Schnaufend klettert Peter Smits die steilen Steintreppen empor. So hat er sich das nicht vorgestellt. Eigentlich hat der Leiter der ABB-Energiesparte an diesem Tag etwas anderes zu tun. Eigentlich wollte er sich, nachdem er Sonntag früh im China World Hotel in Peking eingecheckt hatte, in seine Unterlagen vertiefen. Doch dann redeten seine Konzernleitungskollegen vehement auf ihn ein: Schliesslich sei auch der Verwaltungsrat mit dabei, da könne er doch nicht kneifen. Und so erklimmt Peter Smits mit seinen Kollegen die Chinesische Mauer bei Badaling, 70 Kilometer nordwestlich der 14-Millionen-Stadt. Nicht einmal die Sicht ist gut an diesem Tag im Spätoktober: Wegen des diesigen Wetters sieht man nur ein paar hundert Meter von dem sich auf dem Hügelkamm windenden Befestigungswall, aber nicht Kilometer, wie sonst üblich. Dass Peter Leupp, China-Chef von ABB und Organisator des Ausflugs, noch mehr schnauft, weil er auf seinem Rücken einen prall gefüllten Rucksack die Treppen hinaufschleppt, fällt dem eher missmutigen Smits nicht auf.
Doch kaum ist er oben angekommen, bessert sich seine Laune schlagartig: Leupp und seine Frau zaubern aus dem Rucksack einige Flaschen Champagner und Gläser hervor. Die Geburtstagsüberraschung für Peter Smits, der an diesem Tag sein 53. Lebensjahr vollendet, ist geglückt. Und so stösst auf dem 2700 Jahre alten Gemäuer eine illustre Runde auf sein Wohl an: John Scriven, Chefjurist der ABB, Strategiechef Tobias Becker, die Leupps sowie die Verwaltungsräte Bernd Voss (Exchef Dresdner Bank) mit seiner Frau, Hans Ulrich Märki (Europachef IBM) und Michael de Rosen (CEO von ViroPharma). Am Schluss verteilt Leupp an alle Teilnehmer Erinnerungsfotos und ein Zertifikat, dass sie die Mauer bestiegen haben. «Die Überraschung ist ihnen wirklich gelungen!», strahlt Smits.
In fünf Jahren der wichtigste Markt
Am Abend in Peking stösst zu der Truppe auch der Rest der ABB-Konzernleitung und des Verwaltungsrates. Nun sind die beiden obersten Führungsgremien des 18-Milliarden-Dollar-Konzerns vollständig versammelt – zum ersten Mal in der ABB-Geschichte ausserhalb des Hauptsitzes in Zürich Oerlikon.
Es ist kein gemütlicher Betriebsausflug, den Jürgen Dormann, VR-Präsident und bis Ende des Jahres noch CEO, da organisiert hat. Er will, dass seine Mannschaft den chinesischen Markt mit eigenen Augen erlebt. Am nächsten Tag erklären er und Leupp an einer Pressekonferenz den asiatischen Medien, warum: «China ist lebenswichtig für ABB», sagt Dormann. «Es ist heute nach den USA und Deutschland unser drittgrösster Markt, wir wachsen hier, konservativ geschätzt, pro Jahr um 20 Prozent; in fünf Jahren wird China der wichtigste ABB-Markt sein.»
Dormann liest seine 15-minütige Rede ab, nüchtern und unspektakulär, wie es seine Art ist. Aber die Zahlen haben es in sich: In den nächsten vier Jahren will er den Umsatz von zwei auf vier Milliarden Dollar verdoppeln. Will noch einmal 100 Millionen Dollar dafür einsetzen, zusätzlich zu den bisherigen 600 Millionen Direktinvestitionen. Will die Zahl der Angestellten im Reich der Mitte um 5000 auf 12 000 erhöhen – jeder neunte ABB-Mitarbeiter ist dann Chinese. Hat eben gerade in Peking ein neues Forschungszentrum eröffnet. Dormanns Ausführungen werden simultan vom Englischen ins Mandarin übersetzt. Die Journalisten im fensterlosen Sitzungssaal des China World Hotels nicken höflich. Jede Woche kommt eine andere westliche Firma und erzählt ihnen in
etwa das Gleiche.
Die Aufbauarbeit von Barnevik & Co.
