Medien zählen zu den frühen Betroffenen der digitalen Disruption. Kaum eine andere Branche hat die Auswirkungen der Digitalisierung so schnell, radikal und folgenreich zu spüren bekommen wie Buch, Musik, Zeitungen, Zeitschriften, Kino und Fernsehen. Besonders das Fernsehen erlebte einen fundamentalen, inzwischen oft existenzbedrohenden Umbruch. Erst gerieten die Zuschauerzahlen unter Druck durch die Videotheken, dann durch den Postversand von DVDs, dann durch den Download von Filmen und schliesslich durch die Einführung von Streaming.

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Es war eine technische Veränderung auf einem weit entfernten Gebiet, das mit Fernsehen eigentlich nichts zu tun hatte, welche das Fernsehen bis ins Mark erschütterte: Die schnell fortschreitende Digitalisierung der Telekommunikation führte zu einem rapiden Preisverfall des Datenverkehrs, und dieser wiederum machte die Echtzeitübertragung von Bewegtbildern innerhalb weniger Jahre so preiswert, dass Streaming sich wirtschaftlich zu lohnen begann. Es waren jedoch nicht die Fernsehsender, die jenen technischen Fortschritt zu ihrem Vorteil in Stellung brachten, sondern es waren Disruptoren wie Netflix.

Keese Gastkommentar

Der Gastautor

Christoph Keese ist Verwaltungsratspräsident von World.Minds sowie Unternehmer und Unternehmensberater aus Berlin. Der Autor von sechs Büchern schreibt monatlich in der «Handelszeitung».

Vor allem Reed Hastings, Gründer und CEO von Netflix, verstand mit seinem Team als Erster, welche Folgen diese technische Veränderung für das Programm haben würde. Sie ermöglichte den Ausbruch aus dem linearen Schema. Programmdirektor konnte künftig jeder einzelne Zuschauer, jede einzelne Zuschauerin sein – eine Einsicht, der sich die traditionellen Programmdirektoren in den klassischen Fernsehsendern lange verschlossen. Der Wandel vom linearen zum nonlinearen Fernsehen wiederum bedeutete, dass die Inhalte nicht mehr den kleinsten gemeinsamen Nenner des Publikums bedienen mussten, sondern eine breite Auffächerung bis in die allerkleinsten und allerexotischsten Spezialinteressen erlaubten. Und das wiederum wurde dankbar von einem Publikum aufgenommen, das vorher gar nicht wusste, wie sehr es sich insgeheim nach Spezialprogrammen und kreativen Innovationen gesehnt hatte.

Streaming hat die Welt erobert. Jetzt setzt die Branche zu einer neuerlichen Wandlung an, die dem traditionellen Fernsehen schon bald die Geschäftsgrundlage entziehen könnte: Sie nehmen Werbung an. Viele Jahre lang war Streaming werbefrei. Nun aber haben alle grossen Anbieter ausser Apple TV+ Werbung aufgenommen. Sie verkaufen ihrer Kundschaft jetzt zwei verschiedene Abonnements: ein etwas preiswerteres Abo mit Werbung und ein etwas teureres ohne. Die Erfolge sind atemberaubend. Zum einen gelang es Diensten wie Netflix oder Amazon Prime Video damit, den Preis für Werbefreiheit deutlich zu steigern, denn Werbung kann so nervtötend sein, dass Menschen lieber deutlich mehr bezahlen, als Spots ertragen zu müssen. Zum anderen konnten die Dienste mit den preiswerteren Werbe-Abos neue Zielgruppen erschliessen, die aus Kostengründen bislang von einem Abo Abstand genommen hatten.

Vor allem aber erschlossen die Streamer eine neue Erlösquelle, die ihnen bislang verwehrt geblieben war. Soeben veröffentlichte Zahlen deuten auf einen echten Durchmarsch hin. Amazon Prime Video dürfte im laufenden Jahr allein in den USA mehr als 4,6 Milliarden Dollar Werbeeinnahmen einspielen, und Netflix – obwohl der Werbestart erst wenige Monate zurückliegt – fast 1 Milliarde Dollar. Zusammen haben alle Streamer schon rund 10 Prozent der Werbung abgegraben, die früher ins Fernsehen floss. Und das, obwohl die meisten vor weniger als einem Jahr mit Werbung begonnen haben.

Überdies sind Streamingdienste zu Reichweitenkönigen aufgestiegen. In den USA und Europa besitzen rund drei Viertel aller Internetnutzer und -nutzerinnen mindestens ein Streaming-Abo. Netflix oder Prime erreichen weit über hundert Millionen Menschen – mehr als klassische Fernsehstationen. Der disruptive Wandel scheint fast vollzogen zu sein, und gewonnen haben die Angreifer, die nicht aus dem klassischen Fernsehen kamen. Ein Lehrstück auch für andere Branchen.