Einst belächelt, heute gefürchtet: Während die gesundgeschrumpften Tageszeitungen weiter Anzeigen und Auflagen verlieren, legt die Gratiszeitung «20 Minuten» in ihrem fünften Jahr noch einen Zacken zu. Ab Juni liegt sie neu auch in der Zentralschweiz auf. Punkto Leserzahlen wird sie heuer die Boulevardzeitung «Blick» (2003: 746000 Leser) von Platz eins verdrängen - und zwar gerechnet ohne die neuen Zentralschweizer Leser, wie Rolf Bollmann, CEO von 20 Minuten (Schweiz) AG, betont. Die Expansion berappt sie mit eigenen Mitteln. Und: «Dieses Jahr werden wir unter dem Strich schwarze Zahlen schreiben», sagt Bollmann. Der Ertrag stieg 2003 bei stabilen Kosten um 43%.

Die Tageszeitungen zeigen gegenüber «20Minuten» durchaus Respekt, aber von einer Bedrohung will man nicht reden und von Marktanteilsverlusten an das Gratisblatt erst recht nicht. Schuld am Rückgang bei den eigenen Inseraten und der Auflage sei die Rezession.

«Eine Gratiszeitung kann immer Nummer eins sein. Sie muss nur genug Exemplare verteilen», sagt Bernhard Weissberg, Leiter Zeitung beim Ringier-Verlag. Eine Kauf-Zeitung müsse sich die Spitzenposition mit Inhalt erarbeiten. Die Traditionstitel erklären Bollmanns Steigerung der Leserzahlen von 314000 auf 720000 innert zweier Jahre mit der Erschliessung neuer Leserschichten. Zum Kernpublikum gehören die bisher vernachlässigten Leser zwischen 15 und 24 Jahren. ?20 Minuten? ist für viele junge Zeitungsleser ein Türöffner», sagt Tamedia-Sprecherin Franziska Hügli. «Natürlich hoffen wir, dass diese irgendwann mehr wollen in Form eines ?Tages-Anzeigers? zum Beispiel.»

Für Bollmann ist klar, wieso etwa der «Tages-Anzeiger» beim Versuch, diese Zielgruppe mit der Jugendbeilage «Ernst» an Bord zu holen, gescheitert ist: «Man darf die Jugend nicht gettoisieren. Die Kids wollen ein eigenes Produkt, keinen Meinungsjournalismus.» Laut Heinz Bonfadelli, Publizistik-Professor an der Uni Zürich, erreicht «20 Minuten» diese Leser, weil sie sich stark nach den veränderten flüchtigen und bildorientierten Rezeptionsmustern richtet: «Die jungen Leser verweilen bei den Partytipps und postmodernen Themen wie Stars, Freizeit und Computer, nebenbei zappen sie durch die News hindurch.»

Gelang es den etablierten Tageszeitungen in Köln, «20 Minuten» mit einem gemeinsamen Gratisblatt abzuwehren, starten die Schweizer Tageszeitungen einzelne Offensiven: Der Tamedia-Verlag hat sich den Feind sozusagen einverleibt - für die inzwischen abgeblasene Lancierung einer eignen Gratiszeitung wurden 11 Mio Fr. in den Sand gesetzt. Tamedia kontrolliert heute 49,5% der 20 Minuten Schweiz AG, die restlichen 50,5% übernimmt sie vom schwedischen Mutterkonzern Schibsted in zwei Tranchen bis 2006.

Wesentlich für den Erfolg ist neben dem Gratis-Vertriebskonzept das handliche Tabloid-Format. Ausländische Zeitungen profitieren seit einiger Zeit von der Umstellung von Broadsheet auf Tabloid. Diesen Montag startete Ringier den Tabloid-«Blick». «Dieser soll die gesellschaftliche Entwicklung - mehr Mobilität und Convienence - berücksichtigen und einen leichten Auflagenaufschwung bringen», so Weissberg. Selbst die Basler Zeitung Medien AG, die mit der Neuaufmachung der eigenen Gratiszeitung «BaslerStab» grössere Inserateverluste verhindern konnte, hat einen Tabloid-Versuch in der Pipeline. Die «Aargauer Zeitung» ist mit einem Regional-Tabloid bereits gestartet.

