September 2008: Die US-Immobilienfinanziers Fannie Mae und Freddie Mac geraten unter staatliche Zwangsverwaltung. Lehman Brothers geht die Luft aus. Das Weisse Haus rettet den weltgrössten Versicherer AIG mit einer Spritze von 85 Milliarden Dollar. Das Finanzsystem steht einen Schritt vor dem Abgrund. Und täglich könnte es ein Schrittchen weiter vorwärtsgehen.
Während Banken weltweit am Tropf hängen, drücken drei komplett unbekannte Tüftler in ihrer Wohnung an der Rausch Street 19 in San Francisco auf die Enter-Taste. Joe Gebbia, Brian Chesky und Nathan Blecharczyk gehen mit ihrer Website airbedandbreakfast.com online: eine Plattform zur Vermittlung von Apartments.
Airbnb - Air what?
Noch kümmert sich kaum jemand um den kalifornischen Frischling. Die Welt hat im Herbst 2008 Besseres zu tun, als auf einen Bettenbörsen-Bonsai namens Airbnb zu achten. Air what?
Wenige Jahre später kennt jeder Airbnb. Das Startup von der Rausch Street 19 hat die ganze Touristik-Szene aufgemischt.
Zehn Jahre nach der Gründung vermittelt Airbnb über vier Millionen Apartments in 65 000 Städten und stellt den Tourismus in 191 Ländern auf den Kopf. Ein Game-Changer. Airbnb, mitten im finanziellen Hurrikan geboren, ist ein Kind der Krise. Und nicht das einzige, das später gross herauskommt.
Zalando, Uber, Bitcoin: Born in 2008
Natürlich, in jenen dunklen Tagen wurden vielerorts Firmen gegründet, die rasch verglühten. Schliesslich waren die Zeiten hart: Kreditklemme, verunsicherte Konsumenten, ausgepowerte Investoren.
Und doch: Die Zeit der grossen Wirtschafts- und Finanzkrise ist reich an Gründungen, die ihren Sektor durchrütteln sollten. Einige der Ideen, die damals zu Finanzspritzen kamen, schrieben Geschichte. Online-Kleiderschrank Zalando: gegründet 2008. Web-Coupon-Gigant Groupon: Baujahr 2008. Das massgebende Bitcoin-Paper: verfasst 2008. Taxidienst Uber: born in 2008.
Man mag das Schlagwort der «Krise als Chance» als billigen, esoterischen Schlachtruf abtun. Und doch sei etwas dran, sagt Innovationsforscher Oliver Gassmann, Direktor des Instituts für Technologiemanagement an der Uni St. Gallen: «In Krisen wird viel infrage gestellt, Änderungen werden angestossen. Entwickler werden ermutigt, neue Wege zu gehen, Einkaufsabteilungen stehen mit grossen Vorgaben unter Druck.» Sonst übliche Trägheitsmomente in Unternehmen würden überwunden, «weil die Notwendigkeit für Veränderung gekommen ist».
In Krisenzeiten setzen sich nur die Allerbesten durch
Ähnlich sieht es Beat Schillig. Turbulente Perioden seien ein guter Nährboden für neue Ideen starker Startups, sagt der Gründer und Präsident des Schweizer Instituts für Jungunternehmen: «Weil es in Krisenzeiten viel schwieriger ist, Investoren zu überzeugen, setzen sich nur die Allerbesten durch.»
Schillig muss nicht lange nachdenken, um nachhaltig erfolgreiche Schweizer Startups aus jener Zeit zu nennen: Online-Kalender Doodle: 2007. Optik-Spezialistin Optotune: 2008. Online-Tourenportal Getyourguide: 2008. Biotech-Unternehmen Insphero: 2009. Oder das Schweizer Social-Media-Startup Wildfire Interactive: gegründet 2008, vier Jahre später für rund 450 Millionen Dollar geschluckt von Google.
