Fortschritte in der Big-Data-Analytik, der künstlichen Intelligenz und im Internet der Dinge (IoT) verändern die Versicherungsbranche und die Rolle von Daten in dieser Branche grundlegend. Neue Quellen digitaler Daten, zum Beispiel in sozialen Netzwerken oder von Telematikgeräten, offenbaren Informationen über Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Lebensstile. Diese ermöglichen es, individuelle Risiken besser als je zuvor zu bewerten.

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Was sind mögliche Szenarien für die Entwicklung der Versicherungswirtschaft in diesem neuen, digitalen Zeitalter? Was bedeuten diese Szenarien für die Versicherer, für die Konsumenten und für die ökonomische Wohlfahrt insgesamt? Und welche politischen Anliegen müssen – je nach Szenario – aus wirtschaftlicher, rechtlicher oder auch ethischer Sicht behandelt werden? Diese Fragen werden in einer neuen Studie der Geneva Association («Big Data and Insurance») diskutiert, die in Zusammenarbeit mit dem I.VW-HSG und der Universität Zürich entstanden ist. Ausgewählte Resultate der Studie wurden jüngst auf dem Future Talk 3/2018 des I.VW-HSG präsentiert und mit etwa 100 Teilnehmenden aus der Versicherungswirtschaft diskutiert.

 

Fünf Szenarien

In der Studie werden fünf Szenarien definiert und es werden die möglichen Auswirkungen auf Konsumenten, Unternehmen und die Gesellschaft insgesamt aufgezeigt. Zudem werden offene Fragen und Bedenken, auch im Hinblick auf eine mögliche politische Diskussion, angesprochen. Die fünf Szenarien werden nachfolgend kurz beschrieben:

 

Szenario 1: «The digital society»

Das erste Szenario zeichnet sich durch freien Fluss und offenen Zugriff auf Daten aus. Versicherungs- und Technologieunternehmen haben gleichberechtigten Zugang zu einem breiten Spektrum an Daten und können diese ohne Einschränkung in ihre Entscheidungsprozesse einbinden. Zu den neuen, erweiterten Daten zählen etwa Informationen zu Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Lebensstile bis hin zu erweiterten gesundheitsbezogenen Informationen.

 

Szenario 2: «Digital backlash»

Das zweite Szenario ist der Gegenpol zum ersten Szenario. Hier wird vor dem Hintergrund einer restriktiven Regulierung die Verwendung erweiterter Daten in der Versicherung verhindert, sowohl für etablierte Versicherer wie auch für neue Marktteilnehmer. Auf den ersten Blick mag sich dann für die Versicherer nichts ändern. Aber man darf hier nicht übersehen, dass die Konsumenten gegebenenfalls über bessere Informationen verfügen und es so zu einer verstärkten Negativselektion kommen kann. Entsprechende Diskussionen sind bereits aus der Nutzung von Gentests für die Risikoselektion bekannt.

 

Szenario 3: «Insurance at two speeds»

In diesem Szenario sind Technologieunternehmen im Besitz erweiterter Daten, den Versicherern wird hingegen der Zugang verwehrt. Wer Zugriff auf Daten hat, kann diese ohne Einschränkungen für Entscheidungsprozesse nutzen. Hier werden zwei Unterszenarien definiert. In einem ersten Unterszenario haben wenige Versicherer durch eine exklusive Kooperation mit Technologieunternehmen Zugang zu Daten, aber andere Versicherer nicht. Im zweiten Unterszenario degenerieren Versicherer zu reinen Risikoträgern, die nur noch Kapital für das Pooling der Risiken bereitstellen. Andere Geschäftsprozesse werden hier von Technologieunternehmen in einem virtuellen Netzwerk organisiert.

 

Szenario 4: «Data protection»

In Anbetracht einer exzessiven Datennutzung greifen Regulierungsbehörden in diesem Szenario ein, um bestimmte Daten zu schützen. In einem Unterszenario versuchen die Behörden, Diskriminierung von Versicherungsnehmern auf Basis neuer Daten um jeden Preis zu verhindern. In einem anderen Unterszenario versuchen Regulierer jegliche Form der Beeinflussung des Versicherungsnehmers zu verhindern. In einem dritten Unterszenario wenden die Behörden einen Null-Toleranz-Ansatz für den Missbrauch persönlicher Daten unter Androhung hoher Strafen an.

 

Szenario 5: «A tale of trust»

In diesem Szenario sind die Konsumenten nicht mehr länger bereit, ihre privaten Daten (wie gesundheitsbezogene Informationen) mit Technologieunternehmen zu teilen. Versicherungsunternehmen können sich als «sicheren Hafen» für Daten etablieren, haben aber allesamt identische Bedingungen in Bezug auf den Zugriff zu den Daten.

 

Impulse von aussen

Im Rahmen des Future Talk wurde die Relevanz der Szenarien im Rahmen einer Live-Befragung zur Diskussion gestellt. Konkret wurde gefragt, welches der fünf Szenarien die Teilnehmer für am wahrscheinlichsten halten. Das Szenario «insurance at two speeds» wurde dabei – wie oben angedeutet – in zwei Unterszenarien eingeteilt. Das Szenario «Data Protection» wurde hingegen als Ganzes zur Diskussion gestellt.

Die Resultate zeigen eine gewisse Skepsis im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit der traditionellen Assekuranz. Denn das Szenario «insurance at two speeds» nimmt mit 62 Prozent mit Abstand die höchste Wahrscheinlichkeit ein (siehe Grafik). Dabei erachten 40 Prozent der Teilnehmer eine exklusive Kooperation zwischen einem Technologieplayer und einen grossen Versicherer für am wahrscheinlichsten, gefolgt von der Rolle der Versicherer als reine Risikolagerhäuser (22 Prozent). Beide Szenarien würden erhebliche Umwälzungen für die Branche mit sich bringen, denn heute sind allein in der Schweiz noch über 100 Versicherer tätig, die in der Regel mehr als 80 Prozent der Wertschöpfung im eigenen Haus abbilden. Im Szenario «insurance at two speeds» würde sich sowohl die Anzahl der Marktteilnehmer wie auch die Wertschöpfungstiefe deutlich reduzieren.

13 Prozent der Teilnehmer halten vor dem Hintergrund der zunehmenden Datennutzung eine regulatorische Antwort für wahrscheinlich, die in bestimmter Form die Nutzung der Daten einschränkt. 11 Prozent können sich sogar das vollständige Verbot der Nutzung erweiterter Daten vorstellen. Das Szenario «A tale of trust», in dem sich die Versicherer als sicherer Hafen für Daten etablieren können, wird mit 4 Prozent als am unwahrscheinlichsten bewertet.

Insgesamt zeigt die Diskussion damit, dass die Datennutzung eine der Schlüsselfragen für die Weiterentwicklung der Assekuranz in den kommenden Jahren darstellt. Manager wie Regulierer sollten ein Augenmerk auf die Interaktion der Branche mit den Technologieunternehmen sowie auf die Bereitschaft der Kunden, ihre Daten zu teilen, legen.

 

PROF. DR. MARTIN ELING ist Lehrstuhlinhaber und Direktor am Institut für Versicherungswirtschaft I.VW der Universität St. Gallen.