Sigmar Gabriels Tag begann mit einem Witz auf Twitter: «Schweiz: das Land der Frühaufsteher. Jetzt weiss ich, warum es der Schweiz so gut geht: hier beginnen selbst die politischen Gespräche um 6.30 Uhr. Europafrühstück auf dem Schiff in Luzern.»
Sigmar Gabriel bot den Gästen des «Breakfast-Cruise» spannende Ein- und Ausblicke zur Frage, wie und warum sich die Welt gerade rasant verändert – und was das für die Schweiz und Europa bedeutet. Moderator Dirk Schütz stellte wenige Fragen: Sigmar Gabriel aber sprach vierzig Minuten. Seine Antworten waren nie einfach, sondern stets differenziert und bemüht, die Irrungen und Wirrungen der Weltpolitik verständlich zu erklären: «Ich muss das alles sagen, um ihre Frage beantworten zu können», sagte er einmal, fast entschuldigend.
Während draussen die Villen am Seeufer vorbeizogen, der Bürgenstock sich in Nebel hüllte und der Morgen langsam heller wurde, spannte Gabriel den Bogen von der Krimi-Präsidentschaftswahl der EU-Kommission über die deutsch-französische Freundschaft hin zu den tiefgreifenden Veränderungen in der Weltpolitik, die drohen, Europa ins Abseits zu drängen. «Denken sie immer daran, dass Geografie und Geschichte dazu führen, dass verschiedene europäische Länder unterschiedlich auf die heutige Situation in Europa blicken», sagte er. «Wenn man also in Europa über Europapolitik redet, muss man zur Kenntnis nehmen, was gesagt wird. Und dann um die Ecke denken und sich fragen, was könnte das noch bedeuten?»
Der Brexit und seine Auswirkungen durfte dabei als Thema nicht fehlen. Gabriel fürchtet, die EU gerate ohne die Briten aus der Balance: «Ich sorge mich darum, dass die EU eine osteuropäische Schlagseite bekommt». Die Briten hätten mit ihrer wirtschaftsliberalen Haltung immer Gegengewicht gegeben zu zu viel staatlichem Dirigieren. Dieser Ausgleich fehle nun. Deshalb müsse die EU vorsichtig sein mit ihrem Erweiterungsprozess im Osten. Schon jetzt sehe man Europa, wie gewisse Staaten etwa Malta oder die Slowakei Probleme hätten mit ihrer Regierung, auch der Einfluss des organisierten Verbrechens sei problematisch.
Gabriel machte deshalb einen abenteuerlichen Vorschlag: Wie wäre es, wenn Kanada ein Mitglied der EU würde? Schon jetzt bestehe Europa aus verschiedensten Assoziationen, aus EU, Eurozone, Schengen, EFTA. «Die Kanadier sind uns Europäern politisch und gesellschaftlich ähnlich – und sie sind Arktis-Anrainer». Die Arktis werde ein neuer geopolitische Hotspot, denn der Klimawandel mache die Nordwestpassage frei. Und damit auch die Jagd nach Rohstoffen. «Europa hat dort geopolitisch aber nichts zu sagen», sagte Gabriel.
Darauf angesprochen, was ihn in der Schweiz angesichts der Debatte über Europa am meisten überrasche, sagte Gabriel: «Die Frage, wie man ausserhalb der Schweiz die Debatte über das Rahmenabkommen wahrnimmt.» Die werde dort nämlich ausser in Expertenkreisen gar nicht wahrgenommen. «Niemand hat wirklich ein Problem mit der Schweiz. Die meisten denken nur Gutes über das Land!»
Sein bleibender Eindruck vom ersten Tag am Europaforum sei, wie stark in der Schweiz die Debatte über Europa nach innen gerichtet ist: «In der Schweiz ist Europapolitik Innenpolitik.» In der EU drehe sich vieles eher um das Aussenverhältnis, etwa, was die Veränderungen der Weltpolitik für Europäer bedeuten. Dennoch kann er die Skepsis der Schweizer in der Europafrage verstehen. «Das hat aber weniger mit Europa zu tun, als mit der ungezügelten Globalisierung der vergangenen dreissig Jahre.» Er frage sich manchmal, ob die Menschen überhaupt gemacht sind für so viel Veränderungen.
Auf jeden Fall hat das Europaforum Gabriels Blick auf die Schweizer Europa-Diskussion bereits verändert. «Ich hoffe auch, dass ich die Erwartungen an mich erfüllen konnte, die Aussenperspektive hier heranzutragen.»