Herr Schellenbauer, die Avenir-Suisse-Studie «Wenn die Roboter kommen» zeigt, dass die Digitalisierung noch keine grossen Umwälzungen gebracht hat. Das widerspricht der allgemeinen Wahrnehmung.
Patrik Schellenbauer*: Die öffentliche Wahrnehmung basiert auf einseitigen Negativszenarien, vor allem für den Arbeitsmarkt. Die Realität sieht ganz anders aus. Das zeigt sich etwa in der Verbreitung von atypischen Arbeitsformen. In einer digitalen Welt wäre zu erwarten, dass viele Leute mehrere Jobs gleichzeitig machen. Konkret: Jemand versucht sich selbstständig in einem Startup und ist gleichzeitig in einem kleinen Pensum noch irgendwo angestellt. Oder man arbeitet halbselbständig für mehrere digitale Plattformen. Davon sieht man jedoch wenig. Die Arbeitsformen sind noch immer sehr traditionell. 90 Prozent der Leute sind fest angestellt.
Bis anhin haben Roboter noch kaum Arbeitsplätze vernichtet. Könnte sich das ändern, wenn plötzlich die disruptiven Kräfte voll durchschlagen?
Kurzfristig wäre es sicher anspruchsvoll, eine eigentliche Disruption im Arbeitsmarkt zu bewältigen, aber dieser Fall ist unwahrscheinlich. Langfristig ist das Gegenteil der Fall: Wenn die Digitalisierung richtig einsetzt, wird es eine grössere Nachfrage nach Arbeitskräften geben, das Ende der Arbeit wird vorschnell ausgerufen. Die Jobs und Arbeitsinhalte werden sich laufend weiterentwickeln – das ist aber nicht erst seit heute so. Es ist ein stetiger Prozess, zugleich werden neue Jobs entstehen.
Besonders gefährdet sind repetitive Arbeiten. Was sollen Verkäufer, Busfahrer oder Buchhalter tun?
Wichtig ist, dass wir viele Leute mit einer möglichst breiten Bildungsbasis haben, denn das erleichtert eine Umbildung enorm, falls sie nötig wird. Was der Busfahrer dann genau tun wird? Er arbeitet vielleicht in der Kundenbetreuung des Busunternehmens. Gefragt sein werden Sozialkompetenzen und Vermittlungsgeschick gepaart mit digitalen Fähigkeiten – also all das, was nicht von Maschinen substituiert werden kann.
Die grosse Pensionierungswelle der Baby-Boomer-Generation rollt nun an. Sie sagen, dass die Digitalisierung die dadurch sinkende Produktion abfedern kann. Ist die Digitalisierung also ein Segen?
Uns gehen in der Tat mehr die Arbeitskräfte aus als Arbeit. Deshalb sehe ich die Digitalisierung vor allem als grosse Chance. Ihr enormes produktives Potenzial könnte helfen, die stark steigenden Lasten in einer schnell alternden Gesellschaft zu bewältigen. Sie künstlich aufzuhalten – etwa mit einer Robotersteuer oder der Behinderung von Plattformarbeit – wäre volkswirtschaftlich schädlich. Vielmehr müssen wir die Weichen so stellen, dass die Entwicklung ermöglicht wird und die Produktivität endlich wieder steigt.
Was ist mit Angestellten über 50?
Wer den Grundsatz des lebenslangen Lernens verinnerlicht hat, hat auch mit 50 Jahren kein Problem. Ich glaube nicht, dass die Ü50 einen grossen Nachteil gegenüber Digital Natives haben. Sie besitzen mehr Lebenserfahrung und vor allem: Sie haben die Digitalisierung seit den 1980er-Jahren von Anfang an miterlebt und haben deshalb mehr Einsicht, wie digitale Technologie funktioniert.
Apropos Lernen. Sie sagen, die Schulen hätten die Digitalisierung verschlafen. Was müssen sie ändern?
Das ist natürlich nicht nur eine Aufgabe der Schule, sondern der ganzen Gesellschaft. Was aber die Schweizer Volksschulen betrifft, sehe ich tatsächlich einen Rückstand, andere Länder sind wesentlich weiter.
Das ändert sich doch mit dem neuen Lehrplan.
Im Lehrplan 21 ist Informatik und Medienkunde nun fest verankert, das ist erfreulich. Doch viele Schulen sehen darin eher Medienkunde als Informatik im engeren Sinn. Es geht vor allem darum, Schüler in den neuen Medien kompetent zu machen. Das ist zwar wichtig, reicht aber nicht.
Was braucht es dann?
Mindestens ab der Oberstufe braucht es Informatik als eigenes Schulfach. Es gibt nämlich ein grosses Missverständnis um die Digital Natives. Man denkt, die Jungen sind digital aufgewachsen, die machen und verstehen das alles intuitiv. Aber: Digital Native zu sein, heisst noch nicht, dass man das Denken dahinter in der Tiefe versteht und begreift, wie die Maschinen wirklich funktionieren.
Was können Schulen konkret tun?
Es gibt schon längst kindgerechte Programmiersprachen und Algorithmen, mit denen Kinder spielerisch zum Beispiel eine Schildkröte oder einen kleinen Roboter programmieren können. Ich bin sicher, dass die Kids das toll fänden. Dazu muss man ja nicht Coden lernen, aber das Prinzip und die Zusammenhänge verstehen. Im Gegenzug könnte man etwa Geometrie oder Handarbeit zugunsten von Informatik zurückschrauben.
Müssen auch die Berufsschulen umstellen?
Man sollte den Anteil der Allgemeinbildung wie Sprachen, Informatik und Mathematik in der Berufslehre erhöhen. Denn: Wer einen sehr spezifischen Beruf lernt, den es vielleicht in 15 Jahren nicht mehr gibt, hat dann Mühe mit der Umstellung. Als Beispiel: In der Schweiz konnte man noch bis Anfang der 1990er Jahre Schreibmaschinenmechaniker lernen, obwohl schon längst klar war, dass Schreibmaschinen ein Auslaufmodell sind. Wenn man solche spezifischen Berufe ausbildet, wird es schwierig, wenn die Auszubildenden am Schluss einen zu eng gefassten Bildungsrucksack haben, der in wenigen Jahren überholt ist.
Welche Chancen bietet die Digitalisierung der Schweiz?
Ein grosser Vorteil ist, dass unser Arbeitsmarkt flexibler ist als in vielen Ländern Europas. Da haben wir strukturell einen grossen Vorteil, den wir beibehalten und nicht mit unnötigen Regulierungen einschränken sollten. Auch sollten wir Cluster wie etwa das Crypto Valley in Zug gedeihen lassen. Wo uns die Digitalisierung genau hinführt, kann man noch kaum abschätzen. Ich bin aber grundsätzlich optimistisch, dass sie das Leben von uns allen verbessern wird.
*Patrik Schellenbauer ist stellvertretender Direktor und Chefökonom des liberalen Think Thanks Avenir Suisse. Handelszeitung.ch sprach mit Schellenbauer Anfang März am SAP Live Campus 2018 in Basel. Die Avenir-Suisse-Studie «Wenn die Roboter kommen» ist im Oktober 2017 erschienen.