Die Hobbits sind ein unscheinbares, aber sehr altes Volk, das früher zahlreicher war als heute; denn sie schätzen Ruhe und Frieden und den wohlbestellten Boden: Sie wohnten am liebsten in kleinen Gemeinden zwischen Äckern und Weidegründen.» So beginnt J. R. R. Tolkien sein Epos «Herr der Ringe». Ob Tolkien bei den Hobbits an die Schweiz gedacht haben mag? Während der ewige Kampf zwischen Gut und Böse tobt, sind die Hobbits irgendwo am Rand dabei – und doch mittendrin. Klein, wenig spektakulär, unscheinbar – und doch mit erstaunlichem Einfluss. Wie die Schweiz.
So hat die Schweiz wie das Auenland der Hobbits den Ruf eines sicheren und friedlichen Landes, das eine hohe Lebensqualität bietet. Und wie die Hobbits schätzen auch wir unsere Unabhängigkeit. Mit Blick auf die Schweiz beschrieb der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann diese globale Unbekümmertheit in eigenen Worten: «Bergler sind wir, Bewohner von Höhlen, geborene Verteidiger. Das ist unsere Grösse und unsere Beschränktheit.» So neigen wir dazu, uns primär um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern zu wollen und uns wenig in die Angelegenheiten der Welt ausserhalb unseres Landes einzumischen, ausser die Umstände erfordern es unbedingt.
Wir sind es gewohnt, dass wir verschont bleiben von Machtkämpfen und Katastrophen, die sich ausserhalb unseres Landes abspielen. Wir profitieren, da andere für uns die geopolitischen Probleme lösen. Weltpolitik? Wir konzentrieren uns auf unsere Probleme im Inland und hoffen, dass wir in den Wirrungen auf der Weltbühne unsere Verbündeten gewinnen. Der Sonderfall Schweiz, ein Erfolgsmodell aufgrund unserer Unversehrtheit, die stets mit wirtschaftlichem Erfolg einherging. Wir brauchen dazu eine Ordnung, bei der internationale Organisationen nicht die Macht haben, den Staaten vorzuschreiben, was sie tun sollen – sie aber dennoch von Handlungen zurückhalten können, die besonders kleineren Staaten schaden. Oder ganz einfach ausgedrückt: Besonders erfolgreich und stabil ist ein internationales System, in dem kleine Staaten wie die Schweiz atmen können und nicht zum Spielball der Grossmächte werden.
Eingebettet in ein solches globales System ist es uns in der Vergangenheit stets gelungen, unsere Abhängigkeiten intelligent zu bewirtschaften. Das bedeutet Souveränität. Und so überrascht es nicht, dass kein anderes Land grössere globalisierungsbedingte Einkommensgewinne pro Kopf erzielt hat. Die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich kommt mit ihrem Globalisierungsindex zum Schluss: Die Schweiz ist das globalisierteste Land der Welt.
Vor diesem Hintergrund wirkt auch die Frage nach dem richtigen Mass an Zuwanderung zweischneidig. Denn ohne ausreichende Zuwanderung in den Schweizer Arbeitsmarkt ist unser Wohlstand und die damit verbundene Wohlfahrt nicht auf dem aktuellen Niveau haltbar. Die Zuwanderung über die Personenfreizügigkeit erfolgt zu rund 80 Prozent direkt in den Arbeitsmarkt. Es kommen wichtige und gut ausgebildete Fachkräfte in die vom Arbeitskräftemangel besonders betroffenen Berufe. Anstatt Angst vor der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt zu schüren, wäre es angebracht, die wertvollen ausländischen Fachkräfte in unseren Unternehmen und den Erfolg der Schweiz als Exportnation nicht nur zu anerkennen, sondern zu feiern.
Unser Erfolg als kleine, global agierende Markt-wirtschaft blieb nicht unbemerkt. Das tolkiensche Auenland im Voralpenbogen wird oft beneidet. Als offene, global vernetzte Marktwirtschaft beeindrucken wir im internationalen Vergleich durch unser demokratisches System und unseren Rechtsstaat, die geprägt sind von Werten wie Sinn für Unabhängigkeit, Eigenverantwortung, föderale Strukturen, persönlicher Unternehmensgeist und eine Vorliebe für freiwilliges Handeln, gepaart mit einem gesunden Mass an Misstrauen gegen Macht und Autorität.
