Auf 45 Minuten war sie angesetzt, die Telefonkonferenz des Adecco-Verwaltungsrates am Freitag, dem 9. Januar. Austauschen von Neujahrswünschen, Abnicken der Jahresergebnisse, Dividendenvorschlag. Reine Routine. Es kam anders: Die Sitzung dauerte, unterbrochen von Essens- und Schlafpausen, fast das ganze Wochenende. «Die Buchhaltungsprobleme in den USA kamen für uns völlig überraschend», sagt ein Mitglied des Verwaltungsrats.
Selbst Jérôme Caille, Chef des grössten Zeitarbeitskonzerns der Welt, wurde auf dem falschen Fuss erwischt. Seit längerem war er für den 7. Januar mit der BILANZ zum Interview verabredet. 48 Stunden vorher sagte er ab. «Jérôme Caille muss dringend in die USA», hiess es. Fünf Tage später wusste man, warum: Wegen zunächst nicht näher spezifizierter Bilanzprobleme bei der amerikanischen Adecco-Tochter musste das Unternehmen die Bekanntgabe der Jahresergebnisse verschieben. Um zeitweise 48 Prozent stürzte der Aktienkurs daraufhin ab.
Letztlich muss Caille als CEO das Desaster verantworten, durch das an einem Tag 5,4 Milliarden Franken Börsenwert vernichtet wurden, so viel wie nie zuvor in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte. Dennoch ist auffällig, wie sehr Adecco bemüht ist, den jungen Franzosen aus der Schusslinie zu nehmen. «Die Absetzung von Caille ist momentan kein Thema», sagt ein Verwaltungsrat. Geopfert wurden stattdessen Finanzchef Felix Weber und Amerika-Chef Julio Arrietea. Die undankbare Aufgabe, Medien und Analysten stundenlang zu sagen, dass er nichts sagen dürfe, übernahm VR-Präsident John Bowmer. Und damit auch die Rolle des Prügelknaben. Caille tauchte ab.
So ist das Deaster für den erst 36-Jährigen vorerst folgenlos geblieben. Denn der CEO hat einen mächtigen Beschützer: Adecco-Grossaktionär Philippe Foriel-Destezet (18 Prozent Anteil). Die beiden Familien sind seit langem befreundet – Foriel-Destezet war Taufpate des kleinen Jérôme. Und der Wegbereiter von dessen rasanter Karriere: «Er hat Caille während der letzten zehn Jahre immer wieder angetrieben und gefördert», erinnert sich ein Weggefährte. Bereits während des Studiums an der höheren Handelsschule in Lyon machte Caille ein Praktikum bei Ecco, die damals im Besitz von Foriel-Destezet war und 1996 mit der Schweizer Adia zu Adecco verschmolz. Nach dem Studienabschluss mit mittelmässigen Noten übernahm er die Leitung des Büros in Barcelona. Hier spielte er (für 19 000 Franken Gehalt pro Jahr plus sieben Prozent des Gewinnes) Pionier, denn Zeitarbeit war in Spanien gerade erst legalisiert worden. In den folgenden Jahren rackerte sich der Marathonläufer – Bestzeit: unter drei Stunden – durch die Hierarchiestufen nach oben. «Er ist ein enormer Arbeiter, bis zu einem Grad, dass ich manchmal Angst um ihn habe», beschreibt ihn Adecco-Grossaktionär Klaus Jacobs. «On n’est pas là pour rigoler», wir sind nicht hier, um uns zu amüsieren, hören die Mitarbeiter oft von Caille.
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Als Belohnung für seine Erfolge bekam der Ehrgeizling 1997 die Leitung der neu gegründeten Ländergesellschaft in Italien anvertraut. Auch hier galt es, Aufbauarbeit zu leisten. Caille gelang sein Meisterstück: 530 Filialen eröffnete er in fünf Jahren, wurde damit deutlicher Marktführer und machte Adecco Italia aus dem Stand zum viertwichtigsten Umsatzträger im Konzern. Ein ehemaliger Adecco-Kadermann, der für Caille sonst kaum lobende Worte übrig hat, attestiert ihm: «Eine aussergewöhnliche Leistung.»
Cailles grosse Stunde kam im August 2001. Damals setzte Grossaktionär Klaus J. Jacobs durch, die Funktion von CEO und VR-Präsident bei Adecco zu trennen, genau so, wie er dies vorher bei seinen anderen Investments getan hatte. John Bowmer, der bisher beide Ämter innehatte, musste sich gegen seinen Willen mit dem Präsidium begnügen. Bezüglich des Nachfolgers hatten Jacobs und Foriel-Destezet unterschiedliche Vorstellungen. Das Verhältnis zwischen den beiden Grossaktionären, die je vier Verwaltungsräte stellen, war seit je schwierig; auch heute, so ein VR-Mitglied diplomatisch, herrscht ein «sehr sachliches Verhältnis, aber nicht die grösste Freundschaft».
