Das Silicon Valley in den USA gilt seit den 1970er-Jahren als Vorbild für ein Innovationscluster, das ständig disruptive Innovationen hervorbringt, die das Alltags- und Arbeitsleben vieler Menschen verändert haben: Die modernen Computerchips wurden hier erfunden. Das Gleiche gilt für viele Softwareanwendungen, und mit Computermäusen und Bildschirmarbeitsflächen – beides in den späten 1970er-Jahren im Palo Alto Research Center (PARC) von Xerox erfunden – arbeiten viele Menschen heute noch in ihren Büros.
Forschungscluster haben kurze Wege
Erfindungen wie Computersteuerungen und Bildschirmarbeitsflächen wurden dann allerdings von anderen Firmen aufgegriffen und weiterentwickelt – wie beispielsweise von Apple, ebenfalls mit Hauptsitz im Silicon Valley. Solche Zentren leben davon, dass grosse und kleine Firmen, private und staatliche Forschungseinrichtungen und – in den vergangenen 30 Jahren zunehmend wichtiger – auch private Geldgeber auf kleinem geografischen Raum sich so organisieren, dass man sich ständig an unterschiedlichen Orten begegnet, Ideen austauscht und so neue Innovationen hervorbringt. Das Silicon-Valley-Erfolgsrezept wurde von etlichen anderen Städten und Regionen übernommen. London ist damit zu einem Zentrum für Fintech-Entwicklungen geworden, Stockholm für Mobilkommunikation, Tel Aviv für Computersicherheit und die Region zwischen Zürich und Zug nennt man in einschlägigen Kreisen auch das «Crypto Valley», weil sich hier viele Blockchain-Firmen angesiedelt haben.
Jetzt entsteht ein ähnliches Zentrum in Heilbronn, eine halbe Autostunde nördlich von Stuttgart in Deutschland. Der Innovation Park Artificial Intelligence (IPAI) erhielt für den Start sowohl von der Schwarz-Stiftung des Lidl-Gründers Dieter Schwarz als auch vom Bundesland Baden-Württemberg je 50 Millionen Euro. Auf einem 23 Hektar grossen Gelände soll bis 2027 in einem ersten Bauabschnitt ein Entwicklungszentrum mit Laboren, Rechenzentren, den Forschungsabteilungen etablierter Firmen und für Startups entstehen. In Zusammenarbeit mit der ETH Zürich sollen über die nächsten 30 Jahre rund 20 neue Professuren am Bildungscampus in Heilbronn und in Zürich geschaffen werden, die auch für die Entwicklung des IPAI von großer Bedeutung sind. Erste Software- und Computerfirmen sowie KI-Startups sind bereits dabei.
Künstliche Intelligenz ist zu wichtig
«Künstliche Intelligenz gilt als Treiber für Innovationen», sagt Reinhold Geilsdörfer, Geschäftsführer der Dieter Schwarz Stiftung. «Sie hat das Potenzial, die Produktivität und Effizienz in zahlreichen Branchen zu steigern, und ist damit auch essenziell für die internationale Wettbewerbsfähigkeit.» Wer die Potenziale der KI nicht nutze, habe gerade im internationalen Kontext einen klaren Wettbewerbsnachteil, der sich auch über die Zeit noch einmal verstärken und potenzieren werde, sagt Geilsdörfer.
«Die KI verändert viele Geschäftsmodelle und ist damit auch Chance und Risiko zugleich für bestehende Wirtschafsunternehmen, und der Einsatz von KI in Wissenschaft und Forschung an einem Standort bietet uns die Chance, uns als führender Akteur in der globalen Wissenschafts- und Technologielandschaft zu stärken.» Man habe exzellente KI-Forschung in Europa. «Diese Vorreiterroller müssen wir nutzen, damit auch die Unternehmen von dieser exzellenten Forschung profitieren können», so Geilsdörfer weiter. «Daher ist es unser grosses Anliegen, die Translation dieser exzellenten Forschung in konkreten Mehrwert für Wirtschaft und Gesellschaft zu fördern und stets mitzudenken.»
Mehrwert durch Strahlkraft
Viele wichtige KI-Entwicklungen kommen derzeit aus den USA – wie will man da mithalten? «Gerade in Deutschland und in der Schweiz haben wir einen ausgeprägten Mittelstand und viele Weltmarktführer und damit viel Expertise bei Hochtechnologien», sagt Geilsdörfer. «Die Bedeutung in Europa bekommen wir dann, wenn wir die neusten technologischen Entwicklungen mit dem Fachwissen aus den verschiedenen Bereichen zusammenbringen und sie mit Anwendungsfällen und Wertschöpfungsketten unserer Weltmarktführer für einen konkreten Business-Value weiterentwickeln.»
