Seit Jahrhunderten konkurrieren London und Paris um die Führungsrolle des europäischen Kunsthandels. Profitierte zunächst Paris von der Kunstbegeisterung der französischen Könige und ihrer Höfe, so wurde die zunehmende Internationalisierung der britischen Gesellschaft zum strategischen Vorteil. Von ihrer Kavaliersreise, der «Grand Tour», heimkehrende Adelige hatten die Kunst des Kontinents zu schätzen gelernt, ihre Sammeltätigkeit liess in London einen hoch spezialisierten und leistungsfähigen Kunstmarkt entstehen – inklusive der Unternehmen Christie’s, Sotheby’s, Phillips und Bonhams, die bis heute die Auktionswelt dominieren. In den folgenden 200 Jahren sollte der Gang der Weltgeschichte beinahe ausschliesslich den Standort London stärken: Bereits im 19. Jahrhundert besass England die grössere (und vermögendere) Mittelschicht, die zunehmend die Nachfrage nach Kunst dominierte, sowie die liberaleren Auktionsgesetze. Im 20. Jahrhundert bedeutete die Dominanz amerikanischer Käuferschaft eine Konzentration auf englische Regeln und die englische Sprache. Zuletzt wurden Paris (und teilweise sogar New York) von der Sammlerschaft aufstrebender Regionen vorgezogen.

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Gamechanger war der Brexit

Erst im 21. Jahrhundert schlug das Pendel zurück. Beinahe als Fussnote der Erzählung muss vermerkt werden, dass im Jahr 2001 das über 400 Jahre alte französische Auktionsrecht EU-regelkonform erneuert wurde, was zeitgemässe Strukturen schuf und die Einbindung des französischen Auktionsmarkts in globale Netzwerke ermöglichte. Der Entfall des Geschäfts mit der russischen Kunst und der russischen Sammlerschaft in «Londongrad» ist hingegen ein vernachlässigbarer Nachteil, lag doch deren Marktanteil zuletzt bei unter 5 Prozent. Der wirkliche Gamechanger war der Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union.

Dies geschah am 31. Januar 2020, seither ist der Marktplatz London nicht länger Teil des EU-Binnenmarktes und der Zollunion. Seit die Bevölkerung Grossbritanniens 2016 für diesen Schritt stimmte, hat der Brexit alle Märkte beeinflusst; am sichtbarsten durch den Kurswechselverfall des britischen Pfund Sterling. Mit dem Austritt wurde Grossbritannien für die EU zum Drittland und umgekehrt. Dies bedeutet, dass seit dem 1. Januar 2021 alle Güter importiert und exportiert werden müssen – mit einem gewissen Aufwand an Zollformalitäten der Einfuhrumsatzsteuer. Diese beträgt bei der Einfuhr nach Grossbritannien 5 Prozent; bei der Ausfuhr variiert sie je nach Land, in das exportiert wird. Zu diesen Komplexitäten kommt hinzu, dass mit dem Austritt auch die Dienstleistungsfreiheit endete, sodass britische Unternehmen vom Pool der Nachwuchstalente der Union abgeschnitten sind.

Neue Kosten und Steuern haben die Schwelle erhöht, ab welcher es sich lohnt, Kunstwerke zum Verkauf nach London zu verbringen. Unmittelbar profitiert haben die Unternehmen des Mittelmarktes, deren Angebot grossteilig unter oder um diese neue Schwelle angesiedelt ist. In der Folge haben Auktionen und Messen vor allem in Paris, aber auch auf anderen kontinentaleuropäischen Marktplätzen einen Zuwachs an Umsatz erlebt. Der «Art Basel UBS Global Art Market Report» zeigt bereits 2020 starke Auswirkungen auf den nationalen Markt, denn Grossbritannien hatte im Zuge der Brexit-Unsicherheit überproportional Marktanteile verloren, war aber nach wie vor nach den USA die globale Nummer zwei. Erst 2023 musste London diesen Rang an China abtreten, denn man hatte weiter Umsatz an Paris verloren. Verloren gegangen waren auch Formate: Die Auktionsunternehmen verlegten Fachabteilungen und Auktionen nach Paris, beispielsweise den Surrealismus (Sotheby’s) oder die Italian Art (Christie’s). Zudem stellte die Art-Basel-Muttergesellschaft Messe Schweiz (MCH) 2023 die Londoner Messe Masterpiece Fair ein.

 

Art Basel Expansion nach Paris

Gleichzeitig expandierten auch Akteure von ausserhalb Londons in oder nach Paris: von führenden Galerien wie Gagosian und Thaddaeus Ropac bis hin zu den internationalen Versteigerern, die seither mit vergrösserten Räumlichkeiten eine höhere Zahl von Objekten und Auktionen verarbeiten können. Bonhams expandierte, indem man den traditionsreichen französischen Versteigerer Cornette de Saint Cyr übernahm.