Foriel-Destezet sah Adecco weiterhin als Familienunternehmen. Da seine drei Kinder keine Ambitionen hatten, sein Lebenswerk fortzuführen, war das Patenkind der nahe liegende Ersatz. Jacobs’ Wunschkandidat für den CEO-Posten war Patrick De Maeseneire (heute Chef des ebenfalls von Jacobs beherrschten Schokoladenkonzerns Barry Callebaut). Schliesslich einigten sich die beiden Seiten: «Ich habe Caille als CEO vorgeschlagen, weil er gegenüber den anderen Kandidaten die breitere Unterstützung, insbesondere die von Philippe Foriel-Destezet, hatte», erinnert sich Jacobs. Der französische Grossaktionär akzeptierte im Gegenzug ein strategisches Paket, das die Umsetzung einer von McKinsey erarbeiteten Unternehmensstrategie vorsah und auch die Verlegung des Hauptsitzes nach Zürich beinhaltete, nahe von Jacobs’ damaligem Wohnsitz Küsnacht. Caille wurde so mit 34 Jahren einer der jüngsten Chefs eines «Fortune»-500-Unternehmens. «Ich habe von glücklichen Umständen profitiert», sagte er selber einmal dazu.
Um Cailles fehlende Erfahrung auszugleichen, stellten ihm die Grossaktionäre eine Reihe von alten Recken zur Seite. Philippe Marcel, Verwaltungsrat und Ex-Frankreich-Chef von Adecco, sowie Miguel Alfageme, ebenfalls Verwaltungsrat und als Spanien-Chef ehemaliger Vorgesetzter von Caille, wurden als persönliche Coaches aufgeboten. Auch VR-Präsident Bowmer sollte den jungen CEO in seiner Arbeit aktiv unterstützen. «Dies hat nicht gehalten, was ich mir davon erhofft hatte. Caille war zu sehr auf sich alleine gestellt», sagt Klaus Jacobs heute.
Dem unerfahrenen CEO als Betreuer zugewiesen wurde auch Finanzchef Felix Weber. Eine Kombination, die nicht gut gehen konnte: hier der junge Antreiber, charmant, agil, impulsiv; dort der abgeklärte Zahlenmensch, McKinsey-gestählt. «Die beiden kommen nicht aus dem gleichen Stall», sagt ein Verwaltungsrat. Jetzt hat Caille die Oberhand behalten, Felix Weber musste den Hut nehmen. Aber nicht wegen der Bilanzprobleme in den USA, sondern weil er der «New York Times» ein unautorisiertes Interview und dort dem CEO explizit die Mitschuld an dem Debakel gegeben hatte. Webers interimistischer Nachfolger ist ein Vertrauter von Caille. Kein Einzelfall: Fast das gesamte Topmanagement hatte Caille seit seinem Amtsantritt ausgetauscht und mit Freunden besetzt.
Insgesamt ist Cailles Erfolgsausweis durchwachsen. Adeccos Aktienkurs hat sich seit seinem Amtsantritt schlechter entwickelt als der SMI. Statt – wie im Strategiepapier beschlossen – die profitablere Vermittlung von Spezialisten zu fördern, konzentriert sich Caille auf das Massengeschäft der Temporärarbeit. Deswegen kommen die Margen zunehmend unter Druck. Sehr zum Missfallen von Klaus Jacobs, der über seine Holding und zusammen mit seiner Familie 16,8 Prozent der Adecco-Stimmen kontrolliert und Caille mehrmals zur Einhaltung der Strategie ermahnte. Ein Dorn im Auge ist dem schweizerisch-deutschen Milliardär mit Wohnsitz in England auch, dass Caille zusätzlich zum CEO-Job die Sparte Staffing leitet, den bei weitem wichtigsten Umsatzträger. Darum fehlt ihm auch die Zeit für Kommunikation.
Nun dürften Cailles Tage gezählt sein. Angesichts des jüngsten Debakels hat Jacobs die Geduld verloren (siehe Interview). Auch VR-Präsident John Bowmer setzt er unter massiven Druck. Mit seinen Attacken auf Caille geht Jacobs auf direkten Konfrontationskurs mit Foriel-Destezet. Hält dieser weiterhin zu seinem Schützling, wird es im Verwaltungsrat der Adecco zu einem gewaltigen Kräftemessen kommen.
Für Jérôme Caille gibt es nur einen Ausweg: In den nächsten Wochen muss er beweisen, dass er nicht wegen seines Taufpaten CEO wurde.