Der damalige Amazon.com-Chef Jeff Bezos versprach der amerikanischen Öffentlichkeit 2013, Bestellungen innerhalb von 30 Minuten mit autonomen Drohnen zuzustellen. Zeitplan: Etwa 5 Jahre.
Fast ein Jahrzehnt und mehr als 2 Milliarden Dollar an Investitionen später arbeiten mehr als 1000 Mitarbeiter an dem Projekt. Doch es wird noch dauern.
Bloomberg konnte interne Dokumente einsehen, hat offzielle Berichte ausgewertet und Interviews mit 13 aktuellen und ehemaligen Mitarbeitern geführt.
2022 sind 12'000 Testflüge geplant
Das Ergebnis: technische Schwierigkeiten, hohe Fluktuation und Sicherheitsbedenken prägen das Projekt. Ein schwerer Absturz im Juni mit einem Buschfeuer als Folge veranlasste die Bundesaufsichtsbehörden sogar, die Lufttüchtigkeit der Drohne in Frage zu stellen. Der Druck, das Programm wieder in Gang zu bringen, veranlasse einige Manager, hohe Risiken einzugehen.
Ein Amazon-Sprecher sagte, niemand sei jemals durch die Drohnenflüge verletzt worden man halte alle geltenden Vorschriften ein.
Amazon will dieses Jahr neue Testgelände eröffnen und 12'000 Testflüge durchführen - bis Ende Februar waren es allerdings noch nicht einmal 200. Schliesslich soll der Versand innerhalb von 30 Minuten zum Standard werden für Medikamente, Snacks und Babyartikel.
Amazon-Drohnen könnten derzeit Pakete von bis zu 2,3 kg auf Strecken von bis zu 11 km innerhalb einer halben Stunde ausliefern - ein Service, so schnell wie ein Besuch im Geschäft. Einer der grössten Kostenfaktoren des Konzerns fiele weg: Die Fahrer.
Kritiker: Geschwindigkeit vor Sicherheit
Geforscht und probiert wird auch von der Konkurrenz: Google Wing betreibt ein eigenes Drohnentestprogramm nördlich von Dallas. Walmart und United Parcel Service testen Ähnliches. Einige Mitarbeiter sagen, Amazon stelle wie schon oft die Geschwindigkeit vor die Sicherheit, um der erste am Markt zu sein.
«Es wird erst jemand getötet oder verstümmelt werden müssen, damit sie diese Sicherheitsfragen ernst nehmen», sagte Cheddi Skeete, ein ehemaliger Projektmanager für Drohnen bei Amazon. Seiner Aussage zufolge sei er letzten Monat entlassen worden, weil er Vorgesetzten gegenüber Bedenken geäussert hatte. Ein Sprecher des Unternehmens widersprach dem.
Amazon startete das Drohnen-Projekt 2013 unter der Leitung von Softwareentwickler Gur Kimchi. Die Maschinen, die Bezos damals vorstellte, konnten kaum eine Meile fliegen, wurden von Windböen herumgewirbelt und waren weit davon entfernt, Bäumen und Stromleitungen ausweichen zu können.
Unrealistischer Zeitplan
Das Team ging mehr als zwei Dutzend Konzepte durch. Die Arbeit war mühsam und langsam. Man entschied sich schliesslich für eine grosse Drohne mit einem Gewicht von fast 40 kg, weil sie in der Lage sein sollte, ein 2,3 kg-Paket zu transportieren - eine Nutzlast, die 85 Prozent aller von Amazon ausgelieferten Pakete abdeckt.
Kritiker sagte, Amazons Drohne sei zu schwer, was wiederum mehr Batteriekapazität nötig macht - ein Teufelskreis.
Bezos soll geduldig mit dem Team gewesen sein, solange es darum ging, eine überlegene Maschine zu entwickeln. Mit sechs Propellern kann Amazons Drohne nicht nur auf und ab, sondern auch vorwärts fliegen - ein schwieriges technisches Kunststück. Die Flügel umschliessen die Propeller als zusätzlichen Schutz.
Kimchi nahm Sicherheit ernst und gab seinem Team Zeit, um Fehler zu beheben. Informationen wurden frei weitergegeben, die Mitarbeiter durften Videos von Abstürzen ansehen, um zu beurteilen, was schief gelaufen war. Die Sicherheitskultur wurde als ausgeprägt beschrieben.
