Herr Vetterli, fast täglich riskieren wir, im eigenen Handy oder PC gehackt zu werden. Umgekehrt haben wir keine Ahnung, wem wir angesichts einer solchen Bedrohungen trauen können. Ist das normal?
Martin Vetterli: Nein, das ist nicht normal. Wir haben es mit ausgefeilten Systemen zu tun, die schwer zu durchschauen sind. Weder die Bürger noch der Staat schaffen dies. Als Akademiker sagen wir deshalb: Es braucht eine breite Debatte darüber. Die Probleme ums Schweizer E-Voting sind ein gutes Beispiel dafür.
Sie meinen die Löcher im Programm des elektronischen Abstimmungstools der Post …
Die wirkliche Frage ist: Warum machen wir kein Open-Source-Projekt? Open Source heisst, dass das IT-Programm jedermann zugänglich ist. Ein solches kann vom Publikum getestet werden.
Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Whatsapp ist ein kommerzielles, öffentlich nicht einsehbares Programm. Sollte der Anbieter den Quelltext öffentlich machen?
Das wäre schön, wird aber nicht passieren, denn Whatsapp ist gewinnorientiert. Zu hoffen ist deshalb, dass sich Konkurrenzprodukte durchsetzen, die öffentlich sind.
«Wir in Europa haben die Entwicklung von leistungsfähigen Handynetzen anderen überlassen. Wir haben uns die Situation selber eingebrockt.»
Jeder sollte ein Chatprogramm auf Löcher im Programm testen können?
Das wäre ideal. Bei den Internetbrowsern ist dies der Fall. Ein gelungenes Beispiel ist Firefox. Die Initiantin Mozilla Foundation lässt dies zu. Und statistisch belegt ist, dass Open-Source-Produkte weniger Fehler haben als kommerzielle, geheime Software.
Sie sagen, dies wäre also die Lösung, um Vertrauen in die IT zurückzugewinnen?
Ja. Dabei meine ich nicht irgendwelche IT-Games. Die können von mir aus privat bleiben. Aber mir geht es um kritische Software wie Browser, Chatprogramme oder E-Voting-Tools. Browser sind die Fenster zur Welt. Bei Chats geht es um den Schutz von Privatsphäre und bei E-Voting um die Demokratie. Ich wünsche mir, dass wir bei solch fundamentalen Anwendungen schweizerische Open-Source-Produkte hätten.
Und Handysoftware? Sollten Telecomanbieter ihre Software als Open Source zur Verfügung stellen? Die Diskussion um Huawei zeigt das Misstrauen.
Die Realität ist kompliziert, denn da sind Wirtschaftsmächte involviert. Jede Grossmacht hört Ferngespräche ab, seit es die Telefonübertragung gibt. Dies zeigten zuletzt die Berichte über das Abhören des Handys von Angela Merkel durch die USA. Jetzt ist man nervös wegen China. Das übergeordnete Problem ist doch: Wir in Europa haben die Entwicklung von leistungsfähigen Handynetzen anderen überlassen. Wir haben uns die Situation selber eingebrockt.
Funktion: seit 2017 Präsident der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne (EPFL)
Ausbildung: Ingenieurstudium an der ETH Zürich und an der Stanford University, Promotion an der EPFL
Karriere:
- 1987 bis 1994: zuerst Assistenzprofessor, später Professor an der Columbia University in New York
- 1992 bis 2008: zuerst Assistenzprofessor, später Professor für Elektrotechnik an der University of California in Berkeley
- 1995 bis 2012: Professor für Kommunikationssysteme an der EPFL,
- ab 2008 Vizepräsident und ab 2011 auch Dekan der Fakultät für Informatik und Kommunikation.
- 2013 bis 2016: Präsident des Nationalen Forschungsrats des Schweizerischen Nationalfonds
Familie: verheiratet, zwei Kinder
Die Eidgenossenschaft hat den Hacker-Abwehrdienst Melani. Dieser gebärdet sich wie ein kleiner Geheimdienst. Der Bürger und die KMU erfahren kaum, welche unmittelbaren Gefahren für sie durch IT-Viren bestehen. Ist dies akzeptabel?
