Andersens Märchen «Des Kaisers neue Kleider» ist aktueller denn je. Menschen nehmen beschönigende Worte oft unkritisch an. Wie der Kaiser, der unsichtbare Kleider trägt, um nicht dumm zu erscheinen. Die Betrüger im Märchen behaupten, ihre Kleidung sei nur für jene unsichtbar, die ihres Amtes nicht würdig oder dumm seien. Alle Minister und der Kaiser loben die Stoffe – bis ein Kind ruft: «Aber er hat ja gar nichts an!»

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Die EU und ihre Regulierungsflut

Ähnlich verhält es sich mit der heutigen Gesetzgebung. So formuliert die EU ehrgeizige Ziele – etwa die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit oder den ersten klimaneutralen Kontinent zu schaffen. Doch statt auf bewährte marktwirtschaftliche Instrumente zu setzen, greift sie immer mehr zu Bürokratie, Regulierungen und Planwirtschaft. Wie im Märchen applaudieren wir oft unkritisch diesen neuen «kaiserlichen Regulierungskleidern», statt nüchtern die Realität zu betrachten. Denn die Realität ist anders: Viele dieser Regulierungen wirken nicht wie geplant, sondern erschweren die wirtschaftliche Entwicklung und schränken den Wettbewerb und Fortschritt ein.

Regulierungen ohne Bezug zur Realität

Die EU produziert ein stetig wachsendes Regelwerk, das für Unternehmen und Staaten zu einer immer grösseren Belastung wird. Beispiele dafür sind die Datenschutzgrundverordnungen, der Green Deal, das Lieferkettengesetz oder der AI Act. Diese Regulierungen haben oft wenig Bezug zur unternehmerischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit und sind in Bezug auf ihre Wirksamkeit fragwürdig. Wie das Kind im Märchen müssen wir immer wieder feststellen: «Aber da ist ja gar nichts dran.» Doch wer das ausspricht, läuft Gefahr, wie im Märchen als unwissend oder rückständig zu gelten. Gleichzeitig schlittert Europas Wirtschaftsmotor Deutschland in eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise.

Adrian Derungs

Adrian Derungs

Quelle: PD
Adrian Derungs

Adrian Derungs ist Direktor der Industrie- und Handelskammer Zentralschweiz IHZ in Luzern.

Die Auswirkungen auf die Schweiz

Diese Regulierungen betreffen auch die Schweiz. Sie erschweren es uns, die EU zu mögen. Dies, obwohl wir klare und stabile Beziehungen zu einem geeinten Europa dringend benötigen und anstreben. Besonders die wachsende Bürokratie belastet die Wirtschaft: Um all die Vorgaben einzuhalten, die wir oft noch mit einem strengeren «Swiss Finish» umsetzen, brauchen wir immer mehr Expertinnen und Experten in Unternehmen und Verwaltungen. Das führt zu einer Beratungs-, Monitoring- und Compliance-Kultur, welche die Wirtschaftsleistung hemmt, ohne Produkte oder Dienstleistungen zu verbessern. Einzig die Kosten für Unternehmen steigen. Auch hier lohnt sich der Blick nach Deutschland, um die Folgen dieser Kultur abzuschätzen.

Es ist daher kein Wunder, dass die Produktivität in ganz Europa stagniert. Zwischen 2007 und 2022 wuchs sie im Euroraum jährlich nur um 0,7 Prozent, in der Schweiz um 0,9 Prozent. Im Zeitraum von 2000 bis 2007 verzeichneten wir ein anderthalb Mal so hohes Wachstum. Früher war die Schweiz weltweit führend in der Arbeitsproduktivität. Heute jedoch werden die Renditen aus Innovationen durch bürokratische Vorgaben aufgezehrt.

Europa als umfassender Regulator

Während in den USA und anderen Teilen der Welt Unternehmen bedeutenden Freiraum haben, innovativ und unternehmerisch zu handeln, gefällt sich Europa in der Rolle des umfassenden Regulators. Diese Regulierungsflut hindert nicht nur Europa, sondern auch die Schweiz daran, voranzukommen. Viele Staaten setzen auf Industriepolitik, Staatsverschuldung und Subventionswettbewerb. Der ehemalige Schweizer Bundesrat Kaspar Villiger brachte es jüngst in einem Zeitungsartikel auf den Punkt: Hätten die linken Parteien mit ihrer Bagatellisierung von Schulden und der Heiligsprechung von Staatsausgaben recht, wäre die EU längst der «wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt» geworden. Das Ziel der Lissabon-Strategie, genau dies zu erreichen, wurde klar verfehlt.

