Jörgen Centerman will sich aussprechen. Ins noble Zürcher Zunfthaus zum Rüden hat er geladen, dorthin, wo sich im 14. Jahrhundert die Handwerker der Stadt mit den Adeligen verbündet und erfolgreich gegen den Stadtrat der reichen Kaufleute rebelliert hatten. Doch der ABB-Chef hat heute keine Musse für Historie. Centerman will sich einfach nur erklären. Das tut er ausgiebig und in schnellem Tempo. Von Kundenfokussierung spricht er, von Kostensenkung und Konkurrenzvergleich. Der gewohnte Management-Slang. «Hat es hier eine Wandtafel?», ruft er plötzlich und springt auf. Hat es natürlich nicht in dem Rittersaal mit mittelalterlichen Stichen an den Wänden und Hellebarden neben der Tür. Centerman sinkt wieder auf sein antikes Sitzmöbel zurück, dann stellt er energisch seinen Teller zur Seite und behilft sich mit der Speisekarte. Mit schnellen Strichen kritzelt er ein paar Skizzen auf die Rückseite und hält sie in die Runde: So sieht die neue Unternehmensstruktur aus, und so läuft der Transformationsprozess ab. Zum Essen wird Centerman nicht richtig kommen an diesem Abend im Oktober; der Salat mit Gänseleberterrine bleibt unberührt, das Kalbsfilet an Senfsauce geht zur Hälfte zurück, und vom Früchtesorbet nimmt er auch nur ein paar Löffel voll.

Viel Neues hat Centerman dabei eigentlich nicht zu erzählen. Doch sein Mitteilungsbedürfnis hat seinen Grund: ABB steckt in der tiefsten Sinnkrise ihrer Geschichte. Vor eineinhalb Jahren hatte sich der Konzern endgültig von seinem Kerngeschäft, dem Kraftwerksbau, getrennt. Bewundert, zum Teil bejubelt wurde damals der unternehmerische Mut, sich vom schwerindustriellen Anlagenbauer zum softwareleichten Wissenskonzern zu wandeln und dabei auch heilige Kühe zu schlachten. Es passte ja auch so gut in die ABB-Erfolgsstory. Lange Zeit hatte sich das Unternehmen im Glanz der Managementlegende Percy Barnevik gesonnt und von seinem Ruf als erster wirklich globaler Konzern profitiert. Auch unter Barneviks Nachfolger Lindahl galt ABB – ähnlich wie die Swissair – als Nationalheiligtum, das kaum hinterfragt und noch weniger angegriffen wurde.

Dass es hinter den Kulissen schon längst nicht mehr so rosig aussah, konnte Lindahl, der als exzellenter Verkäufer gilt, jahrelang schönreden. «VR-Präsident Percy Barnevik liess sich lange Zeit von ihm einwickeln», sagt ein ehemaliger Direktunterstellter. Die ständigen Reorganisationen, die Lindahl dem Unternehmen aufzwang, verwischten das Bild zusätzlich. Erst im letzten Herbst konnte er die wahre Situation intern nicht mehr verheimlichen. Knall auf Fall wurde Lindahl daraufhin in die Wüste geschickt.

Inzwischen sieht auch die Aussenwelt: Der Lack ist ab. Darunter zum Vorschein kommt eine angerostete Maschine, die zudem noch gehörig Sand im Getriebe hat: Fünf Quartale in Folge hat ABB die Erwartungen der Analysten nicht erfüllt. Der Aktienkurs verlor seit Jahresbeginn 75 Prozent, so viel, wie er in den letzten zehn Jahren gewonnen hatte. Die Obligationen werden von den Investoren inzwischen ähnlich bewertet wie Junkbonds. Anfang Oktober tauchten gar – umgehend dementierte – Gerüchte auf, dem Konzern drohe die Illiquidität. ABB ist vom Muster- zum Prügelknaben geworden.

Dabei ist das Grundproblem seit Jahren das gleiche: mangelnde Ertragskraft auf Grund zu hoher Kosten. Die Zehn-Prozent-Gewinnmarge, die Barnevik 1988 bei Entstehung von ABB als Ziel verkündet hatte, wurde nie erreicht. Im ersten Semester dieses Jahres lag sie bei 5,6 Prozent, Tendenz fallend. «Ein Drittel so hoch wie bei unseren erfolgreichsten Konkurrenten», gibt Centerman zu.

