Jeden Monat leisten Arbeitnehmende und Arbeitgebende namhafte Beiträge an die 2. Säule. Dabei spart in einem kapitalgedeckten Vorsorgesystem jeder sein persönliches Alterskapital an, um im Alter seinen Lebensunterhalt finanzieren zu können. In der Schweiz beläuft sich das angesparte Kapital in der 2. Säule auf 876 Milliarden Franken, was ungefähr dem 1,3-Fachen des Bruttoinlandprodukts entspricht. Macht ein kapitalgedecktes Vorsorgesystem gesamtwirtschaftlich überhaupt Sinn, oder sparen wir zu viel? Ist das System aus makroökonomischer Sicht effizient, oder sitzen wir bereits auf einem zu grossen Kapitalstock? Diese Frage ist eng verbunden mit der Frage, wo das angesparte Kapital investiert wird. Aufgrund des Sicherheitsgedankens, der im Vorsorgesystem tief verwurzelt ist, wird das Kapital von den Pensionskassen relativ konservativ angelegt, was die Frage aufwirft, ob diese Anlagepolitik die Produktivität und die Innovationskraft der Wirtschaft lähmt.
In einem kapitalgedeckten Vorsorgesystem werden die Leistungen aus den Erträgen eines produktiven Kapitalstocks finanziert. Die Stärke und ökonomische Effizienz eines solchen Systems liegt deshalb im langfristigen Aufbau eines echten Kapitalstocks. Dazu zählt die Gesamtheit der produktiven Investitionen einer Volkswirtschaft respektive deren Nettovermögenswerte. Dazu gehören Aktien, Beteiligungen, produktive Kredite oder Immobilien. Risikolose Anlagen (Bundesobligationen) zählen nicht dazu. Denn diesen Forderungen stehen Schulden gegenüber, die in der Zukunft durch Steuern zu finanzieren sind. Würde das Vorsorgekapital ausschliesslich in öffentliche Anleihen investiert, wäre dies letztlich gleichbedeutend mit einer aufgeschobenen steuerlichen Finanzierung – also einem Umlageverfahren. Nur Investitionen in den echten Kapitalstock ermöglichen es, die Produktivität und Innovationskraft der Wirtschaft aufrechtzuerhalten.
Gibt es überhaupt ein Kriterium, das eine Beurteilung zulässt, ob das angesparte Vorsorgekapital gesamtwirtschaftlich angemessen ist oder nicht? Um es gleich vorwegzunehmen: Im Unterschied zu einer rein aktuarischen Betrachtung kann die Frage nur unter einer intergenerationellen Perspektive beantwortet werden; denn ein Kapitalstock im vorhergehenden Sinn ist auf mehrere Generationen angelegt. Mit einem kapitalgedeckten Vorsorgesystem spart man nicht nur für das eigene Alter, sondern schafft auch eine Finanzierungsbasis für zukünftige Generationen. Dies ist der entscheidende Beitrag der makroökonomischen Perspektive an ein kapitalgedecktes Vorsorgesystem. Daraus lässt sich unmittelbar ein Kriterium für den optimalen Kapitalstock einer Volkswirtschaft ableiten:
Ähnlich wie auf der Ebene einer einzelnen Vorsorgeeinrichtung gibt es auch auf gesamtwirtschaftlicher Ebene eine goldene Regel: Diese besagt, dass der Kapitalstock gesamtwirtschaftlich seine optimale Grösse erreicht hat, wenn das Wirtschaftswachstum mit der Kapitalrendite (kurz als «Zins» bezeichnet) übereinstimmt. Bei einem höheren Kapitalstock würde zu viel investiert, und die Kapitalrendite fiele unter das erwartete Wachstum. Dies ist eine Konsequenz des Gesetzes der abnehmenden Grenzproduktivität des Kapitals: Bei fortgesetzter Vergrösserung des Kapitalstocks und ohne produktive Innovationen erodieren die zusätzlich erwirtschafteten Erträge zunehmend.
Abbildung 1 veranschaulicht diesen Zusammenhang: Liegt der Zins über der Wachstumsrate, lohnt sich das Ansparen, da der Kapitalstock in produktive Anlagen investiert werden kann. Liegt dagegen der Zins unter der Wachstumsrate, kann das Geld nicht mehr produktiv angelegt werden. Der Kapitalstock ist zu hoch – man spricht von «Überakkumulation»; der heutige Konsumverzicht durch Sparen lässt sich durch den Kapitalertrag nicht mehr rechtfertigen. Die zukünftigen Generationen erben einen zu grossen Kapitalstock, und die damit erzielten Erträge sind zur Finanzierung der Renten ungenügend. Ein wahrer Teufelskreis entsteht, wenn die tiefe Verzinsung zu noch höheren Ersparnissen führt.
