Sechs Tag lang fuhren Maria Yarotska, ihre Mutter, ihre Tochter und ihr Hund, um dem Krieg in der Ukraine zu entkommen – in einem Fiat quer durch Europa. Die Reise endete in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon. 

Im Gegensatz zu den Tausenden von Flüchtlingen, die den 2500 Meilen langen Roadtrip in das westlichste Land Kontinentaleuropas unternommen haben, wird sie ihren Job behalten können.

Das liegt an ihrem Job: Die 35-Jährige arbeitet für NEAR, ein Blockchain-Unternehmen, das einen ukrainischen Mitgründer hat. Die Firma, die nach Kryptowährungen schürft, baut ihre Präsenz in Portugal aus und unterstützt Flüchtlinge auf der Flucht vor dem Krieg.

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«Ich habe viele Kollegen hier», sagte Yarotska letzte Woche in einem Telefoninterview von Lissabon aus, wo sie in einer vorübergehenden Unterkunft untergebracht war, bevor sie eine dauerhafte Bleibe fand. «Sie werden mir helfen, meine Dokumente zu legalisieren, damit ich bleiben kann.»

Ein Zufluchtsort für Kryptoarbeiter

Portugal nimmt viele Flüchtlinge auf – wie auch andere westeuropäische Länder, die zu Zufluchtsorten für Ukrainer geworden sind, die vor der russischen Invasion fliehen. Kryptoarbeiter aus der Ukraine dürften es in Portugal leichter haben, neu anzufangen – deutlich leichter als in anderen europäischen Ländern.

Denn Portugal entwickelt sich gerade zu einem eigentlichen Zentrum für die Kryptoszene. Die Steuerbefreiung von Digitalwährungsgewinnen, die erschwinglichen Lebenshaltungskosten und die milden Temperaturen ziehen reihenweise Kryptoanhänger an. Auch hat das Land bereits eine grosse Gemeinschaft von Ukrainern, was Portugal zusätzlich attraktiv macht.

Ein Zustrom von Ukrainern

Vor der russischen Invasion waren die Ukrainerinnen und Ukrainer die fünftgrösste Ausländergruppe in Portugal. In den letzten drei Wochen hat das Land mehr als 13’000 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Die Regierung hat verschiedene Massnahmen zur Beschleunigung und Vereinfachung des Einreiseverfahrens für Kriegsflüchtlinge beschlossen.

13’000 – das entspricht in etwa der Gesamtzahl der Flüchtlinge, die seit 2015 in Portugal angekommen sind, so die Daten der portugiesischen Einwanderungs- und Grenzschutzbehörde SEF. Die Zahl der ukrainischen Staatsangehörigen in Portugal ist von etwa 27’200 im Jahr 2021 auf etwa 40’000 emporgeschossen, was Ukrainer zur drittgrössten Gruppe von Ausländern in Portugal macht, nach den Brasilianern und den Briten.

In Lissabon haben die Behörden Hunderte von Flüchtlingen vorübergehend in einer Sporthalle untergebracht, die in ein Aufnahmezentrum umgewandelt wurde. Laut Bürgermeister Carlos Moedas wird die Stadtverwaltung den ukrainischen Flüchtlingen bei der Suche nach Wohnraum, Arbeitsplätzen, Schulen und medizinischer Versorgung helfen.

Beschwerliche Flucht

Valentin Sotov, ein Softwareentwickler, der an einem kryptobasierten Metaverse-Spiel namens «Amber» arbeitet, floh Ende Februar mit zwei Kollegen mit dem Auto aus der westukrainischen Stadt Mukatschewo, nur mit einem Rucksack und einem Laptop im Kofferraum. 

Einfach war es für sie nicht: Sie kamen zuerst in einer Airbnb-Unterkunft unter, nun suchen sie eine andere Wohnung, was sich als schwierig erweist. «Man braucht einen Vertrag für ein Jahr, einen portugiesischen Bürgen, eine Steuernummer und ein Visum», sagt Sotov, 35. «Wir wissen noch nicht, was wir tun sollen, wir fragen unsere Freunde.»

