Noch vor einer Woche wusste die Welt wenig von Alain Chuard. Niemand ahnte, dass der ehemalige Snowboard-Profi sehr bald sehr reich werden würde. Zu unauffällig lebte der Berner in den letzten vier Jahren hauptsächlich an seinem Computer. Von morgens 5 Uhr bis tief in die Nacht trieb er im kalifornischen Redwood City sein Start-up Wildfire sieben Tage die Woche voran. Seine Routine unterbrach er nur für den täglichen Besuch im Fitnesscenter und das gemeinsame Abendessen mit seiner Verlobten Victoria Ransom – praktischerweise auch gleich der Chef von Wildfire.
Heute kennt jeder Alain Chuard. Er hat soeben dem Suchmaschinengiganten Google seine Firma für rund 350 Millionen Dollar verkauft. Weitere 100 Millionen soll es als sogenannte goldene Handschelle später geben. Der Verkauf eines Start-ups an den führenden Technologiekonzern der Welt, Google, gleicht im Silicon Valley dem ultimativen Ritterschlag. «Ich versuche, extreme Sachen zu machen. Das Snowboarding hat mir geholfen, meine eigenen Grenzen zu überwinden, genau wie später die Wall Street und dann das Silicon Valley», schreibt Alain Chuard der «Handelszeitung» in einer E-Mail. In der Übernahmephase darf er nur schriftlich mit den Medien verkehren.
Der Verkauf an Google macht Sinn. Wildfire ermöglicht es Marken, eine Promotion mit einem Knopfdruck quer über alle Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter, LinkedIn, YouTube, GooglePlus oder Pinterest zu verbreiten. Google besitzt noch weitere Online-Marketing-Tools, sodass Marketingchefs sich dort von der Anzeige bis zur Erfolgsanalyse komplett eindecken können. «Mit Google zusammen sind wir das einzige Unternehmen, das ein komplettes digitales Marketing Cockpit für Marketingchefs anbieten kann – das ist der heilige Gral», so Chuard.
Alternative Börsengang
In einem offenen Loft im kalifornischen Redwood City hat Wildfire seinen Firmensitz. Die Mannschaft von Chuard und Ransom sitzt weniger als eine Autostunde entfernt von den Techgiganten im Silicon Valley. Jeder Mitarbeiter, vom Praktikanten bis zum Chef, hat den gleichen Schreibtisch. Auf dem Boden liegen Skateboards und andere Spielsachen, die jeder mal ausprobieren darf. Den Verkauf ihres «Babys» haben die beiden Gründer sich nicht leicht gemacht: «Ich bin extrem leidenschaftlich, was unseren Raum, unser Team und unser Unternehmen angeht, und Google passt auch von der Kultur her grossartig zu uns», so Chuard.
Der frühere Investmentbanker hatte auch einen Börsengang als Alternative erwogen. Doch am Ende fand er es besser, das Unternehmen nicht selbst weiter aufzubauen, sondern als Teil eines grösseren Gebildes bereits bestehende Grundlagen zu nutzen. «Als erfolgreichstes Technologieunternehmen der Welt hat Google Kontakte, die unserem Verkaufspersonal extrem weiterhelfen werden.»
Bereits heute nutzen rund 16'000 Unternehmen die Wildfire-App – darunter 30 der 50 grössten Markenartikler der Welt. Zu den Kunden gehören so illustre Namen wie Richard Bransons Konglomerat Virgin, das Online-Warenhaus Amazon oder der Lebensmittelriese Unilever. Wildfire ist binnen vier Jahren auf beinahe 400 Mitarbeiter angewachsen.
«Wie ein Puzzle setzen sich die einzelnen Aspekte aus Alains Leben jetzt zusammen», sagt sein Freund Richard Walch, ein Sportfotograf. Er lernte Profisnowboarder Chuard Mitte der 1990er-Jahre bei einem Fototermin im Chalet von Chuards Eltern in Verbier kennen. Die beiden gingen am Tag darauf gemeinsam auf die «Backside» des Mont Fort. Hier gelang ihnen ein Snowboard-Foto von einem gewaltigen Sprung, welches als Doppelseite im US-Magazin «Transworld Snowboarding» veröffentlicht wurde. «Das war mega», erinnert sich Walch. Chuard zeichne sich durch einen starken Willen aus und durch grossartige Balance – «eben nicht nur im Körperlichen, sondern auch im Geistigen».
