Am Himmel über Paris glänzen die ersten Sterne. Wie beinahe jeden Abend setzt sich Gabrielle Chanel allein an ihren Ateliertisch. Neben sich Schälchen mit Perlen und offene Schubladen voller Edelsteine, Halbedelsteine und Motive aus Pâte de verre. In ihren Schatullen liegen prächtige Schmucksets – Geschenke des Duke of Westminster –, die sie bald geduldig auseinandernehmen wird. Ausgerüstet mit Werkzeug und einem Wachsblock, gestaltet sie neue Formen. Sie verbringt Stunden damit, Schmuck zu kreieren. Es sei das Einzige, was sie wirklich amüsiere, sagt sie über ihre «heimliche» Passion. Und wie in der Mode erfindet Gabrielle Chanel auch bei den Preziosen ihren eigenen Stil und ein neues Vokabular, mit dem sie die Geschichte der Chanel-Schmucktradition zu schreiben beginnt.
Chanels Vermächtnis liegt heute wohlbehütet unter der Place Vendôme Nummer 18. Mit dem Lift geht es nach unten in einen Raum, der ausschliesslich dem Erbe der Uhren- und Schmuckkreationen der Maison gewidmet ist und so elegant daherkommt wie das kleine Schwarze mit Perlenkette. Elfenbeinfarben lackierte, mit schwarzem Samt ausge-schlagene Schubladen be-decken die Wände. Manche sind mit Schmuck oder Uhren gefüllt, andere dienen rein dekorativen Zwecken, schliesslich sollen sich Besucherinnen und Besucher in einem begehbaren Schmuckkästchen wähnen.
400 Schmuckstücke zählt die Patrimoine-Sammlung aktuell. Darunter historische Stücke, Reproduktionen und Re-Editionen von Chanel-Schmuckstücken, die unter Zuhilfenahme von historischen Dokumenten oder Archivbildern hergestellt werden. Keine Mühen sind zu gross und keine Zeitspannen zu lang: Mitunter wartet das Schmuckatelier Jahre, um ein Stück fertigzustellen, zum Beispiel aus Mangel an passenden Steinen.
Aber auch Originale wie jene Comète-Brosche, die im Jahr 2000 von der Maison bei einer Auktion von Christie’s in Genf erworben wurde und nun eine Ikone der Chanel-Haute-Joaillerie ist, werden auf Samt gebettet. Sie entstammt der Kollektion Bijoux de Diamants, die Gabrielle Chanel 1932 entwarf. Es ist ihre erste und einzige Haute-Joaillerie-Kollektion. «Wenn ich den Diamanten gewählt habe, dann, weil er mit seiner Dichte den grössten Wert auf kleinstem Raum repräsentiert», notiert die Designerin in der Pressemappe zur Kollektion. Da die Kollektion den Grundstein zur Bijoux-Geschichte des Hauses legt, bestand die erste Aufgabe der Patrimoine-Abteilung darin, Stücke aus der Kollektion, die sich in privaten Sammlungen befanden, zu lokalisieren. Eine Detektivarbeit, da Chanel im Gegensatz zu anderen Häusern keine Zeichnungen, Gouachen oder Auftragsbücher aufbewahrt hatte. Zu diesem Ungemach kam hinzu, dass die unverkauften Stücke der Kollektion demontiert und die Diamanten an die Diamond Corporation Limited in London zurückgegeben worden waren. Diese hatte die Kollektion in Auftrag gegeben, um den Diamantenmarkt nach dem Börsenkrach von 1929 anzukurbeln. 340 Presseartikel, zahlreiche Fotos und archivierte Pathé-Wochenschauen später konnten 45 Personen identifiziert und kontaktiert werden. Doch von 47 in der Presse beschriebenen Schmuckstücken tauchten nur zwei wieder auf: besagte Comète- und eine Plume-Brosche, die nach wie vor in Privatbesitz ist. Welche Stücke verkauft und welche demontiert wurden, ist nicht bekannt. Grund genug für Chanel, zwischen 1993 und 2015 36 identische Neuauflagen von Originalstücken der Kollektion anzufertigen. Heute inspirieren sich die Haute-Joaillerie-Kollektionen und ihr Schöpfer Patrice Leguéreau, Direktor des Chanel-Schmuckateliers, an der Modernität und der Kühnheit von Gabrielle Chanel. So entstehen zeitgenössische Stücke, die manchmal als erste neue, kreative Themen bei Echtschmuck erkunden, wie den Löwen – Gabrielle Chanels Sternzeichen –, Tweed oder Chanels Glücksnummer 5, verewigt in einem Unikat, besetzt mit einem 55,55-karätigen Diamanten, dessen achteckiger Schliff den Verschluss des Flacons von Nº5 widerspiegelt.
Noch lange nachdem man den Ort verlassen und sich die Sicherheitstür wieder geschlossen hat, träumt man vom Duft und vom Glanz Chanels. Einst sagte die Modeschöpferin: «Bevor Sie das Haus verlassen, schauen Sie in den Spiegel und legen Sie ein Ding ab.» (Ihren) Schmuck kann sie damit unmöglich gemeint haben.