Basierend auf der goldenen Regel kann empirisch analysiert werden, an welchem Punkt sich die Schweiz befindet. Für die Analyse wird ein Anlagehorizont von zehn Jahren unterstellt. Abbildung 2 zeigt die Entwicklung der durchschnittlichen Lohnwachstumsrate sowie der Rendite des Pictet BVG 40 Index. Dieser widerspiegelt eine Anlagestrategie mit einem Aktienanteil von 40 Prozent, und die Renditen werden als Proxi für die Verzinsung des Kapitalstocks herangezogen. Man erkennt, dass zwar der Zins durchaus unter die Lohnwachstumsrate fallen kann, dass aber im zehnjährigen Durchschnitt der Zins durchgehend über der Lohnwachstumsrate liegt. Man findet keinen Hinweis, dass das Vorsorgesystem ineffizient wäre.
Aus Abbildung 2 geht hervor, dass der Zinssatz nur im Durchschnitt über der Lohnwachstumsrate liegt. Da das Vorsorgekapital risikobehaftet angelegt ist, sind die Renditen mit Risiken verbunden. Dies widerspricht jedoch dem Sicherheitsgedanken der 2. Säule. Allgemein wird erwartet, dass sie zusammen mit der AHV die Fortführung des gewohnten Lebensstandards ermöglicht. Daraus wird in der herrschenden Praxis ein Anspruch auf eine sichere Altersrente «in angemessener Höhe» abgeleitet.
Finanzökonomisch können sichere Leistungen nur garantiert werden, wenn das Kapital risikolos investiert wird. Gesamtwirtschaftlich macht es aus den obigen Gründen jedoch keinen Sinn, das Vorsorgekapital überwiegend in sichere öffentliche Anleihen zu investieren, ganz abgesehen davon, dass im aktuellen Zinsumfeld die Leistungsversprechen nicht mehr durch vertretbare Beiträge finanziert werden können.
Investieren die Pensionskassen das Kapital risikobehaftet, können sie nicht gleichzeitig sichere Renten garantieren und schon gar nicht kapitalmarktfremde Vorgaben – wie etwa den BVG-Mindestzinssatz – erfüllen. Dies führt zwangsweise zur Umverteilung von jung zu alt. Abbildung 3 veranschaulicht das Problem. Der garantierte jährliche Mindestzinssatz liegt bereits seit 1995 über der risikolosen Einjahresrendite von Bundesobligationen.
Ein zentraler Aspekt der Investitionstätigkeit wurde bis jetzt ausgeblendet: Die Kapitalrendite hängt nicht nur von der Grösse des Kapitalstocks ab, sondern auch von dessen Qualität: Durch Innovation kann die Produktivität erhöht werden, was zur Kapitalrendite beiträgt. Zudem leisten Innovationen einen entscheidenden Beitrag zur Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft und damit zum Wirtschaftswachstum. Innovation bietet die zentrale Voraussetzung dafür, einer Sparschwemme und der Gefahr einer Überakkumulation entgegenzutreten: Zur Sicherung des Wachstums und der Produktivität des Kapitalstocks zukünftiger Generationen sollte nicht primär mehr investiert werden, sondern mit einem langfristigen Fokus auf die Produktivität der getätigten Investitionen. Damit sind – erneut – erhebliche Anlagerisiken verbunden.
Deshalb müssen diese Entscheidungen vor dem Hintergrund der Risikoabwägungen jeder einzelnen Vorsorgeeinrichtung, ja jedes Destinatärs aufgrund seiner Risikobereitschaft erfolgen. Generelle staatliche Anreize und Zwang zu mehr Innovation sind wenig opportun, da sie schnell in politischen Opportunismus münden und die Eigenverantwortung der Einrichtungen und Destinatäre als Entscheidungsträger untergraben.
Ein kapitalgedecktes Vorsorgesystem lässt sich langfristig nur aufrechterhalten, wenn angemessene Renditen im Verhältnis zum Wirtschaftswachstum erzielt werden können: nämlich durch produktive Anlagen, nicht vermeintlich sichere Anlagen in Form von Schulden, die auf zukünftige Generationen überwälzt werden. Will man Umverteilungseffekte von jung zu alt nicht hinnehmen, ist es zwingend notwendig, vom Sicherheitsgedanken und von den damit verbundenen kapitalmarktfremden Vorgaben wegzukommen hin zu einer Risikokultur.
Aufgrund dieser Überlegungen investieren die Pensionskassen heute eher zu konservativ. Zumindest die freien Mittel einer Pensionskasse könnten unter diesem Gesichtspunkt durchaus innovativer angelegt werden. Wenn Risiken unvermeidlich sind, müssen die Destinatäre vermehrt Selbstverantwortung übernehmen und Entscheidungsmöglichkeiten bezüglich der Anlagepolitik erhalten. Ein solches Vorsorgesystem würde es erlauben, gleichzeitig in produktive, innovative Kapitalanlagen zu investieren, ohne gleichzeitig Umverteilungseffekte in Kauf zu nehmen.