Signalwirkung hatte aber vor allem die Expansion der Art Basel im Jahr 2022. Die Pariser Fiac (Foire internationale d’art contemporain), 1974 gegründet und seit 2006 dauerhaft im Grand Palais untergebracht, verlor die Ausschreibung um die Vergabe der Mietverträge für die Spielstätte, die von der neue Kunstmesse «Paris+ par Art Basel» übernommen wurden. Diese Entwicklung verlieh einer Botschaft Glaubwürdigkeit: Paris mit seinem überwältigenden Kultur- und Konsumangebot und mit den nun verbesserten Kunstmarktstrukturen gehört die Zukunft. Oder? In der Makrobetrachtung drängt sich zunächst der Eindruck auf, dass die Transformationsprozesse fürs Erste abgeschlossen sind: Die Londoner Umsatzrückgänge wie auch das Pariser Wachstum sind seit 2019 jedes Jahr geringer ausgefallen, sodass man davon ausgehen kann, dass mittlerweile ein Konsolidierungsniveau erreicht wurde. An der Angebotsspitze hingegen hat London seinen Marktanteil ausbauen können – allein bei Christie’s lag im Jahr 2023 der Anteil der Einzelpreise über 1 Million in London bei 24 Prozent, in Paris bei lediglich 5 Prozent.

Diese Zahlen unterstreichen, dass die Stärken von Paris eher im Bereich von Nischenmärkten wie der angewandten Kunst, des Designs oder der Fotografie liegen, wohingegen die millionenschweren Werke des 20. Jahrhunderts nach wie vor in London angeboten werden. Auch die Wachstumstreiber der kleineren Sammelgebiete indizieren einen Vorteil für London: Wird Altkunst aus Afrika, heutzutage auch als «Art premier» bezeichnet, in Paris gehandelt, findet Zeitgenössisches aus Afrika, aber auch die Kunst aus anderen nicht europäischen Regionen nach wie vor ihre Heimat auf der Londoner Bühne: von den Versteigerungs- und Galerieangeboten der Kunst des Mittleren Ostens über die Abendauktionen für islamische Kunst bis hin zur führenden Messe für zeitgenössische afrikanische Kunst, «1-54», die alljährlich im Somerset House abgehalten wird.

Auch einige Rahmenbedingungen lassen überraschende Londoner Vorteile erkennen: Zum einen kann die Zollgrenze Kosten senken, wenn das Werk margenversteuert verkauft und dann in die EU exportiert wird: Kommt ein Werk zum Verkauf, das von einer Galerie oder Kunsthandlung, seltener auch einer Firmensammlung oder Stiftung eingeliefert wurde, so ist es nicht (Mehrwert-)versteuert. Die Käuferschaft zahlt daher diese Steuer nicht nur auf das Käuferaufgeld, sondern auf den Gesamtbetrag. Wird das Objekt ausgeführt, zahlt man in London nur Mehrwertsteuer auf das Aufgeld. Die Steuer auf den Hammerpreis wird beim Import in die EU durch die jeweilige Einfuhrumsatzsteuer des Landes ersetzt. Dies bedeutet auf der Käuferseite einen Steuervorteil von über 10 Prozent gegenüber einem Einkauf im Heimatland!

Ein weiterer, für London positiver Standortfaktor bahnt sich an. Eine geplante Einführung eines zentralen Kreditregisters im «Goods Mortgages Act» könnte bedeuten, dass mobile Güter in Grossbritannien künftig einfacher sicherungsübereignet werden, ohne dass man sie dafür bewegen muss. In den USA hat diese Form des Gläubigerschutzes zur Folge, dass kreditfinanzierte Kunstwerke die Wände der Sammlerschaft zieren können, wohingegen sie in Europa an den Kreditgebenden (physisch) übergeben werden müssen. Die Tragweite einer solchen Entwicklung wird deutlich, wenn man bedenkt, dass gemäss dem «Art Basel UBS Global Art Market Report» aus dem Berichtsjahr 2023 weltweit 43 Prozent aller Kunstkäufe kreditfinanziert waren.

Auch die anderen Zahlen dieses Art Reports weisen auf den Vorsprung Londons hin. Denn bei aller Euphorie über den Aufstieg von Paris muss festgehalten werden, dass der Markt in Grossbritannien nach wie vor deutlich grösser ist: Während Frankreich im Jahr 2023 einen Marktanteil von 7 Prozent am globalen Kunstmarkt hatte, belief sich derjenige Grossbritanniens auf 17 Prozent. Vielleicht hat der Brexit London weniger geschwächt als gedacht, auch weil dieser globale Umschlagplatz weniger als 20 Prozent seines Angebots in EU-Staaten verkauft. Ars longa in Londinium!