Mitte Mai 2024 kostete ein europäisches Emissionskompensationszertifikat 75 Euro. Zwölf Monate zuvor musste man noch 104 Euro dafür bezahlen. Seit März 2023 sind die Preise für diese Zertifikate laufend gefallen. Mit ihnen belohnt man in Europa die Unternehmen, die ihre Treibhausgasemissionen reduzieren, und belastet finanziell jene, die das nicht machen. Der vorläufige Tiefstand wurde im März 2024 bei 52 Euro erreicht. Eine gewisse Dynamik bei der Preisbildung hatte sich erst Ende 2021 eingestellt – die grossen Ölunternehmen, Versorger, energieintensive Industriefirmen und neuerdings auch die Reedereien müssen ihre Emissionen damit finanziell ausgleichen.
Zu den Käufern und Käuferinnen der Zertifikate gehören neben einigen Privatanlegenden, die aufgrund des jüngsten Preiszerfalls bei ihren aus den «richtigen» Zertifikaten abgeleiteten Retailderivaten manche böse Überraschung erlebt hatten, auch institutionelle Investoren. Diese nutzen die Emissionszertifikate als Beimischung in ihren grossen Portfolios. Emissionszertifikate reagieren – theoretisch – weniger empfindlich auf Makroentwicklungen wie Zinsen und Inflation.
In der Praxis sieht es anders aus: Laut dem Branchendienst S&P Global Commodity Insights führte der Mix von flauer Konjunktur, schwacher Stromnachfrage und mildem Winter zum Preiszerfall bei den Emissionszertifikaten. Zudem hatten starke Westwinde, die durch den El-Niño-Effekt verstärkt wurden, bei den europäischen Windanlagen zu einer Rekordstromproduktion geführt. Dies wiederum führt dazu, dass in Europa weniger Strom mit Kohle produziert werden musste. Die Folge: Grosse Versorger benötigten weniger Zertifikate für die Kompensation ihrer Stromproduktion.
El Niño versus Politik
So politisch unterlegt die Einführung des Emissionskompensationshandels ist, so politisch ist auch die Umsetzung. Der Weg zur emissionsarmen Zukunft soll in Europa ohne grosse Ausschläge und halbwegs berechenbar erfolgen. Als die Zertifikatspreise zwischen 2022 und Februar 2023 von 30 auf gegen 100 Euro pro Tonne stiegen, sprachen Industrielobbyistinnen und -lobbyisten in Brüssel vor – sie wollten eine Preisdeckelung nach oben bewirken (die EU-Verantwortlichen winkten ab). Als zuvor die Zertifikatspreise aufgrund der Covid-19-Pandemie einbrachen und viele Unternehmen weniger Zertifikate benötigten, wurden Marktstabilitätsreserven und Löschmechanismen eingeführt, um zu verhindern, dass Emissionen nur zeitlich verschoben, aber nicht grundlegend reduziert werden. Hinzu kommt der europäische Grenzausgleichmechanismus. Der wird zwar erst 2026 eingeführt, aber am Markt stellt man sich bereits heute auf die neue Situation ein, bei der Produkte wie Stahl aus dem Nicht-EU-Raum mit Zuschlägen belegt werden, um die Kostennachteile aufgrund der CO₂-Emissions-Kompensationspflicht europäischer Unternehmen auszugleichen.
In einem Zwischenbericht stellte die EU-Kommission im Herbst 2023 fest, dass die Emissionszertifikatemärkte tatsächlich zu einer Reduktion der Emissionen führen. Die Volumina im europäischen Emissionshandel stiegen vergangenes Jahr gegenüber den Vorjahren um 40 Prozent. Laut den Analysten von ABN Amro verbessern sich auch die Rahmenbedingungen. Der Anteil der zu kompensierenden Gesamtemissionen, der bisher bei 40 Prozent lag, wird 2025 auf 70 Prozent und 2026 auf 100 Prozent steigen, weil nach der Schifffahrt auch die Landwirtschaft der Kompensationspflicht unterstellt wird. Wirksam werden solche Effekte jeweils erst ein, zwei Jahre später.
Bereits rascher dürfte laut Analystinnen eine Trendwende bei den Zertifikatspreisen einsetzen. Wie bei anderen Märkten wird hier vor allem die zukünftige Entwicklung gehandelt – und da dürften Zinssenkungen der Notenbanken die Konjunktur in Europa anschieben. Auch die El-Niño-Situation, die für einen rekordwarmen Winter in Mitteleuropa gesorgt hat, wird auslaufen. Allein der Rückgang auf durchschnittliche Wintertemperaturen wird 2025 für eine höhere Nachfrage nach Energie sorgen. Es ist offen, ob und wie gut der Markt die überschüssigen oder nicht mehr benötigten Zertifikate absorbiert, die in den kommenden Monaten angeboten werden – denn auch hier spielt die Politik eine wichtige Rolle.