«Es ist eine gefährliche Ideologie, die uns in den Ruin treibt.»
Doch wie in Tolkiens Werk ist nicht nur das Auenland der Hobbits, sondern auch unsere heile Voralpenwelt unter Druck. Das Selbstverständnis einer autonomen, souveränen und gegen internationale Verwerfungen immune Schweiz bröckelt. Gelang es uns in den vergangenen Jahrzehnten gut, uns unter dem Radar der Grossmächte zu positionieren, wird dies zunehmend schwierig. Das Hochfahren von Zöllen und internationalen Steuerregimes sowie die politische Salonfähigkeit von protektionistischen Massnahmen im In- und Ausland stellen die Schweiz vor existenzielle Herausforderungen.
Mittels ungeschminkter Machtpolitik soll das Rad der Globalisierung zurückgedreht werden. Wie risikoaverse Hobbits scheinen grosse Teile der Bevölkerung diese Entwicklung zu begrüssen, denn die Globalisierung hat ein Imageproblem: Das Bewusstsein für die Vorteile der Globalisierung fehlt. Die Idee einer autonomen Schweiz, die sich in Abgrenzung von der internationalen Staatengemeinschaft im voralpinen Reduit selbstgefällig, mit ruhigem ökologischem, ökonomischem und sozialem Gewissen als Selbstversorgerin behauptet, ist dabei noch viel mehr als die romantische Utopie von Tolkiens Auenland. Es ist eine gefährliche Ideologie, die unsere Gesellschaft in den Ruin treibt. Trendige Pop-up-Stores mit Produkten aus der Region, Lastenvelos für den Warentransport, Urban Gardening für die Lebensmittelversorgung und Coworking-Spaces für inländische Dienstleistungen sind Elemente unserer Wirtschaft. Sie reichen aber bei weitem nicht aus, um Wohlstand und Wohlfahrt zu erhalten. Für eine prosperierende Wirtschaft und einen ausgebauten Sozialstaat müssen wir in einem ersten Schritt unsere globale Vernetzung und die damit einhergehenden Abhängigkeiten wieder wahrnehmen und anerkennen, um sie intelligent bewirtschaften zu können.
Nehmen wir deshalb unser Schicksal selber in die Hand. Weg von der Fata Morgana des idyllischen Auenlands. Es nützt uns nichts, die Augen vor den aktuellen globalen Realitäten zu verschliessen, die sich bald auch bei uns auswirken. Wir müssen wie Tolkiens Protagonisten den Mut haben, die Gefahren für unsere Gesellschaft zu erkennen, zu akzeptieren und uns proaktiv zu verhalten. Stärken wir unsere Widerstandskraft, anstatt auf ein uns wohlgesinntes Schicksal zu vertrauen. Weg vom übertriebenen Streben nach Sicherheit und der Pflege der innerschweizeri-schen Beschaulichkeit. Wir irren uns, wenn wir unsere Sicherheit durch einen starken Staat, Klientelpolitik und eine immense Umverteilungs-maschinerie garantieren lassen wollen. Eine Politik der Freiheit für den Einzelmenschen bleibt die einzig echte Politik des Fortschritts.
Falls sich Tolkien für sein Werk von Schweizer Eigenschaften und Tugenden beeinflussen liess, ist zu hoffen, dass wir uns nun ein Beispiel an seinen Romanhelden nehmen. Zeigen wir wie Frodo und seine Gefährten Entschlossenheit, wenn es darauf ankommt. Sie waren trotz ihrer friedliebenden Art überraschend widerstandsfähig und mutig. Sie zerstörten den Ring der Macht, Sauron und Mordor. So wehrten sie die Bedrohung der Freiheit der Völker Mittelerdes ab. Während Tolkiens Epos rund um die Geschehnisse in Mittelerde fantasievolle Fiktion darstellen, sind unsere Herausforderungen nüchterne Realität.
Im schlechtesten Fall opfern wir mit einem verklärten Innenblick auf dem Altar der Sicherheit den demokratischen Rechtsstaat, individuelle Eigenverantwortung und unternehmerisches Risiko. Oder ganz einfach unsere Freiheit. Im besten Fall gelingt es uns, als weltoffene, fortschrittsbegeisterte, innovative, leistungs- und wettbewerbsorientierte Volkswirtschaft weiterhin weltweit für unsere freiheitlichen und humanistischen Werte bewundert zu werden. Wir haben die Wahl.