Sie beschäftigen sich intensiv mit dem Thema Biodiversität. Inwiefern hängen Ökologie und Ökonomie zusammen?

Das lässt sich nicht so einfach beantworten. Wir müssen uns zuerst einigen.

Worauf?

Welchen Wert die Natur hat.

Sie versuchen, der Natur ein Preisschild anzuhängen?

Das muss kein monetärer oder emotionaler Wert sein. Solange wir die Natur als etwas anschauen, das nicht in irgendeiner Form kompensiert werden muss, schieben wir sämtliche Verantwortung auf die künftigen Generationen.

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Wie lässt sich der Wert der Natur bemessen?

Das ist ja der Punkt. Wir haben zwar ein Bewusstsein für das Artensterben, aber niemand weiss, mit welcher Grundlage wir arbeiten sollen. In der Fachsprache nennt man das «missing baseline». Es fehlt ein globaler Standard, an dem wir uns messen könnten.

Weshalb?

Weil das Inventarisieren der globalen Biodiversität zu lange dauert. Bis wir ein global kohärentes, weltweites Inventar haben, sterben uns unter der Hand massenhaft Arten weg.

Der Verlust an biologischer Vielfalt ist alarmierend: Experten zufolge sterben Arten heute weltweit 100- bis 1000-mal schneller aus, als in natürlichen Prozessen zu erwarten wäre. Was bedeutet dieser dramatische Schwund für uns?

Ob es schneller geht als in natürlichen Prozessen, muss sich noch zeigen, da der historische globale Vergleich fehlt. Auch Vulkanausbrüche oder andere Naturereignisse können zu einem hohen Artensterben führen. Generell bedeutet der Verlust von Biodiversität aber einen Verlust an Resilienz, also der Fähigkeit der Natur, sich selbst zu regenerieren. Grundsätzlich sterben im Moment viel zu viele Arten zu schnell und unnötig aus – das kann man in keinem Fall schönreden.

Was sind die Folgen?

Nehmen wir als Beispiel ein Monokulturmaisfeld. Nur dank dem Einsatz grosser Mengen an Pestiziden und Dünger bleibt dieses System intakt und damit höchst produktiv.

Der Verlust von Biodiversität macht Pflanzen also anfällig für Schädlinge und Krankheiten?

Exakt. Die Konsequenzen sind noch nicht so dramatisch, dass wir überall Pestizide einsetzen müssten. Aber wir befinden uns in einer Grauzone, in der wir noch nicht genau genug wissen, wie viel wir verlieren und welchen Einfluss dieser Verlust hat auf das, womit zukünftige Generationen umzugehen haben.

Sind Bioprodukte die Lösung? Dort wird beim Anbau auf Biodiversität gesetzt. Das hat allerdings seinen Preis …

Nicht zwingend. Wie eine kürzlich veröffentlichte Studie zeigt, bezahlen Konsumentinnen und Konsumenten in der Schweiz viel zu viel für Bioprodukte. Es sind die Wiederverkäufer, die am meisten daran verdienen. Der Preisunterschied zwischen einem biologisch und einem nicht biologisch angebauten Produkt ist zwar vorhanden, aber niemals so gross, wie es der Preis bei den Endverbraucherinnen und Endverbrauchern vermuten lässt.

Das ist ziemlich dreist.

Der Verkauf spielt mit Emotionen, denn die Konsumentinnen und Konsumenten in der Schweiz sind bereit, für Bioprodukte mehr zu bezahlen. Aber nochmals: Hätte die Natur einen Wert, dann wäre der Anbau in Monokulturen teurer als der biologisch gerechte Anbau. Wäre das der Fall, dann hätten wir eine komplett andere Diskussion.

Welche Subventionen gefährden die Biodiversität?

Eine Studie der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) hat 162 biodiversitätsschädigende Subventionen in der Schweiz identifiziert. Darin enthalten sind Fehlanreize, welche die Biodiversität zum Teil stark schädigen. Es wäre viel sinnvoller, Massnahmen zu ergreifen, die die Biodiversität fördern.

162 biodiversitätsschädigende Subventionen hat die SCNAT in der Schweiz identifiziert.

 

Zum Beispiel?