Doch eine Frist nach der anderen verstrich, so ein ehemaliger Mitarbeiter. Jeff Wilke, der damals die Verbrauchersparte von Amazon leitete, wollte die Drohne auf einer Tech-Konferenz 2019 vorführen und ankündigen, dass die Lieferungen bis Ende des Jahres beginnen würden. Die Mitarbeiter wussten, dass der Zeitplan unrealistisch war, trauten sich aber nicht, ihn in Frage zu stellen.
Wilke präsentierte die Drohne in einem Hotel in Las Vegas und kündigte den Beginn der Auslieferungen binnen «Monaten» an. Kimchi wurde kurz darauf als Projektleiter entlassen und verliess Amazon noch im selben Jahr.
Personal- und Ausrüstungsprobleme
Im März 2020 stellte Amazon David Carbon ein, um das Drohnenprogramm zu leiten. Der kam von Boeing und ihm ging ein Ruf voraus: Eine Untersuchung der New York Times hatte zuvor aufgedeckt, dass eine von Carbon geführte Boeing 787-Fabrik die Tendenz hatte, Produktion vor Sicherheit zu stellen. Die Zeitung zitierte Mitarbeiter, die von Repressalien berichteten, weil sie Sicherheitsbedenken geäussert hatten.
Als Amazon im folgenden Jahr Carbons Einstellung intern bekannt gab, hiess der interne Rat, nicht alles zu glauben, was in der Presse stand. Carbons Erfahrung in der Branche half jedenfalls, die Entwicklungsarbeit zu beschleunigen und das Projekt in die Spur zu bekommen. Er begann, einen Teil der Drohnenproduktion auszulagern. Er schloss Werke in England und Frankreich und verlegte einige Bilderkennungsarbeiten ins kostengünstigere Costa Rica.
Ehemalige Mitarbeiter berichteten jedoch auch von Flugteams, die zu wenig Personal hatten und unzureichende Ausrüstung. Geflogen wurde trotzdem.
Sicherheitsbedenken «unter den Teppich gekehrt»
Während unter Kimchi Informationen ungehindert geteilt wurden, schob Carbon dem einen Riegel vor. Nur noch ausgewählte Personen bekamen Videos von Abstürzen zu sehen. Ein Mitarbeiter behauptete, Sicherheitsbedenken würden «unter den Teppich gekehrt». Carbon habe den Mitarbeiter daraufhin ermahnt, mit seiner Wortwahl vorsichtiger zu sein. Carbons Reaktion hätte eine abschreckende Wirkung gehabt und andere davon abgehalten, sich zu äussern.
Letztes Jahr kam es innerhalb von vier Monaten zu fünf Unfällen auf einem Testgelände in Pendleton, Oregon. Während Unfälle bei Luftfahrt-Testprogrammen unvermeidlich sind, da die Ausrüstung absichtlich bis an die Grenzen belastet wird, handelte es sich hierbei um Drohnen, die bald für öffentliche Tests eingesetzt werden sollten. Im Mai löste sich ein Propeller, im Juni fiel ein Motor aus. Die Drohne stürzte ab und verursachte ein Feuer - 25 Hektar verbrannten.
US-Bewilligung noch Jahre entfernt
Die Stimmung im Team verschlechterte sich. Letztes Jahr, dem ersten vollen Jahr unter Carbon, wurden mehr als 200 Mitarbeiter entlassen, mehr als doppelt so viele wie im Jahr davor.
Skeete war einer von ihnen. Er sprach an, dass es auf einem Testgelände keine Toiletten gab. Er bezweifelte, dass die Motoren der Drohnen nach einem Absturz wirklich alle geprüft worden waren. Er wollte die Abteilung wechseln, bewarb sich auf mehr als 30 Stellen.
Letzten Monat wurde er entlassen.
Eine Geheimhaltungsvereinbarung zu unterzeichnen um eine Abfindung zu erhalten, lehnte er ab. Zu viele hätten bereits geschwiegen, sagte er.
Es dürfte noch Jahre dauern, bis die US-Luftfahrtbehörde kommerzielle Drohnenlieferungen genehmigt.
(bloomberg/gku)