Die Altersvorsorge weise einen gewaltigen Reformstau auf – und die Zeit eile, mahnten Anfang November die Expertinnen und Experten von KPMG, einem Beratungsunternehmen. Sie diagnosti zieren einen grossen Reformstau, weil Partikularinteressen eine Konsensbildung verhindern. «Im Zentrum steht nicht zuletzt die Verlustangst.» Gefragt sei eine realistische Betrachtung der Sachlage aller Altersgruppen, losgelöst von individuellen Befindlichkeiten. Doch dafür müsse zuerst Transparenz geschaffen werden.
Und auch das Thema Nachhaltigkeit wird immer wichtiger. «Obwohl kleinere Pensionskassen kaum die Ressourcen haben, um das Thema Nachhaltigkeit umfassend zu adressieren, geht KPMG von einem klaren Trend aus, der durch immer mehr digitale Hilfsmittel noch beschleunigt wird», stellen die Expertinnen und Experten fest. Kurz: Neben der Vorsorgelücke gibt es auch eine Digitalisierungslücke.
Bei der Baloise hat man in diesem Bereich bereits mit der Blockchain-Technologie experimentiert, wie ein Vertreter der Versicherung im Oktober an einer Block-chain-Konferenz des «Finanz und Wirt-schaft»-Forums erklärte. Denn wenn Arbeitgeber ihre Stelle wechseln, hat das allerhand Folgen für das System der Freizügigkeitsleistungen: Kündigungen bisheriger Verträge, Benachrichtigungen, Abrechnungen hin und her, dann die Überweisung – der Prozess ist sehr papierlastig. Unter dem Strich bedeutet das für eine Versicherung wie die Baloise, die jährlich rund 28 000 Abgänge und ebenso viele Zugänge mit einem Volumen von 1 Milliarde Franken hat, viel teure Handarbeit.
Mit der Blockchain-Technologie müssten die Daten lediglich einmal erfasst werden. Die Tests, die man bei der Baloise gemacht hatte, waren aufschlussreich: Man hatte hier mit der Ethereum-Variante der Blockchain-Technologie für den reinen Informationsfluss gearbeitet. Mit zusätzlicher Verschlüsselung hat sich diese als brauchbar erwiesen. Damit liess sich der bisherige Prozess zwar graduell verbessern, aber eine Disruption wäre das dann doch nicht. Dafür wären zwei Dinge erforderlich gewesen: die Möglichkeit für den Transfer der Assets und der Krypto-Franken, der von der Schweizerischen Nationalbank hätte beigegeben werden müssen.
Standardisierte Asset-Transfers und Kryp to- Franken sind grosse Gemeinschaftsprojekte. «Der Bau einer solchen Software ist aber sehr teuer und braucht die richtigen Ressourcen», sagt Erich Meier, Partner bei KPMG und Leiter des KPMG-Vorsorgezentrums. «Das kann unseres Erachtens nur realisiert werden, wenn verschiedene Pensionskassen beispielsweise im genossenschaftlichen Sinn zusammenarbeiten und ein grosses Investitionsbudget zur Verfügung stellen.»
Die Versicherten haben einen wachsenden Bedarf an Informationen.
«Die Digitalisierung schreitet auch bei den Pensionskassen voran, wobei pauschale Aussagen schwierig sind, da die einzelnen Kassen bezüglich der Umsetzung der Digitalisierung unterschiedlich weit sind», stellt Hanspeter Konrad, Direktor des Schweizerischen Pensionskassenverbandes Asip, fest. «Gemeinschaftsund Sammelstif tungen haben den Austausch mit den angeschlossenen Arbeitgebenden und den Versicherten schon digitalisiert, grosse Konzernkassen ebenfalls.» Die Kommunikation mit den Versicherten werde noch weiter digitalisiert werden.
«Covid-19 hat sicher Pensionskassen, die Prozesse noch weitgehend mit Medienbrüchen und Papierdossiers durchführen, motiviert, die Digitalisierung voranzutreiben», sagt Konrad weiter. Aus seiner Sicht beschäftigen sich immer mehr Pen sionskassen mit diesen Fragestellungen: Es geht um eine erhöhte Wirtschaftlichkeit beziehungsweise eine Reduktion des bürokratischen Aufwands, um eine allgemeine Qualitätssteigerung, um mehr Transparenz und schliesslich um schnellere interne Abläufe.
Auch der elektronische Datenaustausch unter den Pensionskassen wird zunehmend wichtig. «So ermöglicht beispielsweise die Plattform BVG Exchange der Auffangeinrichtung den papierlosen, digitalen Datenaustausch von Austrittsdaten zwischen allen angeschlossenen Institu tionen», sagt Konrad. «Auch wenn digitale Prozesse den persönlichen Kontakt nicht ersetzen, wird die digitale Entwicklung zweifellos weitergehen.» So hätten viele Pensionskassen zwischenzeitlich auch für ihre Kommunikation mit den Versicherten digitale Plattformen eingerichtet.
«Zweifellos wird der Informationsbedarf der Versicherten noch weiter zunehmen», erwartet Konrad. Zur Diskussion steht beispielsweise ein digitales Vorsorgeportal, das alle vorsorgerelevanten Daten zusammenführt und jedem und jeder Einzelnen einen transparenten Überblick über die Gesamtleistungen aus allen Vorsorgesäulen ermöglicht.
«Die Digitalisierung darf selbstverständlich kein Selbstzweck sein», sagt KPMG-Experte Meier. «Sie kann den Pensionskassen dabei helfen, das Geschäft in gleichbleibender Qualität, ressourcenschonend, standortunabhängig und rasch abzuwickeln.» Das Vorsorgesystem pro fitiert laut Meier von Skaleneffekten und kann diese an die Versicherten weitergeben.
«Die meisten Pensionskassen haben die grundlegenden Digitalisierungsschritte bereits abgeschlossen», so Meier weiter. Beispielsweise ist es heute Standard, das Archiv elektronisch zu führen. Die meisten Pensionskassen hätten in der Covid-19- Krise bewiesen, dass viele Arbeiten auch vom Homeoffice aus erledigt werden können. Den Versicherten steht heute häufig ein Portal zur Verfügung, mit dem sie einfache Abfragen und Simulationen durchführen können. «Hingegen werden Robotic Process Automations – etwa zur Automatisierung von Schnittstellen – oder künstliche Intelligenz, die zum Beispiel für Chatbots eingesetzt wird, noch nicht angewendet», sagt Meier.
Voraussetzung für eine umfassende Digitalisierung ist die Vernetzung der Pensionskassen untereinander. «Heute ist es immer noch Standard, dass beispielsweise der Eintritt eines Versicherten basierend auf einem Papierbeleg abgewickelt wird», sagt Meier. Diese Vernetzung wäre bereits heute über eine bestehende Infrastruktur der Stiftung Auffangeinrichtung BVG möglich und mit einem sehr guten Kos-ten-Nutzen-Verhältnis umsetzbar. «Da das Pensionskassengeschäft weitgehend standardisiert ist, wäre es möglich, hier hoch effiziente Prozesse zu entwickeln, die Elemente der Robotic Process Automation enthalten und künstliche Intelligenz anwenden.» Die Zeit drängt auch hier, denn: «Die Umsetzung wäre unter diesen Gegebenheiten in fünf bis zehn Jahren denkbar.»