Ich erreiche Florin Müller per Videoschaltung bei seinem Zwischenstopp in Neu-Delhi. Der Leiter des Swiss Business Hub von Switzerland Global Enterprise (S-GE) reist gerade mit alt Bundesrätin Ruth Metzler-Arnold, Präsidentin von S-GE, für elf Tage durch Indien, Nepal und Bhutan. Eine königliche Audienz, zahlreiche Treffen mit Ministern und hochrangigen Regierungsvertretern und Expertinnen und Experten von internationalen Finanzinstitutionen, zahllose Empfänge sowie Treffen mit rund zwanzig Privatunternehmen. Müllers Job: Schweizer Unternehmen beim Markteintritt in Indien zu unterstützen.
Nach sechzehnjährigen komplizierten Verhandlungen war die Freude im März gross: Die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens (FHA) in Delhi zwischen den Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (Schweiz, Island, Liechtenstein und Norwegen) und Indien, dem bevölkerungsreichsten Land der Welt, ist ein Meilenstein der schweizerischen Handelspolitik. Den Efta-Staaten ist es gelungen, als erster europäischer Partner ein Freihandelsabkommen mit Indien abzuschliessen. Der Schweiz-interne Ratifikationsprozess im Parlament ist angelaufen, wenn alles gut geht, wird das Abkommen im Herbst 2025 in Kraft treten.
Zahlreiche Vorteile
Müller nennt die Vorteile des Abkommens: «Das FHA wird der Schweizer Wirtschaft gegenüber ihren Konkurrenten – besonders jenen aus der EU – für den Moment einen wichtigen Wettbewerbsvorteil ermöglichen. Indien gewährt der Schweiz einen verbesserten Marktzugang durch Zollerleichterungen im Warenverkehrsbereich für knapp 95 Prozent der bisherigen Exporte aus der Schweiz (ohne Gold) beziehungsweise für über 95 Prozent der bisherigen Exporte von Industrieprodukten.»
Insgesamt können die Schweizer Exporteure in dem historisch sehr protektionistischen Land von jährlichen Zolleinsparungen von bis zu 166 Millionen Franken profitieren. Aktuell sind Zollsätze um die 20 Prozent fällig. Schweizer Uhren werden künftig komplett zollbefreit. Auch für einen Grossteil der Maschinen fallen die Zölle weg.
Mit dem Fallen der Zölle erhalten Schweizer Unternehmen insbesondere bei Ausschreibungen bessere Chancen, zum Zuge zu kommen. «Schweizer Produkte sind für ihre Qualität bekannt, aber das hat ihren Preis. In Ausschreibungen wird die Qualität häufig nicht genug geschätzt und primär auf den Preis geschaut», so Müller. Kurioses Beispiel: Ein namhafter Schweizer Rohrspezialist kam bei einer Ausschreibung wegen zu hoher Preise bei einem Hochhausprojekt in einem ersten Schritt nicht zum Zuge. Aber auf der Baustelle merkten die Ingenieure bald, dass die verwendeten Rohre der gewählten Produzenten nicht gut genug waren, und kamen zurück zum Schweizer Anbieter.
Worauf sollten Unternehmen, die in Indien durchstarten wollen, besonders achten? «Das Allerwichtigste ist, den richtigen Partner zu finden», sagt Müller. «Auch wenn es ein paar Monate länger dauert, rate ich Unternehmen immer, sorgfältig vorzugehen.» Er hat mittlerweile monatlich rund zehn Anfragen von Firmen aus der Schweiz, die sich nach einem Markteintritt erkundigen. Aber wie den richtigen Partner finden? «Mit unserem Netzwerk in Indien können wir vielen Unternehmen helfen und wir empfehlen nur Partner, die sorgfältig ausgewählt wurden», so Müller. Bis zu einem halben Jahr kann so eine Suche schon einmal dauern. Als Beispiel für eine jüngste Partnerschaft nennt er den Schweizer Reinigungsroboter-Hersteller Cleanfix. In gemeinsamer Suche fand sich eine Chemiefirma, die Reinigungsmittel produziert. Ein perfektes Match.
Beispiel ABB
ABB ist schon lange in Indien tätig: Die Firma blickt auf eine mehr als hundertjährige Geschichte in Indien zurück und beschäftigt heute mehr als 10’000 Mitarbeitende. «Mit fünf Produktionsstandorten bieten wir das branchenführende Automations- und Elektrifizierungsportfolio von ABB an», sagt Sanjeev Sharma, Länderchef und Managing Director von ABB in Indien. Die Geschäfte laufen bestens: «In den letzten drei Jahren verzeichnete ABB Indien ein Wachstum von jährlich 27 Prozent samt einer gesunden Margenausweitung», so Sharma. Er ergänzt: «ABB begrüsst die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens zwischen Indien und der Schweiz. Dies geschieht zu einer Zeit, in der Indien sich in verschiedenen aufstrebenden Sektoren wie Elektronik, Rechenzentren und anderen Spitzentechnologien profilieren will.»
Florin Müller muss weiter, der nächste Empfang in Neu-Delhi mit Vertreterinnen und Vertretern von privaten Unternehmen steht an. Was ihn damals am meisten überrascht hat, als er nach Indien kam, einem Land, das er vorher nur als Tourist kannte? «Man darf sich Indien nicht als homogenes Land vorstellen. Es gibt 28 Bundesstaaten mit grossen kulturellen Unterschieden und verschiedenen Sprachen. Es ist ein grosses Abenteuer, hier zu leben, und das Land bietet Unternehmen trotz den Herausforderungen grosse Chancen.»
Dieser Artikel erschien am 10. Oktober 2024 im Lucerne Dialogue Magazine, der Zeitschrift der Dialogplattform Lucerne Dialogue. Deren Jahresanlass, das Annual Meeting, findet am 27. und 28. November 2024 im KKL statt.