Freitagabend, 1. März. Zwei Tage vor der Abstimmung. Christian Levrat sitzt an einem kleinen Tisch in einem Café in Solothurn. Der SP-Präsident ist in bester Stimmung, er hat sich schon ein paar Pointen für seine Rede vor den 200 Delegierten seiner Partei zurechtgelegt. Er ist sich sicher: Der Abstimmungssonntag wird seiner Bewegung grossen Auftrieb geben.

Am Montag danach ist klar: Levrat ist neben Initiant Thomas Minder der zweite Sieger. Für ihn ist dies der erste taktische Schachzug auf einem langen Kampagnenweg. Sein Antriebsmotor: die Wut der Bürger auf die C-Level-Manager in den Konzernzentralen. Das Fernziel, wie er es nennt: Verteilungsgerechtigkeit. Und wie Minder kämpft Levrat dabei gegen die mächtige Economiesuisse weitgehend ohne Geld, nur mit Geist.

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Siegesgewiss gab Levrat eine Woche vor der Abstimmung die Richtung vor. Gleich vier Initiativen «für eine gerechtere Schweiz» will die SP unterstützen:

  • die 1:12-Initiative zur Deckelung der Managersaläre,
  • die Mindestlohn-Initiative für ein Monatssalär von 4000 Franken,
  • die Erbschaftssteuer-Initiative für Millionenerbschaften und
  • die Initiative zur landesweiten Abschaffung der Pauschalbesteuerung.

Die Begehren beflügeln Levrats Gerechtigkeitsprojekt. Der Zeitplan und das Themenspektrum ergänzen sich. Und plötzlich sieht es nach generalstabsmässiger Planung eines Kampagnenfeuerwerks aus. Doch die SP ist nicht die Economiesuisse. «Wir haben nicht mit einem Masterplan begonnen: Jetzt machen wir Verteilungsgerechtigkeit», erzählt Levrat am Kaffeehaustisch. «Es ist der massive Druck von unten, das spüren wir in jeder Versammlung.» Sein Verdienst ist es nur, die einzelnen Feuerwerker zusammengebracht zu haben.

Die nächste Rakete wird voraussichtlich schon im September mit der 1:12-Initiative gezündet. Der Erfinder ist Marco Kistler, ein junger, widerspenstiger Glarner, der gerne im Kapuzenpullover auftritt. Vor fünf Jahren schon diskutierte er seine Idee mit den Jusos und sammelte auf der Strasse die Unterschriften. Geld für Briefkampagnen und Gedrucktes konnte er nicht einsetzen. Seine Losung ist einfach: Der Chef soll nicht mehr als das Zwölffache des Jahresgehalts des Réceptionisten verdienen.

Bürgerliche Politiker geben sich gelassen. Eine Juso-Initiative, so radikal links, das werde in der wirtschaftsfreundlichen Schweiz keinen Erfolg haben. Und nach dem Zeichen, das nun gesetzt wurde, würden die Bürger nicht noch einmal die Lage verschärfen wollen.

Unmut der Bürger. Levrat beurteilt die Stimmungslage anders. «Glauben Sie wirklich, dass die Abzocker-Initiative die Exzesse bei den Managersalären beendet?», fragt er rhetorisch. Er könnte recht behalten, denn es ist keineswegs ausgemacht, dass sich die Aktionäre künftig – mit mehr Rechten ausgestattet – anders verhalten. So wie kürzlich an der Generalversammlung der Novartis die Stimmung von der Strasse im Saal verpuffte, so könnte das Publikum schon bald wieder über die Salärpolitik in den Grosskonzernen ins Staunen geraten. So darf Levrat auf Abstimmungshelfer in den Grossbanken hoffen, zum Beispiel auf die aufgeschobene Offenlegung von Bonuspaketen oder auf die Nachrichten über eine Willkommensgabe für angeworbene Manager.

