schriftstellerin Nora Bossong, Chefin Sicherheitspolitik des VBS Pälvi Pulli, Alena Buyx und Franca Lehfeldt. Sichern Sie sich jetzt Ihr  Ticket.