Können wir Menschen 120 Jahre alt werden? Und sollten wir das überhaupt wollen? Im Juni tagte in Zürich das World.Minds Luncheon mit Nobelpreisträgerinnen und -trägern der Medizin. In vier Stunden Diskussion und Austausch ging es um Langlebigkeit – auf Englisch Longevity, ein Sammelbegriff, unter dem Medizinerinnen und Investoren alle Bemühungen zusammenfassen, die Dauer des menschlichen Lebens zu verlängern.
Investorinnen, Unternehmer und Wissenschafterinnen sehen Longevity als eines der wichtigsten Themen der Zukunft an. Entsprechend eindrucksvoll fällt die Zahl der Unternehmensgründungen aus, ebenso wie die Höhe der Finanzierungsrunden. Sechs Beobachtungen zur laufenden Debatte über Langlebigkeit:
Erstens: Es geht nicht um die Dauer des Lebens als solche («Lifespan»), sondern um die Dauer des gesunden Lebens («Healthspan»). Und darum, das Verhältnis von Lifespan und Healthspan so günstig wie möglich zu gestalten. Ein möglichst grosser Teil des Lebens soll gesund verlaufen, während der Verfall des Körpers zum Ende des Lebens möglichst kurz und komprimiert verlaufen soll.
Zweitens: Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die Zahl 120. Warum? Weil die ältesten heute lebenden Menschen etwa 120 Jahre alt werden. Aus Gründen, die wir noch nicht verstehen, scheint die menschliche Biologie in der Lage zu sein, dieses Alter zu verkraften, wenn nicht eine Krankheit dem Leben zuvor ein Ende setzt.
Der älteste bekannte Mensch war die Französin Jeanne Calment (1875–1997). Sie wurde 122 Jahre alt. Grönlandwale können über 200 Jahre alt werden, manche Muscheln über 500 Jahre. Wie ihr Organismus das anstellt und warum Menschen früher sterben, ist Gegenstand intensiver Forschung, bleibt einstweilen aber noch ein Rätsel. Longevity zielt darauf ab, möglichst viele Menschen Jeanne Calment nacheifern zu lassen, nicht aber, den Grönlandwal einzuholen.
Wenige Krankheiten stehen für die meisten Todesursachen
Drittens: Eine Handvoll Krankheiten steht für rund fast 80 Prozent aller Todesursachen. In der Schweiz sind dies Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atemwegserkrankungen, Demenz und Diabetes. Es sterben hierzulande jedes Jahr viermal so viele Menschen an Krebs wie an Unfällen und Gewalttaten zusammen.
Würde es gelingen, den wichtigsten Krankheiten beizukommen, wäre ein wichtiger Schritt zum Lebensalter 120 gemacht. Das ist übrigens auch der Grund, warum wir heute im Schnitt doppelt so alt werden wie vor hundert Jahren: Wir haben unheilvolle Krankheiten wie Diphtherie, Typhus, Malaria oder Polio weitgehend besiegt.
Viertens: Nicht vergessen darf man bei der Strategie der Krankheitsausrottung die versteckten Todesursachen. Im Alter schwinden Muskeln und werden Knochen gebrechlicher. Wer deswegen stürzt und sich den Oberschenkelhals bricht, stirbt im Krankenhaus später leider oft an einer Lungenentzündung. Die Statistik führt diesen Fall dann als Atemwegserkrankung. Mittelbare Todesursache bleibt aber trotzdem Muskelschwund und Ausdünnung der Knochen. Deswegen verdienen auch diese mittelbaren Todesursachen höchste Aufmerksamkeit.
Fünftens: Die Wissenschaft erzielt derzeit Durchbrüche, wie sie in dieser Ballung in der Geschichte der Medizin noch nie aufgetreten sind. Erfolge gibt es überall zu vermelden: von der Behandlung genetischer Schäden auf Ebene der Moleküle und von heilenden Eingriffen in Prozesse innerhalb der Zelle, über die Kommunikation zwischen Zellen und Organen, die Frühdiagnostik und neue intelligente Massenscreenings bis hin zu neuen Erkenntnissen der Ernährungswissenschaften. Keine Woche vergeht ohne bahnbrechende Fortschritte, die via Netz und Konferenzen schnell zum Basiswissen der ganzen Welt heranreifen.
Sechstens: Wir alle können durch unsere Ernährung, unseren Schlaf, unsere Bewegung und unsere Teilnahme an Frühdiagnostik viel dazu beitragen, unser eigenes gesundes Leben zu verlängern. Die Zeit spielt für uns. Je länger wir durchhalten, desto weiter schreitet die Medizin voran. Schon in 10 bis 15 Jahren wird uns jedes Jahr, das wir länger leben, ein weiteres Jahr schenken, das wir dem wissenschaftlichen Fortschritt verdanken. Es lohnt sich also, wachsam und achtsam zu bleiben.
Christoph Keese ist Verwaltungsratspräsident von World.Minds sowie Unternehmer und Unternehmensberater aus Berlin. Der Autor von sechs Büchern schreibt regelmässig über Technologie und Innovation, neuerdings auch zweiwöchentlich in der «Handelszeitung».