Doch die ABB-Geschichte ist anders. Im Gegensatz zu jenen Konzernen, die China erst jetzt als das gelobte Land erkennen und hastig gen Osten eilen, um dort ihre heimischen Absatzdefizite zu kompensieren, blickt ABB im Riesenreich auf eine lange Geschichte zurück (siehe «Früh die Fühler ausgestreckt» auf Seite 63). Percy Barnevik baute das Chinageschäft zielstrebig auf; sein Nachfolger Göran Lindahl richtete in Hongkong für sich selbst sogar ein permanentes Office ein. Heute hat ABB China 20 Niederlassungen, ist im Bereich Elektrotechnik Marktführer und auch mit ihrer zweiten Sparte, der Automationstechnik, bestens positioniert.
«Man kann von Dormanns Vorgängern halten, was man will, aber dass ABB in China so stark ist, ist das Verdienst von Barnevik und Lindahl», sagt Jacob Wallenberg, Vertreter des schwedischen Grossaktionärs Investor AB im Verwaltungsrat. Zunächst, Anfang der Neunzigerjahre, durfte ABB nur Joint Ventures mit Partnern eingehen, die von chinesischen Behörden «empfohlen wurden», wie es Peter Leupp ausdrückt. Viele westliche Unternehmen haben mit diesen Partnerschaften schlechte Erfahrungen gemacht, etwa wenn es um den Technologietransfer (manchmal auch -diebstahl) ging oder um die Verteilung von Gewinnen. Anders ABB. «Wir haben viel richtig gemacht, aber auch Glück gehabt», sagt Peter Leupp. ABB hatte bei allen Partnerschaften von Anfang an klare Vorstellungen und konnte sich damit durchsetzen. Auch weil man darauf bestand, jeweils den CEO und den Finanzchef zu stellen. Inzwischen, da die Investitionsvorschriften lockerer sind, hält ABB bei all seinen chinesischen Tochterunternehmen die Mehrheit und die Managementkontrolle.
Heute residiert ABB (China) Ltd. in einem grauen Backsteingebäude im Süden Pekings. Vor dem Bauwerk ist eine Reinigungskolonne unablässig damit beschäftigt, jedes kleine Fusselchen vom Boden aufzunehmen. Im Innenhof, vor einer chinesischen Pagode, tritt gerade die private Wachmannschaft in Zweierreihen zum Appell an, so zackig, dass jeder Schweizer Feldweibel daran seine Freude hätte.
Hausherr Peter Leupp ist, seit er 2001 den Chinaposten übernommen hat, der am meisten beneidete Mann im Konzern: Jährlich meldet er Wachstumsraten von 30 bis 40 Prozent nach Zürich. Leicht hat er es nicht: Korruption ist ein Problem, die Bürokratie ebenfalls, und die chinesischen Mitarbeiter müssen das Eingehen von Risiken erst lernen; zu gross ist die Angst, wegen eines Fehlers das Gesicht zu verlieren. Doch dafür ist das Geschäft mit Margen bis zu 25 Prozent hochprofitabel. «China war ein sehr wichtiges, weil stabilisierendes Element während der Krisenjahre», sagt Leupp. Als der Konzern auf der Kippe stand und jeder Rappen dreimal umgedreht werden musste, konnte ABB China seine Expansion selber finanzieren und trotzdem noch etwas Geld nach Zürich überweisen.
So wichtig war das Geschäft, dass Dormann nach seinem Amtsantritt die Chinastrategie persönlich definiert hat. «Man kann sich von dem 1,3-Milliarden-Einwohner-Markt schnell blenden lassen und einfach investieren. Wir haben viel analysiert, Marktpotenziale berechnet, Machbarkeitsstudien durchgeführt. Das hat sich bewährt», sagt Leupp, der Dormann ebenso wie die Berater von Bain & Company bei der Strategieausarbeitung unterstützte.
Dormann hat Erfahrung mit China: Seit fünf Jahren sitzt er im Beratungsausschuss des Bürgermeisters von Peking. VR-Mitglied Wallenberg hat das gleiche Amt für die 15-Millionen-Metropole Shanghai inne, und Automationschef Dhinesh Paliwal berät die Regierung der Provinz Guangdong im Süden des Landes. Das hilft, wenn es irgendwo Probleme mit Autoritäten gibt oder ein Projekt in den Mühlen der Bürokratie nicht so richtig vorwärts kommt: «Guanxi», persönliche Beziehungen, sind zum Geschäftemachen in China essenziell.
Zumal der Staat für ABB der mit Abstand wichtigste Kunde ist: Die chinesische Elektrizitätsversorgung kann mit dem raschen industriellen Wachstum nicht mithalten. Immer wieder kommt es zu Stromausfällen; allein in Shanghai dürfen auf Geheiss von oben 2100 Unternehmen nur noch nachts arbeiten. Gleichzeitig investiert der Staat jedes Jahr 15 Milliarden Franken in die Stromversorgung. Zwei Grossprojekte im Gesamtwert von einer Milliarde Franken, um die am Drei-Schluchten-Staudamm generierte Energie über 1000 Kilometer an die Ostküste des Landes zu transportieren, hat ABB bereits gewonnen. Und bis ins Jahr 2015 wird der Staat nicht weniger als 20 weiterer solcher Grossaufträge vergeben.
