Die Schweiz muss nach Ansicht von Bundespräsident Ignazio Cassis bei der Planung der künftigen Beziehung mit der EU aus der rein «technisch-institutionellen Fragestellung» herauskommen. Stattdessen müsse der Inhalt im Fokus stehen.

«Erst wenn wir das durch inhaltliche Substanz anreichern, wenn Politik und Gesellschaft erkennen, welche materiellen Gewinne die Schweiz erwarten kann, wird auch eine institutionelle Annäherung akzeptiert werden», sagte er im Interview mit der «SonntagsZeitung».

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Der Bundesrat sei derzeit daran, den Rahmen für ein mögliches Paket oder eine Gesprächsagenda mit der EU abzustecken und analysiere mögliche Elemente. Die Schweiz dürfe sich aber nicht nur auf Abkommen zur Beteiligung am Binnenmarkt beschränken. Es gebe viele Möglichkeiten, die Beziehung zur EU zu vertiefen, etwa in der Gesundheit, der Forschung, bei den Medien oder der Kultur.

Cassis betonte, dass beide Seite ein Interesse an geregelten Beziehungen hätten. In der Schweiz lebten 1,4 Millionen EU-Bürger und die Schweiz sei der viertwichtigste Handelspartner der EU. «Instabile Beziehungen sind auf die Dauer weder für uns noch für die EU eine Lösung», konstatiert Cassis.

Dennoch versuche die EU, mit politischen Verknüpfungen Druck auf die Schweiz auszuüben. Diesen Druck müsse die Schweiz aushalten. «Wir können nicht einfach unsere Prinzipien aufgeben, den Lohnschutz und die Zuwanderung auf die leichte Schulter nehmen und so den sozialen Frieden aufs Spiel setzen», sagte Cassis. Es brauche jetzt «ein bisschen Ruhe und etwas Kreativität.»

Mit der Druckausübung sind etwa die Diskriminierungen bei der Forschung oder in der Medizinaltechnik gemeint. Damit schade die EU aber auch ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern, sagte Cassis, etwa indem die Produkteauswahl im Bereich Medtech verkleinert werde. Und die EU schade dem Forschungsstandort Europa.

Grosse Differenzen

Der Bundesrat hört sich gemäss Cassis dabei auch die Ideen und Vorschläge aus der Zivilgesellschaft an. Aus diesem Grund sei zwei Mal ein runder Tisch durchgeführt worden, einer davon diese Woche. Dort würden die verschiedenen Vorstellungen diskutiert, etwa die Idee einer Europa-Volksinitiative der Operation Libero und der Grünen. Damit soll der Bundesrat gezwungen werden, in wichtigen Dossiers mit der EU eine Lösung zu finden - inklusive einer technischen Lösung der institutionellen Fragen.

Die Differenzen seien aber nach wie vor gross, sagte Cassis. «Wenn es nicht so wäre, hätten wir das Problem wohl schon längstens gelöst», hielt der Bundespräsident fest.

«Turbo-Öffnung» verantwortbar

Zur Sprache kamen im Interview auch die angedachten Lockerungen der Corona-Massnahmen. Eine «Turbo-Öffnung» könne er auch als Arzt verantworten, sagte Cassis. Die Regierung müsse aber bereit sein, falls nötig einzugreifen. Man könne ohnehin nicht einfach sagen, «jetzt ist fertig». Die Menschen müssten die Pandemie, die individuellen Folgen und die Erinnerungen noch verarbeiten. Viele Menschen hätten Angehörige verloren oder im Spital gelitten.

Cassis äusserte sich zudem zum Bundesratsentscheid, kein Regierungsmitglied an die Olympischen Spiele in Peking zu schicken. Die Regierung hatte dies mit der Corona-Situation begründet. Andere Regierungen hatten beschlossen, den Spielen wegen Chinas Menschenrechtsverletzungen fernzubleiben. Cassis sagte dazu im Interview: «Wir haben uns bewusst gegen einen Boykott entschieden.» Der Bundesrat bleibe aber über die Menschenrechtsverletzungen besorgt. «China entwickelt sich nicht so, wie wir uns das erhofft haben.»

«Vermittlerdienste sind gefragt wie noch nie»

In den Spannungen zwischen den Grossmächten USA, Russland und China sieht der Bundespräsident derweil eine Chance für die Schweiz. «Unsere Vermittlerdienste sind gefragt wie noch nie. Das zeigt, dass das Vertrauen in die Schweiz gross ist.»

Die Welt entwickle sich zu einer tripolaren Welt mit einem staatskapitalistischen System im Osten, einem Freimarkt-Kapitalismus in den USA - und Europa wolle eine soziale Marktwirtschaft erhalten und sich gleichzeitig als dritte Weltmacht positionieren. Der Druck auf die Schweiz werde wachsen, um vertiefte Beziehungen zu Europa zu pflegen.

(sda/gku)