Wer den Begriff «Lehmbau» hört, denkt an malerische Oasenstädte wie die Altstadt von Timbuktu oder die Wüstenstadt Schibam im jemenitischen Wadi Hadramaut. Mit moderner Architektur bringt man das Material Lehm hingegen kaum in Verbindung. Total zu Unrecht, finden Lehmbauexperten wie Felix Hilgert, der sich seit fünf Jahren intensiv mit dem Thema auseinandersetzt. In Sachen Nachhaltigkeit steht Lehm gemäss dem ETH-Bauingenieur ganz vorne.
Der Baustoff hat seiner Meinung nach viel mehr Vor- als Nachteile: «Lehmbauten sind natürliche Räume, sie sind atmungsaktiv und regulieren die Luftfeuchtigkeit besser aus als herkömmliche Materialien.» In erster Linie schont das Bauen mit Lehm aber die Ressourcen. Eine Eigenschaft, die nicht zu unterschätzen ist bei der Erstellung von Gebäuden. Denn deren Unterhaltung und die Entsorgung am Ende der Nutzungsdauer sind verantwortlich für 40 Prozent der verbrauchten Energie und so verursachten Treibhausgasemissionen.
Verwenden statt entsorgen
Im Architekturbüro Boltshauser in Zürich befasst sich Felix Hilgert jeden Tag mit Lehmbauprojekten. Er sagt von sich: «Lehm ist meine Profession und meine Leidenschaft.» Er ist zudem wissenschaftlicher Mitarbeiter an der ETH Zürich sowie Inhaber und Gründer der Firma Lehmag. Einer der Hauptgründe für das Verwenden von Lehm ist für ihn, dass das Material beim Bauen sowieso ausgehoben wird. «Wir graben die ganze Zeit Keller, Tunnels und Strassen und bringen den lehmigen Aushub in Deponien, um ihn zu entsorgen, statt ihn wiederzuverwenden.»
Die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft mit den Ressourcen umgeht, grenzt für ihn an Arroganz. «Gleichzeitig ist Beton in der Herstellung für 8 Prozent der CO₂-Emissionen verantwortlich, und wir machen uns Gedanken, wenn wir in den Urlaub fliegen, was nicht halb so viel CO₂ verursacht.» Mit welchen Baustoffen wir bauen, ist daher ein grosser Hebel für die Nachhaltigkeit. «Oft wird Lehm mit Beton verglichen, oder es wird kritisiert, dass sich Lehm nicht als Baustoff für Fundamente eignet», sagt Hilgert. «Aber auch von Holz wird nicht erwartet, dass man es als Fundament einsetzen kann.»
Um Lehm sinnvoll zu verwenden, müsse man verstehen, wie Lehm funktioniert. Am meisten Sinn mache der Einsatz von Lehm im Innenausbau, weil er für ein angenehmes Raumklima sorgt. Selbst für druckbelastete Aussenwände würde sich Lehm eignen – vorausgesetzt, man schützt sie vor viel Wasser und Umwelteinflüssen. Felix Hilgert: «Wenn man sich richtig um den Gebäudeunterhalt kümmert, ist der Lehm ein dauerhafter Baustoff.» Selbst wenn die Lebensdauer eines Lehmgebäudes am Ende ist, löse sich der Lehm auf und tue der Umwelt keinen Schaden.
Ricola hat für die Fassade des Kräuterzentrums in Laufen den Werkstoff Lehm gewählt.
Wie dauerhaft Lehm als Baumaterial sein kann, zeigen 200 Jahre alte Häuser in der Ostschweiz. Den wenigsten Menschen ist heute noch bewusst, dass Lehm hierzulande während Jahrhunderten für den Häuserbau genutzt wurde. Seither ist er etwas in Vergessenheit geraten. Deshalb fehlen dem Material gemäss Hilgert im Vergleich zu konventionellen Materialien auch 150 oder 200 Jahre Entwicklung, was ein Nachteil ist.
«Die aktuelle Bauindustrie ist es nicht mehr gewohnt, mit Lehm zu bauen. Wir müssen von ganz vorne anfangen, was das Verständnis und das Wissen betrifft», bestätigt Tobias Bucher, Marktentwickler bei Erne Holzbau. Für den Erweiterungsbau ihres Bürogebäudes im aargauischen Stein hat sich die Holzbaufirma anstelle von Beton punktuell für das Baumaterial Stampflehm entschieden. Das verwendete Material für die Treppenhaus- und Nasszellenkerne stammen aus dem Aushub des Neubaus.
«Lehm kann Wärme und Feuchtigkeit aufnehmen und abgeben, der Schallschutz und die Akustik sind gut, und er gilt als nicht brennbar», erklärt Tobias Bucher. Beim Erweiterungsbau setzte Erne Holzbau erstmals einen Stampfroboter ein, der die anstrengende Handarbeit übernahm und das Material gleichmässig verdichtete. Das Ziel war, zu demonstrieren, dass das traditionelle Material auch digital geplant und industriell verarbeitet werden kann. Tobias Bucher: «Es könnte sein, dass es bei der Nachfrage nach Lehmbaustoffen plötzlich einen Anstieg geben wird, wenn es neue gesetzliche Regulierungen gibt.»
Schon heute müsse man teilweise mit dem Baugesuch bereits ein Rückbaukonzept einreichen. Auch Ricola hat für die Fassade des Kräuterzentrums in Laufen den Werkstoff Lehm gewählt. Damit will der Bonbonhersteller sein Bekenntnis zum ökologischen Handeln und zur Ressourceneffizienz unterstreichen. Die Entscheidung, die Laufener Stampflehmelemente direkt vor Ort von der Firma Lehm Ton Erde Baukunst herstellen zu lassen, reduzierte die Transportwege und die Umweltbelastung und sparte im Vergleich zu herkömmlichen Baustoffen viel graue Energie ein.
Höhere Kosten
«Die Lehmfassade schafft perfekte klimatische Bedingungen für die Lagerung und Verarbeitung der Kräuter», erklärt Sandra Kunz, Head Corporate Communications von Ricola. Dies führe im ganzen Jahr zu einem geringeren Klimatisierungsbedarf und trage zu einer vorteilhaften Energiebilanz bei. Die im Vergleich zu herkömmlichen Baustoffen etwas höheren Kosten sieht Ricola dabei als Investition für das Engagement für Qualität und Nachhaltigkeit des Unternehmens.
Trotz diesen positiven Beispielen machen Lehmbauten in Mitteleuropa erst einen Marktanteil von weniger als 1 Prozent aus. Dabei lebt ein Drittel der Weltbevölkerung in Lehmbauten. «Aber in Marokko verlassen die Menschen die Lehmstädte und ziehen in Häuser aus Zement und Backsteinen, weil sie so leben wollen wie wir», sagte Felix Hilgert. Im Sommer würden sie sich dann im Lehmgebäude im Garten aufhalten, weil es im neuen Haus zu heiss oder nicht komfortabel ist.
Hilbert hat die Erfahrung gemacht, dass sich in der Schweiz viele für das Thema Lehmbau interessieren, dass aber noch zu wenig getan wird: «Es wird von ‹Bauwende› gesprochen und geschrieben, doch wenn man sich umschaut, was gerade auf den Baustellen passiert, sind wir weit davon entfernt.» Durch die Teuerung und die Inflation könnte der ökologische Lehmbau seiner Ansicht nach in den nächsten Monaten und Jahren zudem unter Druck kommen und weniger gefragt sein. Es bleibt die Frage, ob die Baubranche dem Lehm zukünftig mehr Aufmerksamkeit schenkt. Es würde sich lohnen.