Genau deswegen verkaufte Lindahl den Kraftwerksbau vor 18 Monaten endgültig an die französische Alstom, nur ein Jahr nachdem er die Aktivitäten in ein gemeinsames Joint Venture eingebracht hatte. In dem Geschäft (in der Regel milliardenteure Grossprojekte mit jahrelangen Bauzeiten) lassen sich bei hohem Kapitaleinsatz nur geringe Margen erzielen, also, so die Überlegung, bleibt in dem Wissenskonzern dafür kein Platz. Glück für ABB war, dass man auf diese Weise die gewaltigen technischen Probleme bei den Gasturbinen auf Alstom abwälzen konnte. Dennoch stellt sich der Verkauf heute als Bumerang heraus: Wie eng der Kraftwerksbau mit den anderen Unternehmenssparten von ABB verbunden ist, hat man offensichtlich unterschätzt. «Früher lieferte der Strombereich von ABB intern jährlich Produkte für 500 Millionen Dollar an die Kraftwerkssparte, der Automationsbereich Erzeugnisse für weitere 100 bis 200 Millionen», rechnet Alexis Fries vor, der früher bei ABB für das Gasturbinengeschäft zuständig war und nun bei Alstom den gesamten Kraftwerksbereich leitet. «Heute kaufen wir fast alles bei Alstom.» Um den Umsatz nicht völlig zu verlieren, musste ABB die Preise der entsprechenden Produktegruppen bis zu 30 Prozent senken – noch mal Gift für die Margen.

Weit schwerer freilich wiegt für ABB der Verlust des Servicegeschäftes. «Wartung und Optimierung der Kraftwerke sind eines der profitabelsten und am schnellsten wachsenden Geschäfte in dieser Industrie», sagt Carsten Henkel, Schweizer Chef der Strategieberatungsfirma Monitor. Beim Verkauf des Kraftwerksbereichs bekam Alstom die Servicemannschaft quasi zum Nulltarif obendrauf. Inzwischen haben die Franzosen das Dienstleistungsgeschäft in eine eigene Sparte ausgegliedert und machen damit rund 2,75 Milliarden Dollar Umsatz. «Dieses Geschäft ist jetzt nicht mehr bei ABB», sagt Fries trocken. Centerman wird sich die Haare raufen angesichts der hohen Margen von rund 20 Prozent: Die rechnerisch 400 Millionen Dollar Reingewinn, welche die ehemalige ABB-Servicemannschaft nun für Alstom erwirtschaftet, würden den Jahresgewinn von ABB um fast 30 Prozent erhöhen, die Ebit-Marge auf knapp 8 Prozent heben – und die Diskussion um die Ertragsschwäche deutlich leiser werden lassen. ABB hat den Fehler bemerkt und versucht nun, via die Automationssparte massiv ins Kraftwerks-Servicegeschäft zurückzukommen. «Aus strategischer Sicht und in Verbindung mit konsequenter Kundenorientierung das einzig Richtige», sagt Henkel.

Auch auf die Liquiditätslage des Unternehmens hatte der Kraftwerksverkauf grosse Auswirkungen: Rund siebzig Prozent des Stromerzeugungsgeschäftes sind Grossprojekte, bei denen der Kunde bei Vertragsabschluss 10 bis 15 Prozent des Gesamtpreises anzahlen muss. Eine Milliarde Franken pro Jahr würde ABB heute aus dem Kraftwerksgeschäft an zusätzlicher Liquidität erhalten – die im Oktober aufgetauchten Gerüchte über eine angebliche Zahlungsunfähigkeit wären so nie entstanden. Auch die mit zehn Prozent inzwischen bedenklich niedrige Eigenkapitaldecke wäre dann kein Anlass zur Besorgnis mehr.

Hätte, wäre – dafür ist es nun zu spät. «Man hat sich die Auswirkungen des Verkaufs nicht bis ins Detail überlegt», sagt Alexis Fries. «Da ist aus der Hüfte geschossen worden.» Renato Fassbind, Finanzchef bei ABB, will das nicht wahrhaben: «Unter dem Gesichtspunkt der Wertschöpfung war der Verkauf richtig», sagt er. Doch Tatsache bleibt, dass sich die Ertragslage seither nicht verbessert hat. Wie schon vor drei Jahren, als aus der gleichen Überlegung mit der Bahntochter Adtranz das andere ehemalige Kerngeschäft abgestossen wurde. Nennenswerte Akquisitionen gab es inzwischen ausser im Automationsbereich mit der holländischen Elsag Bailey kaum.