Beim Bund sind für die Cybersicherheit mehrere Dienste in mehreren Departementen verantwortlich. Diese Struktur ist nicht optimal. Es gibt einen Bedarf, dieses Know-how zu bündeln. Doch dies ändert sich gerade. Der Bundesrat ernennt diesen Sommer einen Delegierten für Cyberfragen.
Nochmals: Welche Transparenz können Bürger und KMU von Melani erwarten?
Es gibt die computergestützte Bedrohung, über die der Dienst keine Auskunft geben kann, das verstehe ich. Die einzige Lösung wäre – und da schliesst sich der Kreis zu meinem Eingangsvotum: Wir müssen Open-Source-Systeme einfordern, deren Schwachstellen jeder überprüfen kann. Solange kommerzielle Programme geheim bleiben, wird auch um die Abwehr eine Geheimniskrämerei gemacht. Unmündigkeit in solchen Fragen ist schlicht inakzeptabel.
Die Schweiz hat zwei Top-Unis für Technik in Zürich und Lausanne. Könnten uns die beiden ETH über konkrete IT-Gefahren oder die Huawei-Frage aufklären?
Im Moment noch nicht. Wir brauchen viel mehr Talente und Spezialisten in der Cybersicherheit, als wir heute ausbilden können. Der gemeinsame Studiengang der beiden ETH in Cybersecurity ist ein Anfang. Die Anmeldungen fürs nächste Semester laufen gut, aber es ist niemals genug, um nur schon über die Nachfrage in der Schweiz nachzudenken. Darum müssen wir Gas geben.
Warum sind wir in der Schweiz im Rückstand? Zu wenig Geld?
Nein, am Geld liegt es nicht. In den 1980er Jahren überliess man die IT-Entwicklung den Amerikanern. Man gab sich zufrieden damit, ein IBM-Produkt zu kaufen. Diese Einstellung hält bis heute an.
Wir haben Zahnräder und Pumpen gebaut, aber keine Server …
Genau. Wir haben in den 1980er Jahren die IT-Entwicklung verschlafen. Global gesehen sind wir nun sehr abhängig von ausländischer IT.
«In der Kunst, Daten zu verwerten, wie es Google tut, müssen wir massiv zulegen»
Wo können wir aufholen?
Wir sind heute stark in der Sensorik, Automatik und Robotik. Auch in der Bankensoftware haben wir Spitzenanbieter. Aber das genügt nicht. Bei den Datenwissenschaften, also der Kunst, Daten zu verwerten, wie es Google tut, müssen wir massiv zulegen.
Nochmals, warum haben wir es verschlafen? Selbst unter Ihrem Vorgänger an der Spitze der EPFL, Patrick Aebischer, hiess es vor allem Biotech, Biotech und nochmals Biotech.
Zu meinem Vorgänger will ich mich nicht äussern. In ganz Europa haben wir die digitalen Wissenschaften verschlafen. Nennen Sie mir eine europäische Firma, die heute führend ist. Alles schaut nach Amerika.
Die Computerwissenschaften werden hierzulande in der Schule und am Gymi kaum gepusht. Das Fach Algorithmus sucht man vergeblich.
Als ich am Gymnasium war, schloss ein Drittel der Abgänger in Mathe und Physik ab. Dieser Anteil ist seither geschrumpft, die Zahl der neusprachlichen Maturanden nahm zu. Dies hat nicht gerade dabei geholfen, die IT-Wissenschaften zu fördern.
Seien wir ehrlich: Auch die ETH hat die Entwicklung nicht gepusht. Man wollte Umweltingenieure, aber keine Informatikingenieure. Gibt es denn bei der ETH für alle Studiengänge, etwa in Architektur, ein Pflichtfach namens Computerwissenschaften?
Nein, aber wir sind dran. Das ist eine der grossen Reformen. Wir nennen es Computational Thinking. Damit gemeint ist die Kunst, Probleme so zu formulieren, dass sie mithilfe von Computern lösbar werden. Jeder Student sollte wissen, was eine Maschine macht. Computational Thinking muss so wichtig werden wie Mathe oder Physik. Heute ist dies noch nicht der Fall, auch nicht an Gymnasien.