Doch selbst in seiner prekären Lage sieht Sotov Chancen. 

«Alle Menschen hier sind sehr offen, es ist eine Parade der Nationen», so Sotov. Er sieht den Umzug nach Portugal als «eine grosse Chance für unser Produkt, weil wir mit vielen IT-Leuten an einem Ort arbeiten können».

Digitalwährungsenthusiasten sind in Lissabon an vielen Orten anzutreffen, es gibt viele Möglichkeiten zum Networking. So geht in der Hafenstadt jährlich ein Web-Summit über die Bühne, es ist einer der grössten Technologiekonferenzen der Welt. Hinzu kommen viele kleinere Zusammenkünfte, beispielsweise wöchentliche informelle Treffen in Bars, um den nächsten grossen Kryptotrend zu diskutieren.

Portugiesische «Unicorns»

Portugiesischen Unternehmern ist es auch gelungen, eine Handvoll Einhorn-Startups zu gründen. Das sind Unternehmen in Privatbesitz, deren Wert bereits 1 Milliarde Dollar übersteigt. Der jüngste Vertreter dieser «Unicorns» heisst Anchorage Digital. Es ist eine mittlerweile in den USA ansässige Bank für digitale Vermögenswerte mit Büros in Nordportugal. Einer der Mitbegründer ist der Portugiese Diogo Mónica.

«Ich gehöre zu einer Krypto-Investorengruppe auf Telegram mit 250 Ausländern, die nach Portugal gezogen sind oder dies planen», sagt Stephan Morais, geschäftsführender Gesellschafter der in Lissabon ansässigen Risikokapitalfirma Indico Capital, die in Web3, Fintech, künstliche Intelligenz und digitale Unternehmen investiert. «Sie kommen aus der ganzen Welt.»

Sogar Spanier wandern ein

Die Zahl der in Portugal lebenden Ausländerinnen und Ausländer ist nach Angaben des Nationalen Statistikinstituts in den letzten zehn Jahren um 40 Prozent auf 555’300 Personen gestiegen. Zusätzlich zu der Null-Prozent-Steuer auf Kryptogewinnen (Gewinne aus dem Verkauf von Kryptowährungen unterliegen nicht der Einkommenssteuer, es sei denn, sie werden als berufliche Tätigkeit betrachtet) bietet Portugal einigen Ausländern eine Pauschalsteuer von 20 Prozent auf ihrem Einkommen oder eine Pauschalsteuer von 10 Prozent auf ihren Renten.

Heute kommen sogar Krypto-Aficionados aus dem benachbarten Spanien in das lusitanische Nachbarland, da die spanische Regierung im vergangenen Jahr spanische Staatsbürger dazu verpflichtet hat, ihre Kryptobestände in einem Dokument zu deklarieren.

«Zwei von drei Leuten, die zu mir kommen, um mich zu beraten, gehen wieder», sagt Maria Extremadouro, eine Anwältin in der spanischen Stadt Vigo, die sich auf Blockchain- und Kryptogesetze spezialisiert hat. «Es gibt viele Talente, die nach Portugal auswandern.»

Kein einfacher Start

Portugal ist für viele Ukrainer ein willkommener Zufluchtsort. Bis es sich für sie wieder wie zu Hause anfühlt, kann es wegen der Sprachbarriere und der alltäglichen Hindernisse an einem unbekannten Ort eine Weile dauern. Maria Yarotska ist auf dem Weg zu diesem Punkt: Sie hat eine Wohnung gefunden, und ihre neunjährige Tochter hat bereits mit dem Unterricht in einer örtlichen Schule begonnen. 

«Mir geht es gut», sagte Yarotska diese Woche in einer Telegram-Nachricht. «Meine Tochter hatte ihren zweiten Tag in der örtlichen Schule (sie liebt es), und ich habe endlich eine Wohnung gefunden, wir ziehen am Montag ein.»

(bloomberg/mbü)