Die Folge: ABB schrumpft immer mehr. 1995 hatte das Unternehmen 34,6 Milliarden Dollar umgesetzt, letztes Jahr blieben keine 23 Milliarden mehr. Im gleichen Zeitraum halbierte sich der Reingewinn. Die einmaligen Erträge aus den Verkäufen haben die operative Schwäche lange übertüncht. Erst als ABB in diesem Jahr ihre Rechnungslegung auf die strengere US-Gaap-Norm umstellte, wurde den Anlegern bewusst, dass der Konzern die lukrativsten Geschäfte nicht mehr in seinem Kerngeschäft macht, sondern mit Finanzdienstleistungen. Vor allem zeigte sich, dass der Jahresgewinn nur halb so hoch ausfiel wie vorher ausgewiesen. Seither ist die Glaubwürdigkeit an den Aktienmärkten schwer angeschlagen. Die meisten Banken empfehlen, von ABB die Finger zu lassen. Selbst Kurt Schiltknecht, Sprachrohr von Martin Ebner, dem grössten ABB-Aktionär, sagt unumwunden: «Wir hatten andere Vorstellungen von ABB, als wir die Beteiligung kauften.»

Der Vertrauens- und Kursverlust hat dramatische Konsequenzen. Die Börsenkapitalisierung ist inzwischen so weit abgesunken (auf 13,5 Milliarden Franken), dass ABB zum Übernahmekandidaten geworden ist. Einen direkten Konkurrenten hat ABB aus Kartellgründen kaum zu fürchten. Die Wettbewerbsbehörden haben gerade erst die Übernahmen von Honeywell durch General Electric sowie die von Legrand durch Schneider blockiert. «EU-Kommissar Mario Monti würde einer Übernahme sicher sehr kritisch gegenüberstehen», weiss Centerman. Wenn der Aktienkurs hingegen noch weiter sinkt, könnte ABB das Opfer von Raidern werden. Zwar brauchte es dazu einen finanzkräftigen Investor, der auch in der momentanen Wirtschaftslage bereit wäre, Milliarden auf den Tisch zu legen. Doch es würde sich lohnen: Der Börsenwert von ABB liegt bereits jetzt bedenklich nahe an den Erlösen, die eine Zerschlagung des Konzerns bringen könnten. Auf 13,25 Milliarden Franken schätzt die Bank Pictet den Break-up-Value.

Um ABB davor zu schützen, muss Centerman den Aktienpreis schnell wieder nach oben treiben. Doch das Repertoire an kursstützenden Massnahmen hat sein Vorgänger Lindahl im Lauf der letzten Jahre bereits mehrmals durchgespielt: Restrukturierungen, Massenentlassungen, Devestitionen, Aktienrückkaufprogramm – mit dem bekannten Ergebnis. Wie also kann Centerman sein Unternehmen aus der Negativspirale herausholen? Für einen Befreiungsschlag durch eine Grossakquisition hat er kaum Spielraum. Durch den Substanzverlust sind Liquidität und Eigenkapital gesunken, gleichzeitig ist der Verschuldungsgrad markant gestiegen. Das von Lindahl in einem unglücklichen Moment gestartete Aktienrückkaufprogramm hat die Liquidität um eine weitere Milliarde reduziert. Zudem sind die konjunkturellen Aussichten zu schlecht, als dass ABB in nächster Zeit aus eigener Kraft das selbst gesteckte Ertragsziel (neun bis zehn Prozent) erreichen könnte. «Ein verlangsamtes Wirtschaftswachstum ist das Letzte, was ABB in ihrer derzeitigen Krisensituation brauchen kann», sagt Piero Morosini, Professor und ABB-Experte an der Lausanner Kaderschmiede IMD. Bliebe der Verkauf weiterer grosser Unternehmensteile. Den will Centerman explizit nicht ausschliessen. «Wir haben mehrere Geschäftsbereiche im Auge», sagt CFO Fassbind. Die Sparte Öl, Gas und Petrochemie, die nicht zum engeren Kerngeschäft gehört, wäre wohl der heisseste Kandidat. Doch solange sich die Stimmung an den Finanzmärkten nicht bessert, wird er kaum Interessenten finden.