*Ein Magnet für Werber*

Tabloids kommen nicht nur bei Lesern an, sondern auch bei Inserenten. Die Bruttowerbeeinnahmen der Tageszeitungen sanken 2003 schweizweit um 100 Mio Fr. auf 1466,6 Mio Fr., zum Teil zu Gunsten von Internet und TV. Im Gegensatz zu den Etablierten legte «20 Minuten» auch hier kräftig zu (siehe Grafik).

Die Beliebtheit des Tabloid-Formats bei den Werbern hat handfeste Gründe: Denn die Inserate sind immer im ersten Bund platziert. «20 Minuten» weist unter den Tageszeitungen entsprechend die höchste Leserbeachtung auf: Diese liegt bei 75,5%, verglichen mit 70,7% beim «Blick» und lediglich 45,4% beim «Tages-Anzeiger». Dazu kommen vergleichsweise günstige Inseratepreise. Um 1000 Leser zu erreichen, zahlen die Werber bei «20 Minuten» für eine vierfarbige Seite 39.75 Fr. Teurer sind «Blick» (40.20 Fr.), «Tages-Anzeiger» (41.50 Fr.) und die «Neue Zürcher Zeitung» (60 Fr.).

Zusätzlich profitiert «20 Minuten» von der Präsenz im goldenen Dreieck Zürich-Bern-Basel, wo prozentual die meisten Menschen mit der höchsten Kaufkraft leben: Rund die Hälfte aller Anzeigen werden in allen drei «20 Minuten»-Ausgaben geschaltet, dabei ist die Wertschöpfung bis dreimal so hoch, wie Bollmann erklärt. Der Gratiszeitung sei ausserdem die Anspannung bei den Werbebudgets entgegen gekommen. Für viele Unternehmen sei ein nationales Inserat in «20 Minuten» eine günstige Alternative zu Inseraten über Swisspool, welche in fünf grossen Deutschschweizer Tageszeitungen inseriert.

Dass «20 Minuten» bei den Inseraten weiter wacker wächst, will Bollmann aber nicht allein auf das Format reduzieren. Die Attraktivität führt er ausserdem auf die klare Positionierung von Aufmachung und Inhalt auf ein urbanes, konsumfreudiges, junges Publikum zurück. Die Leserstruktur von «20 Minuten» solle sich deutlich differenzieren von jener klassischer Tageszeitungen. Die 90 Angestellten von «20 Minuten», davon 50 in der Redaktion, kennen die Wünsche ihrer Zielgruppe aufgrund konstanter Analysen sehr genau. «Für Inserenten ist nicht entscheidend, ob eine Zeitung gratis ist oder nicht, sondern ob sie von einer interessanten Zielgruppe gelesen wird oder nicht», erklärt Bollmann.

*Gratis ist nicht wertlos*

Weitere Wettbewerbsvorteile, die sich «20 Minuten» mittels schlanker Struktur und Synergien mit der Multimedia-Plattform verschafft, erinnern an das Konzept der Billigflieger. Attribute wie billig und gratis rufen Kritik an der Qualität hervor. Bollmann kontert: «Gratis ist ein Bestandteil des Vertriebskonzeptes und kein Qualitätsmerkmal.» Gratiszeitungen verkörpern gemäss dem Kommunikationswissenschafter Stephan Russ-Mohl einen neuen Konsumtrend: Die Endverbraucher bezahlen das Produkt nur mit ihrer Zeit und werden erst zur Kasse gebeten, wenn sie im Supermarkt die Schokolade mit der lila Kuh kaufen und dann natürlich auch die Werbung dafür bezahlen.

Geografisch ist das Wachstumspotenzial von «20 Minuten» noch nicht ausgereizt. Bereits geplant ist der Sprung nach St.Gallen. Bei der Erhöhung der Leserzahl in bestehenden Gebieten jedoch stösst «20 Minuten» an Grenzen. Bollmann: «Wir wollen uns von anderen Zeitungen weiterhin abgrenzen, eine Verwässerung respektive Verbreiterung der Leserschaft kann nicht unser Ziel sein.»

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