Schwierige Tricks
Immer wieder übte Chuard als Snowboarder schwierige Tricks, bis sie sassen. Und er hatte die nötige Körperkontrolle, auch nach drei Saltos wieder auf den Füssen zu landen. «Was immer ich mache, mache ich gern gut», sagt Chuard selbst. «Beim Snowboardfahren habe ich gelernt, wie weit ich kommen kann, wenn ich mich anstrenge und ausdauernd bin, und diese Lehre habe ich mir mit auf meinen Weg durchs Leben genommen.» Chuard entstammt einer Unternehmerfamilie und beobachtete sowohl seinen Vater wie auch seinen Onkel dabei, erfolgreiche Geschäfte zu führen. Seine Partnerin Ransom lernte er dann im Studium von Mathematik und Ökonomie in Minnesota kennen – und gab ihr Snowboard-Unterricht.
Schliesslich arbeiteten beide in konkurrierenden Investmentbanken in New York. Chuard begleitete in der Mergers & Acquisitions-Abteilung von Salomon Smith Barney Börsengänge und Übernahmen. Glücklich wurde er dabei nicht. «Leute glauben an den Mythos von Partys an Wall Street, aber in Wirklichkeit ist das nichts als harte Arbeit», schreibt Chuard. «Mir fehlte die Leidenschaft, und man verschwendet sein Leben, wenn man etwas macht, das einen nicht begeistert.» Immerhin sah er die Unternehmer aus der ersten Dotcom-Welle hautnah und schloss für sich: «Das kann jeder.» Man brauche eine gute Idee und eine Vision, dann könne man mit viel harter Arbeit und Durchhaltevermögen der nächste Zuckerberg sein.
Gemeinsam von der Wallstreet entnervt, stiegen Chuard und Ransom aus. Sie zogen in Ransoms Heimatland Neuseeland und überlegten, was ihnen wirklich Spass machen würde. Reisen und Sport waren schon immer ihre Welt. Die Idee, qualitativ hochwertige Abenteuer-Sportreisen für gutzahlende junge Leute an exotische Ziele zu arrangieren, war schnell geboren. Die erste Reise, einen Surfkurs in Neuseeland, arrangierten die beiden selbst. Später wuchsen sie jedoch als Online-Plattform, die das Backoffice für kleine Anbieter vor Ort darstellte und für sie die Buchungen und Bezahlungen übernahm. Chuard schrieb den Code selbst, kümmerte sich aber auch sehr um die Kunden: «Es war eine tolle erste Erfahrung, ein sehr serviceintensives Unternehmen zu betreiben – diese Kundenorientierung unterscheidet uns bei Wildfire von der Konkurrenz.»
Access Travel wuchs zu einem Multimillionen-Geschäft mit 30 Angestellten, das 35 Abenteuer-Sportreisen in alle Welt anbot. Doch den beiden reichte das nicht. Sie kehrten in die USA zurück. Chuard machte seinen MBA in Stanford, während Ransom in Harvard die Business School besuchte. Hier entwickelte Chuard 2008 die Idee für Wildfire. Er wollte als Marketingmassnahme für Access Travel eine Reise auf Facebook verlosen, fand aber die Software zu mühsam und wollte selbst eine bessere Alternative schaffen. Bereits 2010 begann Wildfire so schnell zu wachsen, dass das Gründerpärchen Access Travel verkaufte, um alle Kraft auf Wildfire zu bündeln.
Das Erfolgsgeheimnis für jedes Start-up im Silicon Valley ist es, leidenschaftliche und extrem intelligente Mitarbeiter für sich zu begeistern und bei der Stange zu halten. Hier sind die studierte Psychologin Ransom und der produktorientierte Chuard ein perfektes Paar. Das beeindruckte sogar Arielle Zuckerberg. Die jüngere Schwester des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg arbeitet als Junior Product Manager für ihn bei Wildfire.
«Unser Ziel war, die ultimative Marketingplattform zu bauen und mit dieser Vision die Welt zu verändern», schreibt Chuard wenig bescheiden. Im Silicon Valley gehören das Säbelrasseln und das Weltverändern einfach dazu.