Gleichzeitig profitiert der Zürcher Konzern davon, dass immer mehr westliche Firmen in China Fabriken aus dem Boden stampfen und dafür Automationstechnik made by ABB ordern. Solche Aussichten bringen selbst den designierten CEO Fred Kindle zum Schwärmen. Sonst ist er ein zurückhaltender Mann; McKinsey-gestählt und sanierungserprobt, zeigt er kaum Emotionen. Aber wenn er auf China zu sprechen kommt, beginnen seine Augen zu funkeln, hebt sich seine Stimme: «50 Prozent der globalen Betonproduktion und 20 Prozent des Stahls werden in China verbaut. Elf Prozent der weltweiten Kran-Kapazität steht allein in Shanghai und Umgebung», erzählt er freudig. Kindle zeigt ähnliche Symptome wie die meisten Wirtschaftsführer, wenn man sie dieser Tage auf das Thema China anspricht.
Der Hunger nach Wohlstand
Eine knappe Stunde dauert die Fahrt aus Peking Richtung Süden, dann verwandelt sich die Strasse in eine Schlaglochpiste und endet schliesslich inmitten einer Wohngegend, die man wohl als Slum bezeichnen muss. Grösser könnte der Kontrast kaum sein zur durchorganisierten Ordentlichkeit, die den Besucher erwartet, hat er einmal die Tore der hier 1995 gebauten ABB-Fabrik passiert: Das Werk zur Herstellung von Hochspannungsschaltanlagen wurde eins zu eins aus Norwegen kopiert. «ABB Board Group Meeting» steht auf einem Plakat über dem Eingangstor. Eine gewaltige Auszeichnung für die Mitarbeiter, dass der Verwaltungsrat diesen Ort für seine Tagung ausgewählt hat. Und für das achtköpfige Gremium ist der nüchterne Konferenzraum im zweiten Stock des Flachbaus ein ungewohnter Treffpunkt.
Die Tagesordnung: Absegnung der Finanzzahlen des dritten Quartals. Planung für das vierte Quartal. Und das Wichtigste: die Ernennung des neuen Finanzchefs. 40 Kandidaten hatte Headhunter Egon Zehnder vorgeschlagen, 29 genauer geprüft. Die Hand voll Kandidaten, die in die engste Auswahl kamen, haben einen ganzen Parcours an Einzelinterviews absolvieren müssen: Jürgen Dormann hat sie in die Mangel genommen, Fred Kindle sowie Personalchef Gary Steel, ausserdem der Leiter des Nominationskomitees im VR, Hans Ulrich Märki, sowie Bernd Voss, Chef des Auditkomitees. Den besten Eindruck, befanden die Chefjuroren, machte dabei Michel Demaré, bisher CFO beim Chemiekonzern Baxter. Diesem Vorschlag folgte der Verwaltungsrat einstimmig.
Nach einer Stunde unterbricht Dormann die Sitzung. Verwaltungsräte und Management machen sich in zwei Gruppen auf zur Werksführung. «Bücken Sie sich!», ruft Fabrikchef Jinquan Zhang erschrocken dem 1,95-Meter-Mann Fred Kindle zu, als die Gruppe durch eine Seitentür in die Fabrikhalle tritt. Dort biegen dröhnende Stanzmaschinen Bleche zurecht, Schweissroboter setzen Gehäuse für Schaltkästen zusammen und produzieren dabei einen gewaltigen Funkenregen. Der Rest ist überwiegend Handarbeit. «400 Einheiten werden hier pro Woche hergestellt», erzählt der Fabrikchef stolz, doch die meisten seiner Erklärungen gehen im Hintergrundlärm unter. Kindle, studierter Maschinenbauer, nickt und schaut interessiert. Auch wenn das, was hier passiert, nicht richtig Hightech ist. Die wert- und anspruchsvollsten Komponenten baut ABB nach wie vor an den traditionellen Standorten und lässt sie in China nur noch endmontieren. Für ABB Schweiz ist China inzwischen der zweitwichtigste Absatzmarkt, allein das Werk Lenzburg etwa liefert jährlich für 120 Millionen Franken Elektrokomponenten und Fertigprodukte nach Peking.
