Aufbruch statt Abbruch. Für Doris Leuthard ist das Motto des diesjährigen Europaforums genau passend. «Die EU hat derzeit viele Baustellen», sagt sie. Es gäbe viele Fragen, zu denen in den vergangenen Jahren keine Lösung gefunden worden sei. Dazu zählt sie den Brexit, die Erosion der klassischen Parteien, die Währungsunion, die Migrationsfrage oder Länder wie Italien, die sie als «tickende Zeitbombe» bezeichnet. In manchen Ländern Osteuropas stehe gar die Demokratie unter Druck. Und auch die Digitalisierung stelle die EU vor grosse Herausforderungen. «Auf die neue EU-Kommissionspräsidentin warten gewaltige Aufgaben», so Leuthard.
Hinzu komme, dass die EU ihre Stellung in der Weltengemeinschaft verlieren. Amerika und China besetze die Themen, dort sei auch das Wirtschaftswachstum am grössten. «Europa muss sich positionieren, wenn es nicht untergehen will.» Die globalen Verhältnisse würden sich verschieben. Es gäbe nicht mehr nur Industrie- und Entwicklungsländer. Am Beispiel der Automobilindustrie sehe man dies deutlich: Heute liege der Marktanteil der deutschen Marken noch bei 5,4 Prozent, während die chinesischen bereits bei 30 Prozent angelangt seien. Zudem befänden sich 50 Prozent der weltweiten Ladestationen für E-Autos in China. Das Land liege technologisch vorne. Die EU müsse aufholen, wenn sie weiterhin eine wichtige Rolle spielen wolle.
Angesichts dieser grossen Herausforderungen versteht es Doris Leuthard, dass die Schweiz nicht wirklich Lust auf die EU habe. Dies zeige sich symptomatisch am Rahmenabkommen. Der bilaterale Weg, den die Schweiz gewählt habe, sei komplex und schwerfällig. Das Rahmenabkommen würde dies erleichtern und zu weniger Bürokratie führen. «Eine Zusammenarbeit ist fruchtbarer als Alleingänge», ist die Alt-Bundesrätin überzeugt. Insbesondere für kleinere Volkswirtschaften würden Kooperationen Vorteile bringen. «Doch wir tun uns schwer damit, weil uns immer wieder Ängste beschleichen vor der Macht des Stärkeren», sagt sie. Die Bedenken betreffen den Zentralismus, den Souveränitätsverlust oder europäischen Richtern. «Mit Bedenken kommt man aber nicht vorwärts», so Leuthard.
Der Bundesrat habe seit 2013 ein Mandat für das Rahmenabkommen. Vom Abkommen könne man halten was man wolle, man solle sich aber nicht über die Details streiten. «In Verträgen geht es um jedoch um die grossen Linien». Nun müsse sich die Schweiz die Frage stellen, wo sie bis 2030 stehen wolle. «Wollen wir einen gemeinsamen Binnenmarkt? Dann braucht es gemeinsame Spielregeln.» Dasselbe gelte bei der Schiedsgerichtsbarkeit oder der Legislative. Strittig sei die Frage bezüglich der entsendeten Arbeitskräfte. Diese gelte es zu lösen. Es sei Sache der Sozialpartner, nicht Zeit zu vergeuden und die Fragen in den kommenden Monaten zu lösen. Allerdings sei dies nur ein kleiner Teil des Arbeitsmarktes. «Wir sind zunehmend darauf angewiesen, dass wir einen Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt haben, weil Fachkräfte fehlen», sagt Leuthard. Aber es werde nie eine à la carte-Lösung geben.
«Die Zeit für eine Entscheidung ist reif», so Leuthard. Denn aufbrechen könne man nicht, wenn man über Jahre nicht wisse, was man will. Bei den Partnern erwecke die Schweiz den Eindruck, dass sie mit der aktuellen Situation zufrieden sei. Staatssekretär Roberto Balzaretti brauche Vorgaben, was noch verbessert werden müsse. Schliesslich dränge die Zeit. Dies sehe man am Beispiel der Börsenequivalenz oder dem Forschungsabkommen, welches für die hiesigen Hochschulen von grösster Bedeutung sei. «Da muss man nächstes Jahr eine Lösung finden.» Und auch für die Industrie gehe es um viel Geld. Entsprechend solle man nicht weiter verzögern. Sonst werde auch die EU stur bleiben – und dies sei nicht in unserem Interesse. «2020 wird ein wichtiges Jahr im Verhältnis mit der EU», ist Leuthard überzeugt.
Die Alt-Bundesrätin ist aber zuversichtlich, dass man eine Lösung finden werde, so wie die Schweiz bereits in der Vergangenheit mehrfach «Ja» zu einem Abkommen mit der EU gesagt habe. Wolle die Schweiz weiterhin ein prosperierendes Land bleiben, ein Wissensstandort, müsse man kooperieren. Denn die Zukunft in einer digitalen Welt werde den gut vernetzten gehören. «Hier können wir von den Jungen lernen.»