Centerman sind die Hände gebunden. So muss er sich damit begnügen, um Vertrauen zu werben für seine im Januar eingeschlagene Strategie, ABB umzubauen in einen kundenfokussierten Industrial-IT-Konzern mit Schwergewicht auf Strom- und Automationstechnologie. Korrekter: Er muss erst einmal dafür sorgen, dass Mitarbeiter und Aktionäre seine Strategie überhaupt verstehen. Deswegen das verschmähte Essen im Rittersaal, deswegen das zur Verkündung der Quartalszahlen ungewöhnlich grosse Medienbriefing, deswegen die Goodwill-Touren an die verschiedensten Produktionsstätten, die sämtliche Konzernleitungsmitglieder in den letzten Wochen unternahmen.

Denn die Mitarbeiter leiden am stärksten unter der allgemeinen Verunsicherung rund um ABB. Seit mit dem Kraftwerksbau das traditionelle Herz des Konzerns fehlt, ist vielen nicht mehr klar, was ABB eigentlich sein will. Bereits Lindahls Konzept des Wissenskonzerns war schwer zu vermitteln. Doch auch Centermans Vision verrät wenigen, in welche Richtung der Konzern steuert. Zu verübeln ist es ihnen nicht: In neun Jahren haben die Angestellten sechs Reorganisationen über sich ergehen lassen, dazu kam die schrittweise Ausgliederung zweier grosser Sparten via Joint Ventures. «Absolute Verunsicherung bis hinauf ins Topmanagement», ortet ein ehemaliger Kadermann. Centerman ist sich des Problems bewusst: «Wir hatten jedes Jahr mehrere neue Programme. Deswegen hat es nicht funktioniert», übt er Kritik an seinem Vorgänger. Er selber freilich bürdete ABB den grössten Veränderungsschock auf: Zum Jahreswechsel gab es bei ABB gleichzeitig einen neuen Chef, eine neue Konzernleitung, eine neue Strategie und eine neue Struktur, kurze Zeit später wurde der Abbau von 12 000 Stellen bekannt gegeben. «Das war ein bisschen viel auf einmal», gesteht Centerman. «Aber es gibt nur ein kurzes Zeitfenster, wenn man Veränderungen durchbringen will.»

So ist jetzt erst einmal Konsolidierung angesagt. Vier bis fünf Jahre soll es dauern, bis das Konzept Früchte trägt. CFO Fassbind orakelt: «Dann werden wir die besten Margen in unserer Branche haben.» Doch hat Centerman so viel Zeit? Der bullige Schwede zückt wieder seine Speisekarte und deutet auf die Kurve, die er darauf gekritzelt hat. Sie zeigt, wie sich die Stimmung der Mitarbeiter im Lauf eines Transformationsprozesses entwickelt. Zunächst kommt die Anfangseuphorie: Es tut sich was, die Motivationswerte gehen nach oben. Nach relativ kurzer Zeit dreht die Richtung, die Mitarbeiter sind zunehmend konfrontiert mit den Problemen und Schwierigkeiten, die jede Veränderung mit sich bringt. Die Stimmung sinkt, zuerst unter das Ausgangsniveau, dann immer steiler in Richtung Depression.

Etwa dort – das sagt Centerman nicht, aber es lässt sich unschwer erraten – dürfte sich ein grosser Teil der ABB-Mitarbeiter jetzt befinden. Will Centerman mit seinem Programm reüssieren, muss er jetzt die Kurve kriegen, die Linie wieder nach oben bekommen, über das Anfangsniveau und dann noch weit über die vorherige Euphorie hinaus.

Am gleichen Tiefpunkt hätte sein Vorgänger das Programm abgeblasen und eine neue Restrukturierung gestartet. Mit dem Ergebnis, dass jede neue Runde von einem noch tieferen Stimmungsniveau aus gestartet wäre. Centerman, daran lässt er keinen Zweifel, ist wild entschlossen, durchzuhalten und die Kurve zu kriegen. Die Position unter der Nulllinie ist dabei sein bester Schutz: «Jede Veränderung braucht Zeit. Wenn mich der Verwaltungsrat rauswirft, steht mein Nachfolger wieder vor der gleichen Aufgabe.» Und würde von einer noch ungünstigeren Position aus starten.
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