Bundesrat Beat Jans vergleicht die Schweiz mit zwei bekannten Kindergeschichten: Einerseits mit dem Film «Kevin – Allein zu Haus», in dem sich der kleine Kevin gegen Einbrecher wehren muss. Anderseits mit der Comicserie «Asterix», in der römische Legionen das gallische Dorf umzingeln. Tollpatschig seien die Römer – und auch eher unbeholfen die Einbrecher. Jans fragt rhetorisch aus Schweizer Sicht: «Entspricht das nicht auch ein bisschen unserem europäischen Selbstbild?»

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Dass Jans diese beiden Filme als Vorlage nimmt, kommt nicht von ungefähr. Das Motto des diesjährigen Lucerne Dialogue Annual Meetings im KKL am Vierwaldstättersee dreht sich um «Home alone». Die Begleitfrage der europäischen Businesskonferenz lautet: «Was müssen wir tun, um nicht mit einer europäischen Wirtschaft aufzuwachen, die allein dasteht und nicht in der Lage ist, ihre Ansprüche zu erfüllen?»

Der Präsident von Lucerne Dialogue, Marcel Stalder, will mit dem Forum «in Zeiten der Trennung zwischen den Generationen, zwischen Ost und West, zwischen links und rechts eine Brücke bauen». Europa sei gefordert von erstarkenden rechtspopulistischen Parteien, mit dem Ukraine-Krieg oder dem Brexit. Aber Europa habe eine Chance: «Das Rückgrat einer jeden Supermacht ist wirtschaftliche Stärke. Europa ist stark», so der Präsident, «es muss sich nur zusammenschliessen.»

Bundesrat plädiert für EU-Verhandlungen

Doch damit hadert Europa. Und die Schweiz. Oder wie der Eröffnungsredner Beat Jans im Anschluss an seine Einleitung mit den zwei Kindergeschichten sagt: «Ich habe den Eindruck, dass die Schweizerinnen und Schweizer mit einer gewissen Schadenfreude auf Europa schauen.» Wenn immer etwas im Umland nicht gut laufe, nehme man das gerne als Beweis, dass es gut sei, dass die Schweiz nicht in der EU ist.

Doch: «Die Schweiz ist kein gallisches Dorf. Wir werden nicht von Römern belagert, und wir haben keinen Topf mit Zaubertrank!» Die Lage der Schweiz und die gemeinsamen Grenzen mit europäischen Staaten veränderten das Verhältnis fundamental. Man hänge mittendrin, teile ein gemeinsames Strom-, Strassen- und Schienennetz. Die Schweiz sei die zentrale Schaltstelle einer Infrastruktur, die zig Länder und Personen mit Energie versorge.

Bundesrat Beat Jans am Lucerne Dialogue

Bundesrat Beat Jans am Annual Meeting von Lucerne Dialogue: «Es gibt eigentlich niemanden, der ein grösseres Interesse an einer starken Gemeinschaft haben sollte als die Schweiz.»

Quelle: Lucerne Dialogue

Die EU sei – und vor allem bleibe sie es bis sicher 2050 – die wichtigste Kundin für Schweizer KMU und Grosskonzerne. Tausende Arbeitskräfte pendelten aus der EU in die Schweiz. «Wir sind eingebettet in eine nachbarschaftliche Schicksalsgemeinschaft», so Beat Jans. Und folgert daraus: «Es gibt eigentlich niemanden, der ein grösseres Interesse an einer starken Gemeinschaft haben sollte als die Schweiz.»

Das nutzt er, um auf die laufenden Gespräche mit der EU hinzuweisen: «Geregelte Beziehungen zur EU sind für uns wirtschaftlich enorm wichtig. Noch haben wir Zugang, aber hindernisfrei ist er nur noch beschränkt.» Die Verhandlungen seien intensiv, man verhandle hart. Aber: «Eine Einigung ist im Interesse beider Seiten.»

Politico-Chef malt ein düsteres Bild

Auf Jans folgt auf der Bühne Jamil Anderlini. Sein gesamtes rechtes Bein ist geschient, er bewegt sich schwerfällig. Doch mit spitzer Zunge legt der Chefredakteur von Politico mit allem anderen als Optimismus los: «Ich glaube, wir stehen am Rande einer radikal neuen Weltordnung, in Zeiten des Krieges. Und es wird noch schlimmer werden!»