Die wachsende Staatsverschuldung in Europa

Neben der Bürokratie ist auch die wachsende Verschuldung in Europa ein grosses Problem. Viele EU-Staaten, darunter auch Frankreich und Deutschland, ignorieren die vertraglich festgelegten Schuldenobergrenzen – ohne Konsequenzen. David Ricardo, ein britischer Ökonom des 18. Jahrhunderts, brachte es schon damals auf den Punkt: «Staatsschulden von heute sind die Steuern von morgen.» Die Last dieser Schulden werden die nächsten Generationen tragen. Das ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit. Und die Regierungen in Europa produzieren weiterhin neue «kaiserliche Kleider», statt bestehende Probleme zu lösen.

Auch die Schweiz muss in den Spiegel schauen

Der Fingerzeig auf die unzureichende Regulierungspolitik in Europa ist berechtigt. Aber es lohnt sich auch ein kritischer Blick auf uns selber. Auch in der Schweiz verschärfen wir beispielweise die Nachhaltigkeitsberichterstattungen, führen Lohngleichheitsanalysen mit zweifelhaftem Nutzen durch und implementieren ein bürokratisches Investitionsprüfgesetz, das den Wirtschaftsstandort schwächt. Die Umsetzung der OECD-Mindeststeuer macht Subventionen in der Wirtschaft salonfähig und bläht den Staatsapparat weiter auf. Diese Liste könnte für viele weitere Politikbereiche fortgesetzt werden.

Wachsende Staatsausgaben und Personalbestand

Seit 1990 sind die Staatsausgaben in der Schweiz im Gleichschritt mit den Einnahmen gestiegen. Unsere Schuldenquote ist im internationalen Vergleich niedrig. Doch seit 2020 übersteigen die Ausgaben die Einnahmen. Zusätzliche Kosten – wie Klimasubventionen oder die 13. AHV-Rente – belasten das Budget. Trotz Schuldenbremse erwartet der Bundesrat deshalb in den nächsten Jahren strukturelle Defizite von mehreren Milliarden Franken. Eine Expertengruppe unter der Leitung von Serge Gaillard hat deshalb ein Entlastungspotenzial von bis zu 5 Milliarden Franken identifiziert. Angesichts eines Gesamtaufwands von bald 90 Milliarden Franken auf Bundesebene ist dies machbar und notwendig, wenn wir unseren nächsten Generationen einen nachhaltig finanzierten Staatshaushalt überlassen wollen. Besonders das Subventionsvolumen von rund 50 Milliarden Franken bietet viel Sparpotenzial – sofern der politische Mut dazu vorhanden ist.

Der Personalbestand des Staates wächst ebenfalls stetig. Zwischen 2013 und 2022 stieg die Zahl der Vollzeitstellen im öffentlichen Sektor um 15 Prozent, im privaten Sektor hingegen nur um 10 Prozent. Zudem sind die Löhne für vergleichbare Tätigkeiten in der Bundesverwaltung im Schnitt 12 Prozent höher als in der Privatwirtschaft.

Auch der Kanton Luzern kündigte kürzlich an, in den nächsten fünf Jahren 600 neue Stellen zu schaffen – ein Wachstum von fast 12 Prozent. Die Privatwirtschaft wird hier nicht mithalten können. Das sollte uns zu denken geben.

Brauchen wir wirklich diese «kaiserlichen Kleider»?

Es geht nicht darum, den Staat kleinzuhalten, sondern um ein ausgewogenes Verhältnis von Staatsausgaben und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Der Staat muss klare Rahmenbedingungen setzen und in zentrale Bereiche wie Infrastruktur, Sicherheit und Bildung investieren. Als Zivilgesellschaft sind wir gefordert, wie das Kind im Märchen den Staat kritisch zu hinterfragen. Bringen die regulatorischen Kleider, die wir uns nähen, tatsächlich Nutzen oder verursachen sie überwiegend Kosten?

Wenn wir nur «kaiserliche Kleider» produzieren, wird der Unterschied zur Wirklichkeit so gross, dass keine schönen Worte mehr ausreichen, um unsere Wunschszenarien von Innovation und Fortschritt, Wohlstand und Wohlfahrt aufrechtzuerhalten. Dann finden wir uns in der Rolle des Kindes im Märchen von Andersen, als es feststellt, dass der Kaiser keine Kleider trägt. In der Realität dürfte das Kind nach entsprechenden Wohlstandsverlusten trocken feststellen: «Reality hits you hard, bro».