«Wenn die Bevölkerung sieht, dass die Massnahmen der Minder-Initiative nicht helfen, dann wird der Druck weiter hoch bleiben», sagt Levrat. Mehr als den Unmut der Bürger hat er nicht aufzubieten, um die 1:12-Initiative zum Erfolg zu führen. Er hat keine PR-Strategen und keine nennenswerten Kampagnen-Sponsoren. Sein Budget reicht kaum an die 100 000-Franken-Grenze, mehr als eine Abstimmungszeitung ist damit nicht realisierbar. Er hat nur den professionellen Vorkämpfer Cédric Wermuth, den Ex-Juso-Haudegen und cleveren Nationalrat, an seiner Seite, der den Abstimmungskampf mit der Ochsentour gewinnen will. Jede Wohngemeinschaft im Land darf ihn zum Nachtessen einladen und so aus erster Hand über die 1:12-Initiative informiert werden. Einzige Bedingung: mindestens zehn Teilnehmer und ein gratis Essen. Sein Motto: «Nehmt den Reichen das Geld weg.»

Die nächste Rakete wird von den Gewerkschaftern mit der Initiative für einen Mindestlohn gezündet. Gewerkschaftsbund-Präsident Paul Rechsteiner hat dafür Verbündete aus dem Arbeitnehmerlager und dem sozialdemokratischen Umfeld gesammelt. Er kann auf eine besser gefüllte Organisationskasse zurückgreifen – und auf seinen Chefökonomen Daniel Lampart. Und im Kampagnenbüro sitzt wiederum – mit einem Halbtagsjob – der Glarner Juso Marco Kistler. Ihr Ziel: Jeder soll mindestens 22 Franken in der Stunde verdienen oder 4000 Franken für eine Vollzeitstelle. In einer repräsentativen Umfrage zählte die Gewerkschaft 85 Prozent Zustimmung, und die Unterschriften waren schnell zusammen. Die Initianten haben einen starken argumentativen Vorteil: Kein Unternehmer will zugeben, dass er weniger zahlt. Warum sollte er also dagegen sein?

Sukkurs aus Brüssel. Die Geburtsstunde der Erbschaftssteuer-Initiative war ein kleines Büchlein, 2008 unter dem Titel «Reichtum ohne Leistung. Die Feudalisierung der Schweiz» erschienen. Autor ist der pensionierte Chef des Statistischen Amtes des Kantons Zürich, Hans Kissling. Der Ökonom errechnete in seiner Streitschrift, dass in den nächsten 30 Jahren pro Jahr im Schnitt vier Personen ein Vermögen von über einer Milliarde Franken erben. Kissling betont, dass er seine Kritik «als systemimmanente Kritik» innerhalb des Systems der Marktwirtschaft begriffen haben will, er ist kein sozialistischer Hasardeur. Seine Argumentation ist fundiert. Ihm geht es um ein Korrekturinstrument, das Leistungsträger der Marktwirtschaft schützt und die «feudale Reichtumsentwicklung» bremst.

Die Initiative wird von EVP, SP, Grünen und CSP sowie dem Gewerkschaftsbund getragen. Die Unterschriften wurden Mitte Februar eingereicht. Die Initianten verlangen, dass nur Vermögen ab zwei Millionen Franken mit 20 Prozent besteuert werden sollen. Ehepartner sollen freigestellt sein, und der Steuerertrag soll der AHV zugeschlagen werden. Ein populärer Schachzug auch hier. Die Initiative ist derzeit bei der Bundeskanzlei in Bearbeitung. Somit kann es noch bis ins Jahr 2015 dauern, bis abgestimmt wird.

Im November 2012 ist schliesslich das Begehren gegen die Pauschalbesteuerung zustande gekommen. Einer seiner Väter, der Zürcher AL-Politiker Niklaus Scherr, ist ein 68er Urgestein. Und auch er ist nicht chancenlos, nachdem kantonale Vorstösse teilweise bereits Erfolg gehabt haben. Aber ein Selbstläufer ist das Projekt nicht: Am 3. März stimmten die Nidwaldner Bürger gegen die Abschaffung in ihrem Kanton.

