Bis weit ins 21. Jahrhundert hinein wurde die Kunst, die ausserhalb des westlichen, weissen Kanons geschaffen wurde, nicht gänzlich erkannt oder überhaupt anerkannt. Sich von der tradierten Kunstgeschichte lösen zu wollen, bedeutet denn auch keineswegs, andere Positionen, Bewegungen oder Perioden in eine solche neu aufzunehmen, sondern eher, diese als aussenstehende Positionen zu zeigen und zu würdigen. Vor allem die kuratorische Praxis, aussereuropäische Artefakte im westlichen Kontext zu zeigen, hat seit der Jahrtausendwende Einfluss auf das Sammelverhalten: Kulturkritiker Diederich Diederichsen hat festgestellt, dass zunehmend die Partizipation das Spektakel ist, also «Kollaboration statt Rezeption».

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Der Autor

Dirk Boll ist Deputy Chairman, 20th & 21st Century Art, bei Christie`s.

Angebot ist multinationaler geworden

Heute werden in westlichen Museen zunehmend Sammlungspräsentationen gezeigt, die sich von der Chronologie der Kunstgeschichte gelöst haben, um die Marginalisierung durch (westliche) Klassifizierungen zu vermeiden. Auch im kommerziellen Bereich gibt es Anzeichen, die auf das Ende der Dominanz der sogenannten Nato-Kunst hindeuten. Die Globalisierung der Käuferschaft hat ihre Entsprechung in der Künstlerschaft; seit der Jahrtausendwende ist das bislang von Nordamerika und Westeuropa dominierte Angebot deutlich multinationaler geworden.

Zwar bestimmen nach wie vor die Werke weisser Männer das Angebot, aber die Kaufkraft, die sich in den Gesellschaften des Mittleren und Fernen Ostens sowie weltweit beim weiblichen Teil der Sammlerschaft zeigt, gleicht das zunehmend aus – mit entsprechenden Folgen für den Kanonisierungsprozess allgemein, der auch in den Institutionen neue Schwerpunkte auf Künstlerinnen (und kunstschaffende Kollektive) aus der ganzen Welt setzt. Meilensteine dieser Entwicklung waren dabei sicherlich die Ausstellung «Magiciens de la Terre» 1989 im Centre Pompidou in Paris sowie die ab 2017 unter dem Titel «Museum Global» in den staatlichen Museen von Düsseldorf, Berlin, Frankfurt und München initiierten Ausstellungen, aber auch die «Documenta 15» 2022 in Kassel und schliesslich die Neuhängung der ständigen Ausstellung des Moma. In einer Abkehr von althergebrachten Kategorisierungen der Kunstgeschichte verabschiedete man sich dort von den «-ismen» und zeigt heute eine globale Chronologie von Kunstschaffen.

Es wird sich zeigen, inwieweit diese Neuausrichtung der Institutionen zur Erosion ihrer angestammten Rolle im Kanonisierungsprozess führen wird. Dies hat für die Marktsysteme grösste Bedeutung, basiert deren Arbeit doch auf der Qualitätsvereinbarung der institutionellen Kanonisierungsprozesse – nicht umsonst nennt Kunstkritiker Walter Grasskamp die öffentliche Hand die «Wohltäter der Kunstmarktteilnehmer». Nachdem sich heute zeigt, dass die von den Museen mitgestaltete Kunstgeschichte der letzten Jahrhunderte für grosse Teile der Weltbevölkerung nicht verwendbar war und die Lücke zwischen Museumspräsentation und Gesellschaft zu gross wurde, scheint auch in der Kunst der Globalismus die neue Epoche zu sein.

Aufleben der Liebe zur Malerei

In der Wahl der Ausdrucksformen und Medien zeigt sich diese Neubetrachtung allerdings überraschend klassisch. «Malerei ist tot» war das Credo der zeitgenössischen Produktion in der Nachkriegszeit: Akademieausstellungen oder Messebesuche der Vergangenheit legten regelmässig den Verdacht nahe, klassische Tafelgemälde seien nicht länger eine akzeptable Äusserungsform für junge Kunstschaffende. Eine Ausnahme waren die 1990er Jahre, als die westliche Welt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erkennen konnte, dass man im real existierenden Sozialismus durchaus klassisch ausgebildet und gemalt hat. Die Ausstellungs-, vor allem aber die Markttriumphe der Leipziger Schule erschienen vielen wie eine Fussnote des Kalten Krieges, die teuer bezahlte Leinwand von Neo Rauch in einer New Yorker Sammlung als ultimative Trophäe der Idee des alten Westens.

Anders die aktuell wieder auflebende Liebe zur Malerei. Der jüngste Fokus auf Werke von Künstlerinnen oder von People of Color scheint keine Umarmungsstrategie zur Beherrschung zu sein. Vielmehr wurde deutlich, dass das Gefühl, die Möglichkeiten der Malerei ausgeschöpft zu haben, sich auf die Arbeit vor allem von Männern der westlichen Industrienationen bezog. Heute eröffnet die neue Sichtweise auf übersehene, wiederentdeckte oder wieder zu entdeckende Positionen ganz neue Blicke: So, wie die westlichen, männlichen Positionen bekannt erscheinen, interessiert jetzt, was «alle anderen» dazu zu sagen haben: Iwona Blazwick, frühere Leiterin der Londoner Whitechapel Gallery, spricht gar von einer neuen Avantgarde.

So, wie der Kubismus die Formen der sichtbaren Welt auflöste, die Einzelteile von allen Seiten betrachtete und neu, anders zusammensetzte, so schauen wir heute auf Malerei mit einem frischen Blick. Aus Positionen, die wir zuvor nicht eingenommen hatten. Ob das Ergebnis anders, interessanter ist, mag eine persönliche Empfindung sein. Der institutionelle Kanonisierungseffekt wird die Frage kunsthistorisch anschliessend klären. Aber die Werke aktueller Marktstars wie Alma Thomas, Jo Baer, Alina Szapocznikow, Miriam Cahn oder Barkley Hendricks zeigen den Nachholbedarf, den die Rezeption hat. Selbstredend gibt es auch ausserhalb der Kunstmarktplattformen viel zu entdecken, wie jüngste Ausstellungen zeigen. Die Wiederentdeckung des Œuvre von Meret Oppenheim war lange überfällig, jetzt kann die Ausstellung im Kunstmuseum Bern einen Messebesuch in Basel abrunden.