Weltmarktführer und Startups sollen hier eng zusammenarbeiten können. «Gerade Startups bieten häufig auch für etablierte Unternehmen eine Möglichkeit, mit dem Thema KI zu starten, die neusten technologischen Lösungen zur Verfügung gestellt zu bekommen und sich mit externem Expertenwissen im Bereich KI weiterzuentwickeln», sagt Geilsdörfer. «Und für Startups bietet die Zusammenarbeit mit etablierten Unternehmen die Möglichkeit, zusätzliches Branchenwissen zu erhalten.» Daher fördert man in Heilbronn ein florierendes Startup-Ökosystem mit den Campus-Founders sowie den TUM Venture Labs, und man möchte auch am IPAI ein grosses Startup-Center verankern.
Bei solchen Formen und Orten mit engem Austausch ortet Geilsdörfer Potenzial. «Denn wir sehen, dass der Hype um KI immer noch da ist – aber es viele Unternehmen noch nicht schaffen, in diesem Masse auch finanzielle Mehrwerte zu generieren.» Es gebe viele MVPs (Minimum Viable Products) und Proofs of Concept, aber die Skalierung erfordere noch eine Weile. «Daher ist es unser grosses Anliegen, die Translation der exzellenten Forschung, die wir in Europa haben, in konkreten Mehrwert für Wirtschaft und Gesellschaft zu übersetzen und stets mitzudenken», betont Geilsdörfer. «In Heilbronn schaffen wir hierfür ein exzellentes und vernetztes Ökosystem, das aufgrund dieser Mehrwerte und Möglichkeiten immer mehr internationale Strahlkraft entwickelt.»
Auch die Forschung verändert sich
Auf die kommenden langfristigen Veränderungen stimmt man sich hier bereits ein. «Es gibt nur sehr wenige Bereiche – sowohl beruflich als auch privat – die nicht durch KI beeinflusst oder verändert werden», zeigt sich Geilsdörfer überzeugt. «Auch die Lehre und Forschung wird sich in den nächsten Jahren grundlegend ändern – mit ganz neuen Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen zur Umgestaltung der Lern- und Lehrmethoden.»
Kreative Zerstörung
Der Kampf um die Ressourcen rund um das Thema künstliche Intelligenz weist mehrere Elemente auf. Offensichtlich ist jener um die begehrten Chips von Nvidia – Vertreter der ETH Zürich hatten Anfang 2024 erfreut darauf hingewiesen, dass man sich für das grosse Rechenzentrum in Manno (TI) 15’000 Prozessoren der jüngsten Generation gesichert habe. Dann gibt es den Kampf um die Talente. Laut einem Bericht des «Economist» verschärft sich hier die Konkurrenz zwischen westlichen Ländern. Weiter werden Strom und Wasser zur knappen Ressourcen. Die Analystinnen und Analysten der Investmentbank Jefferies wiesen kürzlich darauf hin, dass vorwiegend Wasser für die Kühlung der Serverschränke, in denen die Nvidia-Chips verbaut sind, verwendet wird. Dieses Wasser wird zunehmend knapp – selbst Regionen, in denen es ausreichend regnet, weil die Rechenzentrenbetreiber mit weiteren Verbrauchern konkurrieren.
Offen ist, ob und wie mächtig diese Treiber auch in Zukunft wirken werden – und ob die jetzt entstehenden Zentren nach 2035 noch ihre Rolle spielen werden. Die grossen Techunternehmen wie Microsoft, Meta oder Amazon entwickeln Alternativen zu den Nvidia-Prozessoren. Aufstrebende KI-Hubs locken mit Steuervergünstigungen. In den Entwicklungsabteilungen grosser Unternehmen und ungezählter Startups arbeitet man an «Post-Transformer-Architekturen»: Die KI-Modelle, die Anwendungen wie Chat GPT zugrunde liegen, sollen künftig viel weniger Energie und Prozessorenleistung benötigen. Und das berühmte Diktum von Joseph Schumpeter zur «kreativen Zerstörung» wirkt auch hier: Sprachmodelle eignen sich vortrefflich für die raschere Entwicklung von Computer- und auch KI-Codes. Nach 2030, 2035 könnten neuste Modelle die nächsten Anwendungen eigenständig programmieren. Die Arbeiten, die jetzt in den KI-Zentren angesiedelt werden, könnten dann in die Tech-Outsourcing-Länder verlegt werden. (mn)
Dieser Artikel erschien am 10. Oktober 2024 im Lucerne Dialogue Magazine, der Zeitschrift der Dialogplattform Lucerne Dialogue.