Derzeit werden wieder vermehrt alternative und alte Maissorten angepflanzt, um die Diversität beim Mais zu fördern. In einer integrierten Betrachtungsweise – also indem man Wasserverbrauch, Gesundheit, Ökosystemleistungen und lokale Verhaltensweisen miteinbezieht – können positive Effekte erreicht werden.

Michael Schaepman
Quelle: Universität Zürich; Frank Brüderli
Zur Person

Prof. Dr. sc. nat. Michael Schaepman ist Professor für Fernerkundung am Geographischen Institut (Remote Sensing Laboratories) sowie Rektor der Universität Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Erdbeobachtung, Fernerkundung und Spektroskopie zum Messen von Biodiversität aus dem Weltraum.

Welche Auswirkungen entstehen für Unternehmen durch den Verlust von Biodiversität?

Sie müssen neuerdings nicht nur Klimanachhaltigkeit beweisen können, sondern auch Biodiversitäts-Nachhaltigkeit. Und das ist nicht ganz so einfach.

Hängen Klima und Biodiversität nicht ohnehin zusammen?

Aus wissenschaftlicher Sicht schon. Dennoch bedeutet es mehr Aufwand – aber es sollte sicher nicht der doppelte Aufwand dafür entstehen.

Gibt es bereits ein offizielles Regelwerk?

Noch nicht. Wir müssen uns zuerst darauf einigen, wie man Biodiversitäts-Gewinne und -Verluste rapportiert.

Wo liegt die Krux?

Mehr Biodiversität ist nicht immer besser, dazu gibt es viele Beispiele, etwa Arizona oder Dubai.

Arizona?

Dort haben sogenannte «Snowbirds», die über den Winter in das rheumafreundliche trockene Klima des Südens reisten, begonnen, ihre Gärten mit nichtheimischen Pflanzen zu bepflanzen – insbesondere solche mit Pollinatoren, etwa Gräsern, die Pollen in die Luft lassen. Das hatte vordergründige positive Effekte, weil die Aerosole in der Luft und die Absorption zugenommen haben und eine leichte Kühlung eingetreten ist. Dadurch sank auch die Gefahr von Hautkrebs durch Sonnenbrand. Es wirkte sich aber auch auf das Immunsystem aus und die Menschen wurden besonders anfällig auf Verunreinigungen in der Luft. So verursachten mehr Verbrennungsmotoren und die Pollinatoren häufiger Heuschnupfen.

Es geht also auch um den Wandel der Biodiversität und dessen Auswirkungen.

Genau. Um diese zu messen, braucht es eine vergleichbare Baseline, eine Art Inventar, das weltweit einheitlich ist.

Wie weit ist man in der Schweiz?

Das Biodiversitätsmonitoring Schweiz (BDN), das für das Bundesamt für Umwelt von einem privaten Unternehmen betrieben wird, ist eines der besten weltweit.

Lässt sich dieses Netzwerk auf andere Länder übertragen?

Das geht nicht so einfach. Wir haben eine vergleichsweise kleine Fläche, die in Schweizer Manier sehr präzise ausgemessen und inventarisiert wird. Ich denke nicht, dass alle anderen Länder ausreichend Ressourcen zur Verfügung stellen können, um das genau so zu machen.

Um dem Biodiversitätsverlust entgegenzuwirken, einigten sich die Staaten an der 15. UN-Biodiversitätskonferenz 2022 darauf, Massnahmen zu ergreifen. Wie schätzen Sie deren Erfolgsaussichten ein?

Alle diese Massnahmen sind extrem zielführend. Die Frage ist vielmehr, wer diese verbindlich umsetzt. Die UN kann den Nationen nicht gesetzlich vorschreiben, was sie zu tun haben, sondern erlässt aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse Empfehlungen, die nun von den unterzeichnenden Ländern anerkannt wurden. Ob und wie diese umgesetzt werden, ist Sache der Regierungen.

Gab es in der Geschichte einen ähnlichen Fall?

In den 1980er-Jahren wurde mit dem sogenannten Montreal-Protokoll zu Substanzen, die zum Abbau der Ozonschicht führen, ein Vertrag geschaffen, der erfolgreich durchgesetzt wurde.

Existiert bereits ein Mechanismus für Biodiversität?

Ja, und zwar das Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework (GBF) – seit dem 19. Dezember 2022.