Auf Kosten welcher Fächer sollte dies gehen?
Ich hatte Philosophie am Gymnasium und möchte sie nicht missen. IT ist nicht die einzige Wissenschaft, die uns wichtig ist. Aber schauen Sie sich heute unser Leben an. Jeder läuft mit dem Handy in der Hand herum, doch wir wissen kaum, was da abläuft. Auch sind die Leute oft sehr naiv, was Passwörter, Daten und Downloads angeht. Uns fehlt die digitale Mündigkeit. Das muss sich ändern!
Ihr Vorgänger Patrick Aebischer wurde schweizweit bekannt, weil er Biotech stark förderte und viele privat finanzierte Lehrstühle, etwa von Nestlé oder Rolex, auf den Campus holte. Was wurde vernachlässigt?
Vernachlässigt wurde nichts. Aber jetzt sprechen alle von der vierten industriellen Revolution. Deshalb setzte ich bei meinem Antritt vor zweieinhalb Jahren eine neue Priorität: die Forschung mit Daten, Cybersicherheit und künstlicher Intelligenz.
Diesen Pflock haben Sie eingeschlagen. Welche weiteren Pflöcke sind in Planung? Entsteht ein Cluster von Computerwissenschaften?
Wir sind daran, einen solchen zu formen unter der Oberfrage: Wie stellt man digitales Vertrauen her? Zum Cluster gehören IT-Fachleute, Blockchain-Entwickler, aber auch Psychologen, Ökonomen, Juristen und weitere Sparten. Wir bauen das Zentrum derzeit an unserem Campus in Lausanne auf. Dazu gehören rund dreissig Professoren, ein Dutzend Firmen und Institutionen wie Spitäler und das Rote Kreuz.
Vernunft erforschen
Die Neurowissenschaften, ein Paradepferd der EPFL, machten im Herbst Schlagzeilen, als sie es schafften, dass ein querschnittsgelähmter Mann wieder gehen kann. «Da sind wir ganz vorne mit dabei», sagt Martin Vetterli stolz. Man verstehe Nervensignale und wisse, «wie wir die Reize in ein Implantat führen, damit sich dieses bewegt».
Auch forschen Neurowissenschafter über Gehirnregionen. Wo empfindet man Glück? Welche Nerven provozieren Lachen oder Weinen? Was provoziert ein Glas Wein? Mit Antworten aus der Grundlagenforschung hoffen die Wissenschafter, Anwendungsfälle, etwa im Marketing, zu finden.
Viel weiter sind die Forscher allerdings nicht. Die jahrtausendealten Fragen, wie Bewusstsein entsteht und wo im Gehirn beispielsweise Vernunft reguliert wird, sind weitgehend offen. Hie und da haben die Forscher Glück: Wenn ein Hirnverletzter überlebt, können sie herausfinden, welche Fähigkeiten durch den Unfall nicht beeinträchtigt wurden und welchen intakten Regionen sie zuzuordnen sind.
Die EPFL glaubt, dass Bewusstsein mittels Computermodellen erforscht werden könnte, so etwa mit Programmen zur künstlichen Intelligenz. Ein weiterer Schritt wäre, mit Modellen Geisteszustände zu simulieren. Bis dahin sei es aber noch ein langer Weg, sagt der EPFL-Präsident. Das Hirn sei «das wohl komplexeste Objekt des bekannten Universums».
Diese Pläne kosten Geld. In Bern hört man, dass die Budgets der ETH-Domäne unter Druck sind. Sie stehen in harter Konkurrenz zum Militär, Gesundheitswesen, zu Sozialversicherungen und zu künftigen Steuerreformen wie etwa der Verrechnungssteuer, die Geld kosten. Wie stehen Ihre Karten?