«Von Anfang an im Krisenmodus»
Alle Gründer waren von ihrer Zeit geprägt: «Wir haben unsere Firma 2008 mitten in der Finanzkrise gegründet», erinnerte sich Optotune-Chef Manuel Aschwanden 2015 im «NZZ Folio», «wir waren von Anfang an im Krisenmodus.»Was er damit meinte: Wer in der Dürre loslegt, setzt kaum Speck an. Weil die Firmenlenker ständig damit rechnen müssen, dass Finanzströme versiegen und die Zeiten noch härter werden. Der Schmalhans-Approach half den Jungfirmen, ihren Fokus nicht aus den Augen zu verlieren. Mit dieser «No Bullshit»-Mentalität blieben sie auf Kurs, Extratouren konnte sich keiner leisten.
«Hätte man Uber-Taxis per Fax oder Telefon bestellen müssen, wäre das nie zum schnellen Erfolg geworden.»
Stefan Michel, IMD Business School Lausanne
Rückenwind durch iPhone 2007 und App Store 2008
Alleine mit eisernem Sparwillen überlebt aber kein Firmenküken. Viele der disruptiven Firmen vom Schlage eines Airbnb oder eines Uber profitierten in den turbulenten Tagen der nuller Jahre von einer einmaligen Konstellation, erklärt Stefan Michel.
Der Marketingprofessor und Dekan des EMBA-Programms an der IMD Business School in Lausanne spielt damit an auf eine Entwicklung, die ebenfalls in der Zeit der Krise ihren Anfang nahm und kurz darauf ganze etablierte Industrien umkrempelte: «Die Digitalisierung, die 2007 durch Apples iPhone und 2008 mit dem App Store Schwung erhielt, drückte die Transaktionskosten radikal. Hätte man Uber-Taxis per Fax oder Telefon bestellen müssen, wäre das nie zum schnellen Erfolg geworden.»
Die Krise als Nährboden für die Sharing Economy
Den Erfolg von Firmen wie Zalando und Airbnb, die sich zu Disruptoren entwickelten, sieht auch HSG-Experte Gassmann im Zusammenhang mit der digital bedingten «Verbesserung von Produktivität und Kostenreduktion». In den USA dürfte die Krise der aufkeimenden Sharing Economy zum Durchbruch verholfen haben. Die Konsumenten mussten ihre Budgets schärfer beachten und konnten sich mit der Vermietung von Apartments oder der gelegentlichen Arbeit als Taxi-Chauffeur ein dringend benötigtes Zu-brot verschaffen. Gut für Airbnb, gut für Uber.
IMD-Stratege Michel macht weitere Gründe aus für den Erfolg von Airbnb und Co.: Dadurch, dass die Grossfirmen darbten, hätten sich für junge Talente die Einstiegschancen vermindert. Also legten sie selber los: «Desillusioniert von der Welt der Corporates machten sich viele helle Köpfe lieber selber ans Werk. Angezogen auch von der Glorifizierung des Unternehmertums.»
Billiges Geld sorgte für den Nachbrenner
Hatte ein Startup, das in den Dürrejahren 2007 bis 2009 zur Welt kam, den Proof of Concept erbracht und die ersten Jahre überlebt, konnte es sich an einer weiteren krisenbedingten Entwicklung erfreuen: Anlagenotstand. «Jungfirmen, die mitten in der Krise überhaupt zu Investitions-spritzen kamen, hatten einen Vorsprung» sagt Michel. «Und sie profitierten danach, als durch das Quantitative Easing billiges Geld die Märkte flutete und die Zinsen drückte, von einem zusätzlichen Schub.»
So war es auch bei Airbnb. Konnte das Trio von der Rausch Street anfangs nur ein paar Tausender zusammenkratzen, kam es im November 2010 zum Big Bang: Eine Finanzierungsrunde über 7 Millionen Dollar. Ein halbes Jahr später fiel Manna von über 100 Millionen. Airbnb war parat für den ebenso grossen wie unerwarteten Aufstieg. Der Rest ist Geschichte. Wirtschaftsgeschichte.