Es war ein harmloser Smalltalk an einer Dinnerparty – die Folgen jedoch waren verheerend. US-Notenbankchef Ben Bernanke plauderte am Rande eines offiziellen Abendessens im Weissen Haus mit einer jungen Fernsehjournalistin. Frisch von der Leber weg erzählte er der hübschen Maria Bartiromo vom TV-Sender CNBC, dass er bei der Bekämpfung der Inflation einen harten Kurs fahren werde. Selbstverständlich berichtete Bartiromo darüber in ihrer nächsten Börsensendung. Noch während der Show brach an der Wall Street Panik aus. Viele Investoren fassten Bernankes Aussage als klares Signal für weitere Zinserhöhungen auf. In den USA stürzten die Kurse ab und zogen die Märkte Europas und Asiens mit in den Keller.
Mit harten Fakten hatte der Vorgang nichts zu tun. Aber er passt bestens zum derzeit herrschenden Börsenklima: Rund um den Globus zieht die Konjunktur an. Die Unternehmen verkünden Gewinne, die alle Erwartungen übertreffen. Die Zinsen sind immer noch tief. Und sogar die Rohstoffpreise scheinen sich endlich abzukühlen. Theoretisch ist das eine perfekte Welt für die Aktienmärkte. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Seit Anfang Mai kennen die Wertpapierkurse nur eine Richtung: nach unten. Der Dow Jones Index in den USA verzeichnet die höchsten Tagesverluste seit drei Jahren. Und auch in der Schweiz machen die Börsianer lange Gesichter. Der Swiss Performance Index (SPI) hatte sich seit März 2003 mehr als verdoppelt. Nun hat er die gesamten Kursgewinne dieses Jahres schon wieder eingebüsst.
Auf dem Weg nach unten schwanken die Aktienkurse erheblich. Diese hohe Volatilität widerspiegelt die Nervosität der Investoren, die eine Abkühlung der Konjunktur befürchten. Da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich. «Diese Sorgen sind schwer nachzuvollziehen», sagt Rolf Elgeti, Chefstratege für den europäischen Aktienmarkt bei der niederländischen Bank ABN Amro, «denn die Daten sind rundum gut.»
Viel stärker als von den harten Wirtschaftskennzahlen lassen sich die Marktteilnehmer von Gerüchten, Befürchtungen oder politischen Risiken beeinflussen. «Weiche Faktoren haben zurzeit einen stärkeren Einfluss auf den Markt als fundamentale Daten», sagt Alfred Roelli, Leiter Finanzanalyse bei der Genfer Privatbank Pictet. Ende der neunziger Jahre trieben Hoffnungen, Illusionen und Wunschvorstellungen die Aktienkurse in Schwindel erregende Höhen. Heute sind es Unsicherheit und Ängste, welche die Märkte bestimmen, viel mehr als die konjunkturelle Wirklichkeit. Das Marktgeschehen wird in diesen Tagen vor allem von der Anlegerpsychologie bestimmt.
Aktienanalysten versuchen verzweifelt, rationale Gründe für den Kurseinbruch zu finden. Die von der BILANZ befragten Experten meinen, der Fall der Börse sei eine natürliche Korrektur eines Booms, der seit drei Jahren andauert. «Der Auslöser für den Crash war die Angst der Anleger vor der Inflation und davor, dass der Zinserhöhungszyklus in den USA nicht beendet ist», sagt Michael Rist, Aktienstratege der Bank Julius Bär. Momentan sei die Inflation Gift für die Börse.
«Höhere Zinsen machen die Aktien weniger attraktiv», heisst es seit Wochen im Umfeld der Börsen. Doch dieser Erklärungsansatz greift zu kurz. Es ist die Psychologie, welche die Aktienmärkte derzeit eisern im Griff hält. «Die Investoren erwachten aus ihrer Traumwelt, und es erfolgte eine sehr schnelle und heftige Anpassung», sagt Bär-Stratege Rist, «während vor dem 9. Mai jeder Neuigkeit etwas Positives abgewonnen wurde, sehen sie jetzt nur noch das Negative.»
Nicht anders sind die Überreaktionen zu erklären, die in den letzten Wochen das Börsengeschehen geprägt haben. Zum Beispiel bei der Aktie der Medizinaltechnologiefirma Ypsomed. Am 30. Mai rammten die Anleger den Titel buchstäblich in den Boden. 22 Prozent büsste der Titel an diesem Tag ein, auf die ganze Woche bezogen waren es immer noch 11 Prozent. Es bestehen keine vernünftigen Gründe, Ypsomed derart brutal abzustrafen. Das Unternehmen ist kerngesund und scheffelt Gewinne, von denen andere nur träumen können.