Wir kämpfen wie die Löwen. Ich bin fast täglich in Bern deswegen. Unsere Forschung hat Weltniveau. Dies wollen wir beibehalten. Beginnt die Politik zu sparen, kommt es nicht gut für die Schweiz. Wir sollten nicht vergessen, dass unser Land das enorme Glück hat, dass Alfred Escher vor 150 Jahren die ETH gründete. Er tat dies zu einer Zeit, als die Landwirtschaft dominierte, viele Menschen in die USA und Südamerika auswanderten und die industrielle Revolution am Laufen war. Dank ETH-Ingenieuren erbte die Schweiz die Früchte dieser Tat später in Form von vielen Firmengründungen. Die bekanntesten sind Brown Boveri (heute ABB) und die Pharma-Firmen. Im 21. Jahrhundert sollen die ETH das Gleiche tun: die Voraussetzungen schaffen, dass es hier dank digitaler Revolution weitergeht.
Doch in Bern sagt man Ihnen: «Herr Vetterli, das ist ein löbliches Ziel, aber sicher geht das auch mit etwas weniger Geld als bisher. Fokussieren Sie!»
So wird es nicht direkt gesagt, aber klar ist, dass wir unser Budget weniger hart verteidigen können als Sektoren mit fiskalisch gebundenen Ausgaben wie die Sozialversicherungen oder der öffentliche Verkehr. Doch unsere Trümpfe sind intakt: Wir sind an der Quelle der Innovation.
Wie steht es mit einem Plan B – das Aebischer-Modell –, also Forschungsgeld direkt in der Wirtschaft einzusammeln?
Sprechen Sie mit Wirtschaftsführern! Sie selber sagen: Die beiden ETH müssten die Innovation antreiben. Firmen sind dann für die Umsetzung in Produkte zuständig. Schauen Sie sich weltweit die Wirtschaftscluster an, ob Silicon Valley, Hongkong, Singapur oder Bangalore: In deren Mitte befinden sich immer Spitzenuniversitäten als treibende Kraft.
Da brächte dann ein einzelner, von einer Firma gesponserter Lehrstuhl wohl wenig.
Eine Firma kommt nicht zu uns, weil sie einen Lehrstuhl finanzieren will, sondern weil sie eine Spitzenhochschule vorfindet. Dies müssen wir verteidigen.
Wie effizient ist denn Ihre Hochschule? Von ETH-Assistenten höre ich Storys, dass man gegen Ende des Jahres das Restbudget des Lehrstuhls verbraten muss, etwa mit Flügen zu Konferenzen, um im nächsten Jahr gleich viel zu erhalten. Ein bisschen wie im Militär mit der Munition …
Ich widerspreche Ihnen. Die 1990er Jahre sind vorbei. Vor zwei Jahren mussten wir 3 Prozent des Jahresbudgets einsparen. Auch jetzt müssen wir zusammenlegen, reduzieren und effizienter werden, um neue Investitionen zu tätigen, etwa für den neuen digitalen Cluster. Das sind für mich nicht Kürzungen, sondern eine Umlage der Gelder in neue Projekte.
Sollte das Rahmenabkommen nicht zustande kommen, droht das Scheitern der Bilateralen Verträge. Würde das die ETH finanziell einschnüren?
Wir wären von europäischen Finanzierungen und Forschungskooperationen total abgeschnitten. Am schlimmsten wäre aber der Reputationsschaden. Wir würden als weltverschlossen gelten. Das erleben derzeit die Forschenden an den Universitäten Grossbritanniens wegen des Brexit.
«Die Gallier hatten einen Zaubertrank. Haben wir einen solchen in der Schweiz?»
Wir hätten vielleicht ein neues Image: die Rebellen Europas!
Das dachten auch schon die Gallier unter Asterix und Obelix. Doch die hatten einen Vorteil, den Zaubertrank. Haben wir einen solchen in der Schweiz? Wir Schweizer sollten die wirtschaftliche Realität nicht ausblenden: Wenn wir uns von den Bilateralen verabschieden, verdienen alle weniger. Die Schweiz wird wirtschaftlich und in der Forschung isoliert werden. Bildlich gesprochen werden wir von der Champions League in eine Regionalliga absteigen. Wer will das schon?