Wo liegt der Unterschied?

Beim Thema Biodiversität muss noch weiter gedacht werden – so sollten etwa die Kapital- und Warenströme miteinbezogen werden. Leider spricht man bei Sustainable Finance im Moment noch häufiger über Nachteile wie Greenwashing. Dass sich die Menschen Gedanken darüber machen, welchen Einfluss ihre Aktivitäten auf die Umwelt haben, ist aber ein positiver Effekt. Viele sind dadurch jetzt sensibilisiert worden.

Das ist schon ein guter Anfang.

Ja, aber die Umsetzung geht meiner Meinung nach nicht schnell genug. Ich finde es unverantwortlich, dass wir Menschen und Unternehmen die Biodiversitätsverluste, die wir heute verursachen, nicht für zukünftige Generationen kompensieren müssen. Wir übergeben ihnen eine Welt, die Schäden hat, die im Moment nicht bezifferbar sind. Das ist unfair.

Inwiefern spielt die Einstellung der Generationen hier eine Rolle?

Viele Menschen verstehen mittlerweile, dass die Frage der Verantwortung für heute verursachte Umweltschäden eine Herausforderung für die Zukunft ist. In der Wissenschaft hat sich das durchgesetzt, sonst hätte die Staatengemeinschaft der Konvention der biologischen Diversität (CBD) das Kunming-Montreal Framework zur globalen Biodiversität gar nie verabschiedet. Das Verständnis ist also da – bei allen Generationen.

Warum dauert die Umsetzung der Massnahmen so lange?

Das ist eine gute Frage. Die Messungen des Biodiversitäts-Netzwerks zeigen die Konsequenzen unseres Handelns. Ausreden, diese nicht erkannt zu haben, ziehen also nicht mehr. Das Ziel sollte nun sein, dass wir mit gutem Gewissen sagen können, alles in unserer Macht Stehende getan zu haben, um möglichst viel Biodiversität zu erhalten und zurückzugewinnen. Die Schweiz gehört hierbei nicht zu den führenden Staaten weltweit. Wir könnten noch mehr Vorbildfunktion übernehmen – nur schon, weil wirs so gut wissen.

Immerhin haben wir einen Nationalpark.

Dieses Gebiet wurde 1914 unter Schutz gestellt, nachdem es aufgrund der Rodungen seinen primären wirtschaftlichen Nutzen verloren hatte. Heutzutage ist das ein Schatz ohne Ende, weil man es 100 Jahre geschafft hat, das Gebiet rigoros zu schützen. Heute einen zweiten Nationalpark zu gründen, führt zu vielen Diskussionen. Dennoch machen wir uns in der Schweiz nicht schlecht: Die ganzen emotionalen Diskussionen um den Bären, den Wolf und den Bartgeier sind ein ganz klarer Biodiversitätstreiber, und das ist gut so.
 

Das Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework (GBF)

Der Globale Rahmen für die biologische Vielfalt (GBF) von Kunming-Montreal wurde auf der 15. Tagung der UN Biodiversitätskonferenz der Vertragsparteien (COP 15) nach einem vierjährigen Konsultations- und Verhandlungsprozess am 19. Dezember 2020 angenommen. Dieses historische Rahmenwerk, das die Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung unterstützt und auf den früheren Strategieplänen des Übereinkommens aufbaut, legt einen ehrgeizigen Weg zur Verwirklichung der globalen Vision einer Welt, die bis 2050 im Einklang mit der Natur lebt, fest. Zu den wichtigsten Elementen des Rahmens gehören 4 Ziele für 2050 und 23 Ziele für 2030.

Die Umsetzung des Globalen Biodiversitätsrahmens von Kunming-Montreal wird durch ein umfassendes Paket von Beschlüssen, die ebenfalls auf der COP 15 verabschiedet wurden, begleitet und unterstützt. Dieses Paket umfasst einen Überwachungsrahmen für den GBF, einen verbesserten Mechanismus für die Planung, Überwachung, Berichterstattung und Überprüfung der Umsetzung, die erforderlichen finanziellen Mittel für die Umsetzung, strategische Rahmen für den Kapazitätsaufbau und die technische und wissenschaftliche Zusammenarbeit sowie eine Vereinbarung über digitale Sequenzinformationen über genetische Ressourcen.