Besitzt Europa in naher Zukunft noch «Weltpolitikfähigkeit»? Diese Frage stand im Zentrum des Referates von Günther Oettinger am diesjährigen Zentralschweizer Wirtschaftsforum. Der ehemalige EU-Kommissär Deutschlands rüttelte die Zuhörerinnen und Zuhörer auf. Er skizzierte sachlich, humorvoll, aber unmissverständlich ein globales Netzwerk, in dem Europa auf dem Prüfstand der Geschichte steht. Die Fakten sprechen eine deutliche Sprache: Gemessen an der Bevölkerungszahl ist die chinesische Metropole Schanghai bereits heute grösser als die Schweiz, Österreich und Baden-Württemberg zusammen. Im Jahr 2050 wird die Bevölkerung Europas nur noch 5 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Die technologischen Standards der Zukunft werden mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht im Westen definiert. Damit sich Europa auf der Weltbühne Gehör verschafft, brauchen die europäischen Staaten dringend Allianzen, Netzwerke und ein innenpolitisch koordiniertes Vorgehen. Etwa im Bereich der Forschung, um bei den technologischen Entwicklungen den Anschluss nicht zu verlieren. Oder auch hinsichtlich einer langfristigen Energiepolitik, damit Infrastrukturprobleme bei der Energieversorgung behoben werden.

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Ohne diese Allianzen und ohne gemeinsames Vorgehen bleibt Europa machtpolitischer Spielball anderer Weltmächte. Ein Europa mit glorreicher Vergangenheit und politischen Institutionen, aber ohne Einfluss und Wirkung. Wer nicht am Tisch sitzt, steht auf der Speisekarte.

Die Schweiz hat bezüglich «Weltpolitikfähigkeit» wenig Ambitionen. Doch wir sind Teil Europas, und somit stellt sich für uns eine andere Frage: Besitzt die Schweiz in Zukunft noch «Europapolitikfähigkeit»?

Die EU ist mit Abstand der wichtigste Handelspartner der Schweiz. Dabei handeln wir mit dem europäischen Wirtschaftsraum im Glauben, dass wir in diesem Markt gleichberechtigt mit den anderen Mitgliedsländern teilnehmen dürfen. Ohne die Spielregeln Europas zu übernehmen. Das sieht die EU anders. Diese Situation gefährdet das schweizerische Erfolgsmodell und unseren Wohlstand. Konkret ist etwa die gegenseitige Anerkennung von sogenannten Konformitätsbewertungen (Mutual Recognition Agreements, MRA) nicht mehr sicher. Diese Regelungen vereinfachen den Export, indem in der Schweiz zertifizierte Produkte auch im EU-Binnenmarkt zugelassen sind. Regelungen, die unter den aktuellen Gegebenheiten zunehmend wegfallen. Dies hat zur Folge, dass zahlreiche Produkte zusätzlich in der EU zugelassen werden müssen. Entsprechend sind Investitionen und Arbeitsplätze nicht mehr in der Schweiz, sondern in den europäischen Niederlassungen unserer Unternehmen zuzuordnen. Die Medtech-Branche hat mit dem Wegfall dieser gegenseitigen Anerkennung erste Erfahrungen gemacht. Weitere Branchen, allen voran die Baubranche, werden in Kürze folgen. Es ist daher höchste Zeit, dass die Schweiz wieder auf die Beziehungspflege mit der EU fokussiert. So bleiben wir Teil des EU-Binnenmarktes. Staaten haben bekanntlich keine Freunde, sondern Interessen. Deshalb muss die Schweiz den Austausch mit ihren Nachbarstaaten suchen und Allianzen schmieden. Auch sie haben Interesse an einer funktionierenden Beziehung zwischen der EU und der Schweiz.

Ohne diese Allianzen und ohne gemeinsames Vorgehen bleibt die Schweiz den Entscheiden der EU ausgeliefert. Souverän und autonom, aber ohne Einfluss und Wirkung. Wer nicht am Tisch sitzt, steht auf der Speisekarte.

Nun obliegt es nicht den Zentralschweizer Kantonen, alleine über die Schweizer Politik zu bestimmen. Doch wir sind Teil der Schweiz, und somit stellt sich für uns eine andere Frage: Besitzt die Zentralschweiz in Zukunft noch «Bundespolitikfähigkeit»?

Auch die Zentralschweiz muss sich Gehör verschaffen für ihre regionalen Anliegen. Zum Beispiel im Bereich der Infrastrukturprojekte: Die Zentralschweiz benötigt dringend den Durchgangsbahnhof in Luzern. Dieser stellt die Weichen für eine verbesserte Erreichbarkeit unserer Region. Der Durchgangsbahnhof löst regionale, nationale und internationale Verkehrsprobleme, indem er direktere, häufigere und schnellere Verbindungen im S-Bahn-System der Region Luzern und im Fernverkehr ermöglicht. Der Weg zum positiven Entscheid des Bundes für das Projekt ist steinig. Auch Kantone und Regionen haben keine Freunde, sondern Interessen. Deshalb braucht auch die Zentralschweiz neben der regionalen Geschlossenheit dringend starke Allianzen und Netzwerke über unsere Region hinaus, etwa mit den Regionen entlang der Nord-Süd-Achse. So verhelfen wir dem Jahrhundertprojekt zum Durchbruch.

Ohne diese Allianzen und ohne gemeinsames Vorgehen verliert die Zentralschweiz als Wirtschafts- und Lebensstandort an Bedeutung. Föderalistisch und mit kantonaler Autonomie, aber ohne Einfluss und Wirkung. Wer nicht am Tisch sitzt, steht auf der Speisekarte.

Allianzen, Netzwerke und Kooperationen entscheiden über die Zukunft unserer Gesellschaft. Es ist verlockend, lediglich den Wohlstand zu verwalten und mit einer sturen, nach innen gerichteten Nabelschau auf bessere Zeiten zu hoffen. Der schlimmste Feind einer guten Zukunft ist die schöngeredete Gegenwart. Deshalb müssen wir vermehrt auf unterschiedlichen Ebenen Allianzen schmieden, Netzwerke pflegen und Risiken eingehen. Setzen wir uns dafür ein, wieder am Tisch zu sitzen, um nicht auf der Speisekarte zu landen.