Anderlini, gebürtiger Amerikaner und Neuseeländer, arbeitete lange für die «Financial Times». Er war Peking-Korrespondent der «South China Morning Post» und Chefredakteur der «China Economic Review». Heute lebt er in Brüssel. Analog zu seinen Positionen betrachtet er Europa aus europäischer, chinesischer und amerikanischer Sicht:

Politico-Chef Jamil Anderlini

«Politico»-Chef Jamil Anderlini: «Europe is in big trouble.»

Quelle: Lucerne Dialogue

Für ihn stehe Europa aktuell ideenlos und ohne Vertrauen da. Tagtäglich folgten Meldungen weiterer Massenentlassungen, und das Herz der europäischen Industrie sei in der Rezession. Dazu kämen schwache Führungspersonen in Deutschland oder Frankreich, während Europa durch Brexit oder Populismus weiter auseinanderdrifte. Nur gerade Giorgia Meloni erhält ein halbwegs positives Attest von ihm. Sie sei eine scharfsinnige und unglaublich mächtige Politikerin, die nicht nur in Italien signifikante Veränderungen anstosse, sondern auch in Brüssel. Seine Ausführungen zu Europa beendet er trotzdem mit: «Europe is in big trouble.»

Aus chinesischer Perspektive betrachtet bedeute Europa nicht viel. Die Annahme sei, dass Europa die Stärke fehle, dass es leicht zu spalten sei. Und aus amerikanischer Sicht sagt Anderlini, dass der jüngst wiedergewählte Präsident Trump, salopp gesagt, Europa hasse.

Seine Wahl sei ein radikaler Schock gewesen für Europa – was wiederum das einzig Gute an der Wahl sei. Denn für Anderlini ist ein solcher Schock die einzige Möglichkeit, dass Europa, vor allem aber Deutschland, den Sturzflug stoppe und unter Zugzwang stehe, sich um Dinge zu kümmern, die getan werden müssen – wie etwa finanzielle Ausgaben für die Verteidigung.

Zum dritten Mal betont Anderlini, dass schwierigere Zeiten kommen werden. Und schliesst seine Rede dafür mit «einer optimistischen Note»: In China, Russland und Nordkorea sei es noch schlimmer.

Rahmenabkommen versus Bilaterale

Den Abschluss des ersten Abends des Annual Meetings bestritten die beiden Unternehmer Simon Michel und Marco Sieber. Ypsomed-Chef Michel plädierte für die bilateralen Beziehungen zur EU. Siga-Chef Sieber auf der anderen Seite gehört zum Komitee, das jüngst die Kompassinitiative lancierte, die die Anbindung Berns an Brüssel erschweren will.

Simon Michel und Marco Sieber auf der Bühne des Lucerne Dialogues

Simon Michel und Marco Sieber auf der Bühne des Lucerne Dialogue Annual Meetings – eine Einigung war nicht in Sicht.

Quelle: Lucerne Dialogue

In je neunzig Sekunden legten die beiden Wirtschaftsvertreter ihre Sicht dar. Sieber sagt, er müsse grundsätzlich für das – wie er es nennt – «Rahmenabkommen» sein, doch davon, so Sieber, profitierten nur wenige. Er sehe eine überbordende Bürokratie auf Schweizer KMU zukommen, die Schweiz werde in der Folge an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Aus seiner Sicht bezahlt die Schweiz einen zu hohen Preis, der nur Probleme bringt.

Michel hingegen hält fest, dass gute Nachbarschaft das Zusammenleben ausmache und dass die – in seinen Worten – «Bilateralen» nachbarschaftliche Verträge seien. Die müssten, genau wie Software oder andere Verträge, regelmässig upgedatet werden. Sonst folge eine Erosion.

Eine Einigung fanden diese zwei Herren auf der Bühne nicht, beide blieben auf ihrem Standpunkt bestehen. Derweil sass Bundesrat Ignazio Cassis am gleichen Mittwochabend mit dem Vizepräsidenten der EU-Kommission, Maroš Šefčovič, in Bern zusammen, um die Verhandlungen mit der EU voranzutreiben.