Levrats Kampagne erhält nun zusätzlichen Auftrieb aus der Europäischen Union, die weitaus schärfere Regeln für den Bankensektor einführen will, als dies in der Abzocker-Initiative verlangt wird. Schon im Mai sollen sie im Europaparlament beraten werden. Levrat traf das nicht unvorbereitet, er fordert nun die Übernahme dieses Rechts. Der SP-Vordenker kann damit rechnen, dass sich ein bekanntes Spiel wiederholen wird: Erst wird ignoriert, dann wird protestiert und der helvetische Sonderweg ausgerufen. Schliesslich werden Bankenvertreter entdecken, dass ihnen keine Wahl bleibt und sie genau diesen Weg beschreiten müssen, weil sie sonst den Marktzutritt in der EU verlieren (siehe Nebenartikel «Brüssel dirigiert»).

Seit Beginn der Finanzkrise lässt die innere Verfassung der Freisinnigen Zweifel aufkommen, ob sie angemessene Antworten für die anstehende gesellschaftspolitische Diskussion finden. «Wir sind weitaus erfolgreicher als unsere liberalen Gegner», sagt SP-Chef Levrat nüchtern. Er sieht «den Beginn einer tief greifenden Reformbewegung, ähnlich wie Anfang der achtziger Jahre mit der GSoA-Bewegung». Seine Lageanalyse wird vom Politologen Claude Longchamp geteilt. «Hier ist etwas Neues passiert», kommentiert der Meinungsforscher. Initiativen über Wirtschaftsfragen seien bis anhin immer abgelehnt worden. «Das Volk folgte immer den Parolen der Wirtschaftskapitäne und der Wirtschaftsverbände und entschied pragmatisch», lautet seine Kurzanalyse, «aber diese Beurteilung ist jetzt Geschichte, das ist passé.»

Irrlichternde Economiesuisse. «Ein statistischer Ausrutscher», meint hingegen Pascal Gentinetta, Geschäftsleiter der Economiesuisse. Ganz so, als wollte er das Ganze als kleinen Unfall schnell vergessen machen. Doch es ist offensichtlich: Volkes Ja für Thomas Minders Initiative kommt für den Wirtschaftsverband einem Fanal gleich. Noch nie wurde in der Schweiz die Wirtschaftselite so drastisch abgestraft. Acht Millionen Franken hat Economiesuisse eingesetzt, alle Tricks und Kniffe der modernen PR-Kommunikation durchgespielt.

Doch in der Öffentlichkeit drehte sich die Wahrnehmung zusehends: Das war nicht mehr die Kampagne des Verbandes der Schweizer Firmen, das war eine Kampagne der leitenden Angestellten aus den Grosskonzernen, die Handschrift der Lobbyarbeit des Herrenclubs in Vorstand und Vorstandsausschuss der Economiesuisse, unter ihnen Salärverteiler wie Rolf Dörig (Swiss Life), Urs Rohner (CS) und Rolf Soiron (Holcim). Gentinetta ahnte wohl sein Legitimationsproblem, als er im Januar erklärte: «Der ganze Standort Schweiz wäre bei einer Annahme der Initiative gefährdet. Das legitimiert unseren mit Mitgliedern aus 100 Branchen und 20 kantonalen Handelskammern breit abgestützten, starken Einsatz.»

Wollen nun die Economiesuisse-Strategen wieder den Untergang des Standortes Schweiz heraufbeschwören? Wieder mit Millionenaufwand eine geistlose Kampagne lancieren? Wie wäre es, wenn sie sich ihrer Geschichte besännen, denn der Schweizer Liberalismus war einmal Vorbild für die Welt? Damals, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, hatten die Zürcher Liberalen noch «ein Gefühl für Sinn und Richtung», schrieb der Historiker Gordon Craig. Sein Buch trug den Titel «Geld und Geist». Geistreiche Argumente sind auch heute gefragt.