Auf Enttäuschung umgebogen wurden auch die Quartalszahlen von ABB, Credit Suisse oder Georg Fischer. Sie alle wurden trotz glänzenden Resultaten und positiven Aussichten gnadenlos heruntergestuft. Ihre Tagesverluste betrugen bis zu sechs Prozent. «Sulzer ist ebenfalls grundlos unter die Räder gekommen», sagt Thomas Pfyl, Head Equity Research bei der Bank Vontobel. Irrationale Reaktionen setzte es auch für Richemont ab. Der Luxusgüterkonzern ist im Geschäftsjahr 2005/06 (per Ende März) um 17 Prozent gewachsen und steigerte das Ebit um 32 Prozent. Die Börse bestrafte die Erfolgsstory mit einem Abschlag von 12,3 Prozent. «Der Erfolg des Luxusgüterkonzerns wurde als enttäuschend eingestuft», schrieb die «NZZ» am Tag danach.
Es ist unbestreitbar: Emotionen beherrschen das Geschehen an den Börsen. Unter den Anlegern macht sich Panik breit. «Bereits müssen Fondsmanager Aktien abstossen, weil Anleger ihre Fondsanteile zurückgeben», sagt Pfyl. Dies vermöge einen Lawineneffekt auszulösen, der unkontrollierbar werden könnte.
Was wiederum rational nicht nachvollziehbar wäre. Denn gemäss Thomas Pfyl haben sich die fundamentalen Faktoren für die Aktienmärkte nicht geändert, und die Börsenbewertungen liegen durchaus im langjährigen Durchschnitt. Von Überhitzung der Börse kann also nicht die Rede sein, obwohl der SPI am 9. Mai das Allzeithöchst von 6325 Punkten erreichte. «Es ist keine Fantasie mehr drin», sagt Jan Poser, Chefökonom der Bank Sarasin. Die Anleger sind mit zweistelligen Gewinnsteigerungen nicht mehr zufrieden. «An der Börse», sagt Poser, «wird nicht mehr wegen des Gewinns, sondern wegen steigender Gewinne investiert.» Doch alle Vernunft sagt: Endlos kann es so nicht weitergehen.
Der Appell an die Vernunft der Börsen hatte schon früher wenig Chancen. Der Dotcom-Hype der neunziger Jahre und der 2000er Crash sind noch zu präsent. Massenphänomene beherrschen auch in jüngster Zeit die Szene. Bis zum 10. Mai aber war die Gier das vorherrschende Thema. Die Investoren nahmen die bestehenden Risiken gar nicht mehr wahr. «Der Risikoappetit der Investoren, zuvor auf rekordhohem Niveau, ist seit der Korrektur im freien Fall», sagt Bär-Stratege Rist. In der verhängnisvollen Börsenspirale von Hoffnung, Gier, Angst und Verunsicherung herrscht jetzt nur noch die Angst vor.
Die Befindlichkeit des Anlegers ist die eine Seite der Medaille, seine Informationsdefizite sind die andere. Die vorherrschende Lehrmeinung besagt, dass die Börsen von allen Märkten dem vollkommenen Markt am nächsten kämen – eine Legende, die sich bis heute hartnäckig hält. In der Tat tragen die Börsen viele idealtypische Eigenschaften des Marktes in sich: eine atomistische Struktur, Homogenität, freiwillige Austauschbeziehungen oder unbegrenzte Mobilität rund um den Globus. Doch just bei der Markttransparenz und den marktrelevanten Informationen hapert es – trotz Informationszeitalter und fortgeschrittener Globalisierung.
Kein Anleger kann in Echtzeit über alle wichtigen Informationen sämtlicher relevanten Aktienmärkte verfügen. Das Internet hat zwar in der Informationsbeschaffung riesige Fortschritte gebracht, doch der Einzelne droht in der Datenfülle den Überblick zu verlieren. Kommt hinzu, dass Laien, was Verfügbarkeit und Beschaffung von Informationen betrifft, nie dieselben Voraussetzungen wie Börsenprofis haben werden. Gerade die Hedge Funds stellen unter Beweis, dass man mit Informationsvorteilen und sophistischen IT-Plattformen Kursgewinne generieren kann – auf Kosten anderer Anleger.
