Seit über vierzig Jahren arbeite ich ohne Unterbruch bei einer Bank. Da kam die Möglichkeit, für begrenzte Zeit in einem Startup neue Luft zu schnuppern, genau richtig», sagt Michael Meyer. Der 58-Jährige ist als Geschäftskundenbetreuer in einer Filiale der Zürcher Kantonalbank (ZKB) tätig und hat die Chance ergriffen, beim «Praktikum Arbeitswelt 4.0» mitzumachen. Das Weiterbildungsprogramm ermöglicht langjährigen Mitarbeitenden eines Unternehmens, vier Wochen in einem Startup zu arbeiten.
«Erfahrene Berufsleute werden mit neuen Arbeitsweisen, anderen Organisationsformen und oft ungewohnten Denkweisen konfrontiert. Sie erhalten neue Impulse, entwickeln ihre Denk- und Arbeitsweise weiter und tragen das Gelernte ins Unternehmen zurück», erläutert Andrea Keller. Sie ist Co-Projektleiterin bei Loopings, dem Kompetenzzentrum für Arbeit 45+, welches das «Praktikum Arbeitswelt 4.0» lanciert hat. Das Ziel dieses Programms ist darauf ausgelegt, dass alle Involvierten – Mitarbeitende, entsendende Unternehmen und Startups – profitieren.
Damit dies funktioniert, leitet Loopings den mehrstufigen Prozess und unterstützt die Teilnehmenden während des Programms. «Wir führen mit allen Beteiligten Gespräche, um Motivation, Ziele und Interessen herauszufiltern», erklärt Keller. Danach folgen das Matching und die Begegnung zwischen Kandidaten, Kandidatinnen und Startups. «Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Praktikantinnen und Startups sind weniger die fachlichen Kompetenzen ausschlaggebend als vielmehr die Chemie zwischen den Personen. Die muss stimmen», so Keller. Beim Banker Meyer hat die Chemie mit den beiden Co-CEO des Startups Sharely auf Anhieb gepasst. So trat Meyer sein Praktikum im November 2022 bei der digitalen Miet- und Vermietungsplattform an.
Der Praktikant
«Im Startup wollte ich lernen, wie ein Betrieb funktioniert, der nicht so eng reglementiert ist und mit weniger regulativen Vorgaben auskommt als eine grosse Bank», definierte Meyer eines seiner Ziele vorab. Wie das funktioniert, erlebte er gleich zu Beginn des Praktikums. Die beiden CEO hatten neben einer sorgfältigen Einführung in ihr Geschäft zwei Projektideen für ihn vorbereitet. Das Startup wollte bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung ein Mehrwertsteuer-Ruling vornehmen und hatte bisher keinen standardisierten Ablauf, um säumige Zahlerinnen und Zahler betreiben zu können. Dieser zwei Problemfelder nahm sich Meier gerne an. «Ich versuchte auch, die Plattform bekannter zu machen, indem ich auf Social Media meine Kontakte aktiv über Sharely informierte und mit Businesskunden sprach – eine meiner Kernkompetenzen bei der ZKB», sagt Meyer. «Aber das hier war ganz harte Knochenarbeit», so seine Bilanz. «Wenn man mit einer bekannten Marke wie der ZKB operieren kann, erleichtert das den Verkauf enorm. Das war mir vorher gar nicht so bewusst. Solche Aspekte weiss ich nun als Mitarbeiter der Bank noch mehr zu schätzen.»
Gleichzeitig habe er es genossen, ausprobieren zu dürfen – und wenn es nicht funktionierte, einen anderen Weg zu erproben. «Diesen Spirit des Machens und der Gelassenheit, wenn etwas nicht auf Anhieb funktioniert, konnte ich auf meinen Arbeitsplatz transferieren», sagt Meyer. «Wenn heute Hindernisse oder Formalismus im Team auftauchen und sich jemand darüber aufregt, rufe ich das Codewort ‹Sharely›, und alle wissen, dass wir es lockerer nehmen, uns nicht aufregen, sondern einfach machen müssen.»
Das Team geniesst im Startup eine zentrale Bedeutung –und das ist eindrücklich.
Sehr beeindruckt hat Meyer die Haltung der beiden CEO: «Der respektvolle Umgang miteinander ist ihnen sehr wichtig. Sie achten darauf, dass jedes Teammitglied seine Meinung äussern und seine Stärken einbringen kann.» Dieses Vorbild an Offenheit und Führungsverständnis in einem kleinen Team habe ihn inspiriert und sein eigenes Führungsverhalten verändert. «Ich verstand mich früher stärker als Leader, der den Weg vorgibt, heute führe ich noch partizipativer. Das ist zwar arbeitsintensiver, dafür erfolgversprechender.»
Die zentrale Bedeutung, die das Team im Startup geniesst, erlebte Meyer bei einem Ereignis, das er als «prägend» beschreibt: dem Weihnachtsessen. «Wir haben auf der eigenen Plattform einen Racletteofen gemietet und in den Büros in bescheidenem Rahmen ein grossartiges Beisammensein genossen.» Damit das ganze Team zusammen feiern konnte, habe Sharely sogar die serbischen Programmierer einfliegen lassen. «Für mich zeigte dieses Beispiel, dass Sharely alle seine Mitarbeitenden gleichwertig behandelt und schätzt und dass dies für die Zusammenarbeit wichtig ist.»