Eine Halle weiter schraubt Zhao Fei (24) an einem Hochspannungsisolator. Nach der chinesischen Matura hat er auf dem Junior-College eine vierjährige elektrotechnische Ausbildung gemacht, danach arbeitete er bei einem Staatsunternehmen. «Hier ist alles viel besser», strahlt er. Die Stimmung optimistischer, die Möglichkeiten grösser, «und an der Sicherheit wird auch nicht gespart», sagt er und zeigt auf seine feuerfesten Handschuhe. ABB gehörte letztes Jahr zu den zehn beliebtesten Arbeitgebern in China. 1100 Renmimbi, rund 150 Franken, verdient Zhao Fei pro Monat. 42 Wochenstunden sind die Regelarbeitszeit, aber wenn es darauf ankommt, werden auch bis 60 Stunden gearbeitet – «diskussionslos», sagt Peter Leupp. Die meisten Chinesen sind hoch motiviert, ihren Lebensstandard zu verbessern.
Geschäftsdinner verlaufen effizient
«A glorious evening together» und «Partners today and in the future» versprechen knallrote Stellwände im grossen Ballsaal des Hotels. ABB lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, die lokalen Geschäftspartner und Politiker mit der versammelten Führungsmannschaft zu beeindrucken. In der Mitte des VIP-Tisches mit 40 Plätzen sitzt Dormann, um ihn herum die Mitglieder von Verwaltungsrat und Konzernleitung. Neben jedem ABB-Mann ist ein chinesischer Ehrengast platziert, nicht wenige haben direkt oder indirekt mit dem Megaprojekt Drei-Schluchten-Staudamm zu tun. Die Sitzordnung ist genau nach Status austariert. Fred Kindle hat seinen Platz etwas abseits auf der rechten Seite. Seine Zeit kommt erst im Januar, wenn er offiziell den CEO-Posten übernimmt. Die restlichen ABBler und Gäste, darunter auffallend viele Frauen, sitzen an 22 kleineren Tischen à zehn Personen.
Dormann erhebt sich und hält die Rede des Gastgebers: Er unterstreicht die Bedeutung von China und äussert Begeisterung über den raschen industriellen Aufbau des Landes. Alle drei Sätze hält er inne, damit die Übersetzerin das Gesagte auf Mandarin wiederholen kann, auch wenn die meisten Anwesenden gut Englisch sprechen – viele haben in den USA studiert. Zum Schluss lobt Dormann die chinesische Regierung für ihren Kurs. «Sie hat nicht nur das Wirtschaftswachstum vor Augen, sondern das grosse Bild: die Lebensbedingungen, den Umweltschutz, die soziale Balance. Und ABB ist stolz, sie dabei unterstützen zu dürfen!» Das hört man gerne hier. Das hilft bei weiteren Aufträgen.
Danach wird serviert: Haifischflossensuppe, Jakobsmuscheln, Pekingente, Früchteplatte; ein Dutzend Gerichte insgesamt werden auf die Drehplatte in der Mitte des Tisches gestellt, von der sich jeder bedient. Dormann selber kommt kaum zum Essen. Ständig ist er unterwegs, tigert mit dem Rotweinglas in der Hand von Tisch zu Tisch, stösst an, schüttelt Hände. Peter Leupp tut es ihm gleich. Dass zur selben Zeit im Nebenraum US-Aussenminister Colin Powell einen diplomatischen Empfang gibt, nimmt kaum einer zur Kenntnis, so hektisch ist das Treiben: Auf der Bühne unterhält eine lokale Folkloregruppe die Essenden. Ständig steht jemand am Tisch auf und erhebt das Glas auf einen westlichen Gast. Bisweilen prosten die Chinesen dabei immer der gleichen Person zu und steigern so deren Alkoholpegel. Doch einen Toast nicht zu erwidern, wäre sehr unhöflich. Wer in China geschäftlichen Erfolg haben will, muss trinkfest sein.
Irgendwann, nach knapp zwei Stunden Wanderung von Tisch zu Tisch, hat Dormann genug. Langsamen Schrittes sucht er sich einen Stuhl am Rande des Saales. Ganz allein sitzt er da und blickt versonnen auf die Szenerie, die sich vor ihm ausbreitet. Eine Minute verharrt er dort, zwei, das halb volle Glas noch immer in der Hand. Es ist kurz vor neun, der Abend ist noch jung. In wenigen Minuten wird die Übersetzerin das Dinner offiziell für beendet erklären. Dann werden die Gäste keine Sekunde verlieren und zum Ausgang eilen – chinesische Geschäftsessen sind sehr zeiteffizient. Nächstes Jahr, überlegt sich Dormann und schaut auf sein Rotweinglas, wird er den Verwaltungsrat in den USA zusammenrufen. Die Vereinigten Staaten sind traditionell der wichtigste Markt für ABB. Aber nicht mehr lange.