Die Schweiz ist zu Recht stolz auf ihre demokratischen Prozesse mit verhältnismässig grossen und vielfältigen Möglichkeiten der politischen Teilhabe. Kurze Entscheidungswege, ein föderales System mit klug austarierten Machtverhältnissen sowie ein aktiver Austausch zwischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft erlauben Allianzbildung und Kompromisse für tragfähige Lösungen. Doch neben dem politischen System ist die Schweiz auch ein beliebter Technologiestandort.

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IBM forscht in der Schweiz an Quantencomputern, Meta und Disney forschen an der virtuellen Realität und an fortgeschrittener Robotik, Google betreibt seit über zwanzig Jahren einen grossen Standort in Zürich, und Nvidia arbeitet mit einem neuen Schweizer Standort an der künstlichen Intelligenz. Technische Hochschulen in Zürich, Lausanne und an weiteren Standorten bilden Talente aus aller Welt aus, ohne das Cern in Genf gäbe es das World Wide Web wohl nicht, und Jahr für Jahr landet die Schweiz auf den vordersten Rängen diverser Indizes bezüglich digitaler Innovationskraft, zum Beispiel im IMD-World-Digital-Competitiveness-Ranking. Also alles im grünen Bereich?

Leider nein! Denn trotz den klaren Standortvorteilen und den Fähigkeiten in Forschung und Innovation vernachlässigt die Schweiz seit Jahrzehnten die Digitalpolitik und vergibt damit viel Potenzial.

Der Gastautor

Nicolas Zahn ist CEO der Swiss Digital Initiative, die das Swiss-Digital-Trust-Label herausgibt.

Das Wunder der digitalen Transformation liegt eben nicht nur im Digitalen, sondern auch in der Transformation, denn hier stellen sich die wirklich spannenden Fragen, auf welche die Digitalpolitik eine Antwort geben muss: Was bedeuten digitale Technologien für unsere Institutionen, und wie kann die Verwaltung digital so transformiert werden, dass sie der Gesellschaft und der Wirtschaft optimal dienen kann? Was bedeuten digitale Technologien für unser Zusammenleben und unsere Gesellschaft? Wie wollen wir die neuen Möglichkeiten einsetzen, und welche Werte möchte die Schweiz im digitalen Raum vertreten?

Doch für diese digitalpolitischen Diskussionen fehlt es in der Schweiz an Know-how und siloübergreifenden Debatten, es mangelt an Visibilität des Themas und entsprechenden Debattenräumen, es fehlen die Visionen und Treiber der Debatte.

Praktisch keine Redaktion möchte sich Tech-Journalismus leisten, und die paar wenigen Journalistinnen und Journalisten, die sich mit der Thematik befassen, haben mit einem Know-how-Gap zu kämpfen, der viele spannende Storys im Keim erstickt. So erstaunt es leider nicht, dass über weitreichende internationale digitalpolitische Entwicklungen mit Auswirkungen auf die Schweiz, wie den Global Digital Compact, das Datenabkommen mit den USA, die UN-Cybercrime-Convention oder gar die unter Schweizer Vorsitz ausgehandelte KI-Konvention des Europarates – das erste solche Dokument weltweit – ausserhalb von Branchenmedien wenig zu lesen und hören war.

Obwohl man gerne in andere Länder schaut, um sich inspirieren zu lassen, zieht man aus dem ehrfürchtigen Blick nach Estland und Singapur die falschen Schlüsse: Was diese Länder nämlich verinnerlicht haben, ist, dass es bei erfolgreicher digitaler Transformation nicht primär um Technologie geht – die wir in der Schweiz hätten –, sondern um eine Shared Vision sowie einen breiten politischen Konsens – beides Punkte, die bei uns auch Jahrzehnte nach den ersten Projekten fehlen.

Dies ist aus mehreren Gründen ein Problem. Erstens müssen digitalpolitische Diskussionen stattfinden, ob wir das wollen oder nicht. Vor den entsprechenden Diskussionen können wir uns nicht ewig drücken, und punktuell werden uns solche Debatten auch aufgezwungen, wie mit dem Referendum zur E-ID oder mit den kantonalen Initiativen der Piratenpartei zur digitalen Selbstbestimmung. Doch kommt es zu diesen punktuellen Diskussionen, ist der Meinungsbildungsprozess oft unzureichend und sind die Debatten von gefährlichem Halbwissen dominiert. Da es oft um Einzelthemen geht, aber eine Gesamtvision und ein ganzheitliches Verständnis fehlt, sind diese punktuellen Debatten schwierig zu führen.

Zweitens: Wenn die Schweiz sich digitalpolitisch nicht positionieren möchte, dann werden das andere tun. Was im Hintergrund der digitalen Realität genau vor sich geht, scheint niemanden zu interessieren, bis es dann zu spät ist und man merkt, dass die Regeln der digitalen Wirtschaft nicht in Bern, sondern in Brüssel, San Francisco oder Peking geschrieben werden. Wenn sich die Schweiz nicht aktiv um die Gestaltung von Digitalpolitik kümmern möchte und trotzdem an der digitalen Transformation teilhaben will, macht sie sich unnötig abhängig von Entscheidungen, bei denen sie es versäumt hat, Einfluss auf sie auszuüben.

Drittens steht die stiefmütterliche Behandlung von Digitalpolitik in direktem Widerspruch zum eigenen Ambitionsniveau. Mit Dokumenten wie der Strategie zur digitalen Aussenpolitik hat man klar festgehalten, dass die Schweiz international durchaus einen Anspruch geltend machen möchte. Das ist auch richtig, denn als stark vernetztes Land und beliebter Technologiestandort wäre man sowohl für eine vermittelnde Convenor-Rolle als auch für eine inhaltlich aktive Norm-Entrepreneur-Rolle geeignet. Doch den Ambitionen folgen zu wenig politischer Wille und Ressourcen, weshalb Jahre nach der Anmeldung des Ambitionsniveaus nur wenige Fortschritte sichtbar sind, während andere Staaten zum Beispiel den Bereich der Tech-Diplomatie auch mit neuen Jobprofilen ausbauen oder sich inhaltlich klar positionieren, zum Beispiel beim Thema Cybersicherheit oder digitale Demokratie.

Noch ist es nicht zu spät, die Schweiz aus dem digitalpolitischen Blindflug aufzuwecken. Es braucht auf nationaler Stufe treibende Kräfte, die für mehr Visibilität des Themas und Debattenräume sorgen, es braucht mehr kompetente Leute in Wirtschaft und Verwaltung, die lösungsorientiert und nicht Hype-getrieben die digitalpolitischen Fragen auf den Tisch bringen und Mehrwert schaffen, und es braucht für die internationale Positionierung mehr Leadership sowie Ressourcen. Die Schweiz sollte im digitalen Raum die Augen öffnen und einen klaren Kurs festlegen, sonst wird man früher oder später erneut an die Wand fahren.