Dass der Informationsstand selbst bei Experten nicht homogen ist und auch nicht sein kann, beweist ein kleines Experiment. BILANZ verglich die aktuellen, zum Teil etwas sibyllinisch formulierten Kaufempfehlungen von drei Banken zu sieben kotierten Schweizer Firmen. In der Einschätzung einig waren sich Helvea (Bank Pictet), Bank Leu und Vontobel nur bei drei Firmen: SGS und Nobel Biocare («halten») sowie Synthes («kaufen»). Bei Ciba plädieren Helvea und Leu für «verkaufen» und Vontobel für «halten». Ähnliche Unterschiede sind bei den Empfehlungen zu Roche, Swiss Re und Serono feststellbar. Hätten alle Analysten denselben Informationsstand, so müssten sie theoretisch zum selben Ergebnis kommen. Schlussfolgerung: Die Informationsdefizite bei den Laien sind noch grösser. Sie führen dazu, dass diese einen Wettbewerbsnachteil hinnehmen müssen. Irrationales Handeln ist so programmiert.
Irrational reagiert die Börse aber auch auf exogene Faktoren, wie die Irrungen und Wirrungen um den Ölpreis und die sensiblen Förderländer beweisen. «Lange hat der steigende Ölpreis auf die Aktienmärkte keinen spürbar negativen Einfluss ausgeübt, er wurde dem hohen Wirtschaftswachstum zugeschrieben», sagt Bär-Stratege Michael Rist. Doch auf einmal schüre der seitwärts tendierende Ölpreis Inflationsängste und trage zum Abwärtstrend bei.
Die Gründe liegen tiefer. Die Börse ist von geopolitischen Unwägbarkeiten mehr abhängig als manch anderer Markt. Die Turbulenzen in den Ölförderländern sind bei weitem nicht ausgestanden. Iran droht im Atomkonflikt mit der Schliessung der Strasse von Hormuz, durch die 40 Prozent des Rohöls für den Westen transportiert werden. Die Probleme in den afrikanischen Förderländern verschärften sich in jüngster Zeit eher, als dass sie sich entspannt hätten. In Nigeria beispielsweise ist eine geregelte Produktion längst nicht mehr gesichert. Und in Südamerika sorgen die populistischen Präsidenten Hugo Chávez (Venezuela) und Evo Morales (Bolivien) für Verunsicherung. 80 Prozent der Erdölquellen liegen in prekären Regionen, die immer wieder für geopolitische Unruhen sorgen.
Dass die Aktienmärkte sensibel auf internationale Krisen reagieren, zeigt ein Blick zurück in die jüngste Geschichte. Im Sommer 1990 überfällt der Irak das Emirat Kuwait, der Golfkrieg bricht aus. Der Dow Jones stürzt in den folgenden Wochen um 20 Prozent ab. 1997 bricht mitten in einem Boom der Tigerstaaten die Asienkrise aus, nachdem Thailand seine Währung dem freien Fall preisgegeben hat. Weltweit krachen die Börsen zusammen. Am 11. September 2001 standen die Börsen zwar bereits am Rande des Abgrunds. Die Attentate in New York geben ihnen den Rest, der Absturz ist beispiellos, die Aktienmärkte verlieren fast 50 Prozent.
Die Zukunft sieht nicht weniger beunruhigend aus. In jüngster Zeit haben die Toprisiken mit direkter Wirkung auf die Aktienmärkte eher zugenommen. Der Rohstoffhunger Chinas und Indiens, die Finanzakrobatik der Hedge-Fund-Manager, das steigende US-Doppeldefizit, die zunehmende Verarmung der Dritten Welt oder potenzielle Pandemien wie die Vogelgrippe drohen das internationale Finanzsystem zu destabilisieren. «Viele der Toprisiken sind eng miteinander verflochten und beeinflussen sich gegenseitig», sagte Suzanne Johnson, Chefin des Global Market Institute von Goldmann Sachs, an einer Tagung. «Die meisten Krisenfälle werden auch gravierende Konsequenzen haben – es ist lediglich unklar, wann und wie sie ausgelöst werden.»
Die Reaktionszeiten der Märkte bei solchen Krisen werden auf Grund der schnelleren Informationsflüsse immer kürzer. Und vor allem in nervösen Märkten, wie wir sie derzeit erleben, lösen solche Neuigkeiten heftige Reaktionen an den Börsen aus, wie der folgenschwere Plausch des US-Notenbankchefs Bernanke mit der TV-Journalistin zeigte. Die Nerven der Anleger liegen blank. Jede Tagesmeldung schlägt ein wie eine Bombe.