Auf Herausforderungen beim Praktikum angesprochen, fällt Meyer nur eine ein: «Ich finde zwar die Businessidee von Sharely gut, aber bei Startups schwingt immer eine Unsicherheit mit, ob sie sich etablieren können.» Trotz Zweifeln habe er während seines Praktikums die Firmenstrategie mitgetragen.
Das Fazit von vier Wochen Praktikumsarbeit beim Startup fällt positiv aus: «Ich bin gelassener und lockerer geworden und ein noch zufriedenerer Mitarbeiter als früher. Ich bin der Bank sehr dankbar, dass sie dies ermöglicht hat», sagt Meyer. Als stabile Bank biete ihm die ZKB eine hohe Arbeitsplatzsicherheit. Dass er sich Ende Monat keine finanziellen Sorgen machen müsse, trage zu seiner Zufriedenheit am Arbeitsplatz bei. «Als wenig risikofreudiger Mensch wäre die existenzielle Unsicherheit, mit der die Mitarbeitenden im Startup leben, nichts für mich», gesteht Meyer. Umso mehr sei er beeindruckt gewesen, mit wie wenig Mitteln, kleinem Budget und kleinem Team, aber grossem Engagement und Leidenschaft die Sharely-Mitarbeitenden ihr Ziel verfolgen.
Das Startup
«Wir hatten keine konkreten Erwartungen und nur vage Vermutungen, wo uns Michael als Praktikant unterstützen könnte», sagt Ivo Kuhn, Co-CEO von Sharely. Das Startup machte 2022 zum ersten Mal bei «Praktikum Arbeitswelt 4.0» mit und freute sich über eine zusätzliche Arbeitskraft. «Michael sollte an Aufgaben arbeiten, bei denen er sich wohlfühlt und die gleichzeitig ein bisschen ausserhalb seiner Komfortzone sind, damit er etwas lernt», erläutert Kuhn das Vorgehen. Dank seinem Wissen und seinem Netzwerk habe Michael für sie einige Aufgaben erledigt, die sie aus Zeitmangel immer wieder aufgeschoben hätten.
Grundsätzlich sei auch die Arbeitseinstellung von Meyer sehr nützlich gewesen: «Er hat sich proaktiv Arbeiten gesucht, wenn gerade niemand von uns Zeit hatte, ihm etwas zu erklären.» Dabei habe er auch Geräteauslieferungen oder Einkäufe erledigt und die Kaffeemaschine zusammengebaut. «Allerdings mussten wir ihm anfangs auch erklären, dass ‹Praktikant› nicht bedeute, dass er Kaffee holen oder die Küche putzen müsse», sagt Kuhn. «Dafür waren uns seine Arbeitskraft und sein Wissen zu wertvoll. Ausserdem unterscheiden wir nicht zwischen Managementjob und Praktikantenjob, bei uns lösen alle die Aufgaben, für die sie gerade Zeit haben.»
Die Zusammenarbeit habe problemlos funktioniert. Einzig zu Beginn gab es eine Herausforderung: «Ich musste herausfinden, wie viel ich ihm vom digitalen Business erklären musste. Er brauchte auch einen Crashkurs für unsere Projektmanagementtools. In diesem Bereich merkte ich den Generationenunterschied zwischen Michael und digitalnativen Praktikanten. Aber seine digitalen Kompetenzen sind sehr schnell gestiegen.» Allerdings profitierte Sharely auch vom Generationenunterschied. «Michael ist im selben Alter wie viele unserer Nutzerinnen und Nutzer auf der Plattform», erläutert Kuhn. «Durch ihn haben wir einen anderen Blick auf unsere User bekommen und gemerkt, dass nicht alles, was für uns selbstverständlich ist, es auch für eine andere Generation ist.»
Für Kuhn ist ihr Experiment mit «Praktikum Arbeitswelt 4.0» durchwegs geglückt, Meyer habe frischen Wind gebracht und sie menschlich wie fachlich unterstützt. Er ist überzeugt, dass es für diesen Erfolg zwei Voraussetzungen gab: «Damit die Zusammenarbeit für beide Seiten erfolgreich ist, braucht es Offenheit in den Aufgaben und im Denken und nicht steife Vorgaben und Vorstellungen.» Und: «Wir gehen mit allen Mitarbeitenden so agil um, wie wir auch das Startup führen, denn jeder und jede Mitarbeitende ist nur so gut wie die Freude, die er oder sie an der Aufgabe an den Tag legt.»
«Praktikum Arbeitswelt 4.0»
Programm von Loopings Das Kompetenzzentrum für Arbeit 45+, Loopings, begleitet Firmen und Personen ab der Lebensmitte auf dem beruflichen Weg. Für Startups ist die Teilnahme kostenlos, sie investieren aber Zeit für die Betreuung der Praktikanten und Praktikantinnen. Unternehmen beteiligen sich mit 4900 Franken an der Organisation und Begleitung durch Loopings und bezahlen ihren Mitarbeitenden während des Praktikums den normalen Lohn. Gemäss Co-Projektleiterin Andrea Keller setzen Unternehmen so ein Zeichen, dass sie in die Weiterbildung ihrer langjährigen Mitarbeitenden investieren. Zudem profitieren sie von den vielfältigen Erfahrungen und Erlebnissen der zurückkehrenden Mitarbeitenden. Insgesamt haben bisher zwanzig Praktikantinnen und Praktikanten aus den verschiedensten Unternehmen am Praktikum teilgenommen, darunter die ZKB, die jährlich Mitarbeitende im Rahmen ihres Weiterbildungsansatzes ins Praktikum schickt.