Dennoch hat Alain Chuard den Schweizer in sich nicht ganz abgelegt. Im Silicon Valley fällt er selbst nach Jahren noch auf, weil er beim Autofahren als Einziger perfekt die Blinker setzt und sich über die Kalifornier ärgert, welche das meist vergessen. Am meisten aber vermisst er das gute kräftige Brot mit knuspriger Kruste. Auch Schweizer Patisserien fehlen ihm. «Ein paar Konditoreien kommen den schweizerischen nahe, aber den magischen Ort habe ich noch nicht gefunden.»
In der Schweiz fehlen Teile
Als Gründer ist er freilich schon am richtigen Ort. «Jeder schweizerische Technologieunternehmer, der es ernst meint, braucht zumindest eine Niederlassung im Valley», rät Chuard. In der Schweiz gebe es zwar gute Technologie- und Softwarefirmen, aber das allein reiche nicht. Im perfekten Ökosystem geht es nicht nur um das Produkt, sondern um die Community – die Investoren, die Talente von der Stanford-Universität, die Angel-Venture-Kapitalgeber und die Start-up-Treffs. «In der Schweiz gibt es grossartiges Talent, aber entscheidende Teile fehlen im Schweizer Ökosystem», ist Chuard überzeugt.
Die ursprüngliche Entscheidung, in den USA zu studieren, fällte er aus reinem Spass, etwas Neues kennenzulernen. Den Schritt nach Stanford machte er viel bewusster. «Hier sind selbst die Professoren in Start-ups involviert. Die saugten mich herein.» Obwohl er das Schweizer Bildungssystem phantastisch findet, hat er für Schweizer Unternehmer eine klare Botschaft: «Verlasse die Schweiz nach der Matura und suche dir die beste Universität aus, die dich mit dem Ökosystem verbindet, in dem du arbeiten willst – ganz egal, wo auf dem Planeten das ist.» Nur Auswandern reicht allerdings nicht. Es braucht auch die richtige Portion Leidenschaft. «Es geht um alles, ausser um das Geld», sagt Chuard. Wer etwas nur tue, um Geld zu verdienen, habe das ganze Leben nicht verstanden.
In seinem Privatleben steht der grosse Coup noch aus. Bislang waren Chuard und Ransom so mit ihrem Start-up beschäftigt, dass die Zeit für eine Hochzeit nicht reichte. Die soll im März in Neuseeland nachgeholt werden. Dort kennt sie jetzt auch fast jeder.
Übernahmen: Giganten auf Einkaufstour in der Schweiz
Media-Streams
Die Zürcher Firma wurde 2005 vom amerikanischen Riesen Microsoft übernommen. Sie hatte das Programm E-Phone entwickelt, mit dem Benutzer über das Internet telefonieren konnten. Damit wollte Microsoft sein E -Mail-Programm Outlook zu einer Telefonanlage ausbauen.
Endoxon
Der Suchmaschinengigant Google schluckte 2006 das Mobil- und Internetgeschäft der Luzerner Firma. Sie hatte sich auf die digitale Aufbereitung von Landkarten und Stadtplänen spezialisiert. Die Technologie der Luzerner floss in die Dienste von Google Maps und Google Earth ein.
Rembo
Das Genfer Unternehmen wurde 2006 vom amerikanischen Technologiekonzern IBM aufgekauft. Die für Unternehmen entwickelte Software von Rembo automatisiert Upgrade- und Installationsprozesse bei Betriebssystemen auf Computern.
Silverwire
Das amerikanische Technologieunternehmen Hewlett-Packard kaufte 2006 die kleine Genfer Firma. Silverwire wurde 2003 gegründet und schuf sich als Hersteller von Softwarelösungen für digitale Fotografie einen Namen. Mit dem Kauf wollte der amerikanische Konzern sein Geschäft im Fotodruckbereich stärken.
SAF
Der deutsche Softwarehersteller SAP übernahm 2009 die Firma mit Sitz im thurgauischen Tägerwilen mit ihren rund 100 Mitarbeitenden. SAF entwickelte für Handel, Industrie und Logistik Programme, die den Warennachschub vollständig automatisieren und dabei die Prognosen über die zukünftige Nachfrage berücksichtigen.
Day Software
2010 kaufte der kalifornische Softwarekonzern Adobe für 240 Millionen Dollar die Basler Informatikfirma. Sie wurde 1993 in Basel gegründet und entwickelt Programme, die das Managen von digitalen Inhalten aus unterschiedlichen Quellen erlauben. (db)