Auch Gerüchte verfehlen ihre Wirkung nicht. «Ein Hedge Fund verkauft seine Positionen.» – «Das Unternehmen X wird seine Umsatzziele nicht erreichen.» – «Die Firma Y hat die Bilanzen gefälscht.» Alle paar Minuten gibt es neues Gemunkel an der Börse. «Zurzeit kursieren eine Menge Gerüchte am Markt», sagt Aktienexperte Rolf Elgeti von ABN Amro. «Viele Investoren reagieren schnell darauf. Mit Rationalität hat das nichts mehr zu tun.» Bewegen sich die Wertpapiermärkte stabil in eine Richtung, dann haben Klatsch und Tratsch keine grosse Wirkung auf die Kurse. Ist die Volatilität jedoch hoch, dann lassen sich viele Anleger von Gerüchten in Panik versetzen.
Friedrich Thiessen, Professor an der Technischen Universität Chemnitz, hat das Phänomen der Börsengerüchte wissenschaftlich untersucht. Dabei fand er heraus, dass Aktienkurse auf Grund von Falschmeldungen um durchschnittlich drei Prozent nach oben oder unten bewegt werden können. «Wer dahintersteckt, weiss kein Mensch», sagt Thiessen. Wer davon profitiert, sei dagegen klar. Zum einen haben die Inhaber bestimmter Titel ein Interesse daran, den Kurs nach oben zu treiben. Auch Haltern von Optionsscheinen nützt je nachdem ein Kursanstieg oder -verfall. Die höheren Handelsvolumina, die Gerüchte verursachen, sind für Aktienhändler bares Geld. Denn diese verdienen an jeder Transaktion.
Neben all den emotionalen und irrationalen Einflussfaktoren werden die Aktienkurse auch von diversen Automatismen bewegt. So bauen zum Beispiel viele Hedge Funds und Investmentbanken bei bestimmten Kursniveaus riskante Positionen ab. Für Versicherungen und Pensionskassen gibt es zudem strikte Regelungen, bei welchen Kursen sie zu Verkäufen gezwungen sind. Diese können von aussen irrtümlicherweise für Panikverkäufe gehalten werden. Solche regulatorischen Rahmenbedingungen beschleunigen die Kursverluste. Denn Banken, Versicherungen, Investmentfonds und Pensionskassen haben den grössten Einfluss auf die Aktienmärkte. Auch wenn gegenwärtig sowohl private als auch institutionelle Anleger Aktienpositionen auflösen, so sind es doch die Institutionellen, welche die Trends am Markt bestimmen. Privatanleger lassen sich dann oftmals davon anstecken.
«Zurzeit wird der Markt auch von spekulativen Positionen getrieben», sagt Pictet-Finanzexperte Roelli. Kurzfristig orientierte Investoren nähmen ihre Gewinne jetzt mit. Eine wichtige Rolle spielen dabei Investoren, die ihre Aktienkäufe fremd finanzieren. Die Möglichkeiten, sich günstig zu refinanzieren, schwinden im Umfeld steigender Zinsen. Vor allem in Japan hat die Zentralbank in kurzer Zeit viel Liquidität aus dem Markt gezogen. Dort hatten viele Anleger fast zum Nulltarif Geld aufgenommen und im Rest der Welt investiert – damit ist es nun allmählich vorbei. Viele Spekulanten ziehen sich daher vom Markt zurück. Ihre Aktienverkäufe belasten die Kurse erheblich.
Wer sich jetzt nicht von der Panik anstecken lässt und an seiner persönlichen Anlagestrategie festhält, sollte am Ende belohnt werden. Die Fundamentaldaten sind immer noch gut. Die Bewertungen fair. Die Unternehmen werden ihre Gewinne wohl nicht im gleichen Masse steigern können wie im ersten Quartal dieses Jahres, weiterhin starke Ergebnisse sind aber wahrscheinlich. Die Weltwirtschaft wird ihren Wachstumspfad wohl kaum in den nächsten Monaten verlassen. Und noch stellt die Inflation keine deutliche Gefahr dar.
Trotzdem bringen weitere Kursverluste in den kommenden Wochen Risiken mit sich. Alexander Kobler, Aktienstratege bei der UBS, rät daher zu defensiven Titeln wie Pharmaaktien. «Wer jetzt hauptsächlich auf nicht zyklische Large Caps setzt», sagt Kobler, «kann sicher besser schlafen.» Vorsicht hingegen ist bei Aktien aus Schwellenländern geboten. Die Experten sind sich einig, dass eine Abkühlung dieser Märkte nach dem Boom der vergangenen Jahre durchaus gerechtfertig sei. Gross kapitalisierte Werte aus Good Old Europe sind jetzt wohl der sicherste Hafen.