Wer die Schlacht im Detailhandel studieren will, braucht lediglich ein Stadtzürcher Tram zu besteigen: Rund um den Bahnhof Oerlikon haben die Konzerne ihre Kräfte massiert. An der Frontseite des Bahnhofs bekriegen Migros und Denner eine Lidl-Filiale, die sich im Untergeschoss eines Geschäftshauses niedergelassen hat. Auf der Rückseite, zwischen Durchgangsstrassen und Bürogebäuden, macht am Max-Bill-Platz ein Aldi dem gegenüberliegenden Coop-Supermarkt Kunden abspenstig. Samstags ist es schon am frühen Morgen schwierig, bei Aldi freie Einkaufswagen zu finden.
Die Totengräber sind da – aber beerdigt haben sie noch keinen. Als Aldi und Lidl vor den Toren der Schweiz standen, machten Untergangsszenarien für den heimischen Detailhandel die Runde. Die Grossverteiler Migros und Coop warnten, deutschstämmige Discounter erpressten ihre tieferen Preise, indem sie Mitarbeitern Dumpinglöhne zahlten, Lieferanten ausquetschten und so am Ende die Volkswirtschaft schädigten.
Nichts davon ist eingetreten. Während die neuen Konkurrenten Laden um Laden eröffnen, wachsen Denner und Coop ungerührt weiter, die Migros stagniert auf hohem Niveau. Dass Migros-Chef Herbert Bolliger kürzlich trotzdem wieder mit den alten Argumenten auf die beiden Discounter losging, bewerten nicht nur Migros-Manager intern als «unsouverän und idiotisch», auch in den Leserbriefspalten avancierte Bolliger zum Buhmann. Umso mehr, als die Discounter «sehr gute Löhne» bezahlen, wie der Luzerner Detailhandelsberater Gotthard Wangler resümiert: «Bolligers Rundumschlag war fernab der Realität.»
Ruhe an der Oberfläche. Vom Ausrutscher des Migros-Vorstehers abgesehen, ist nach aussen hin Ruhe eingekehrt. Echte Gefahr geht von den Harddiscountern nur schon aufgrund ihrer vergleichsweise geringen Grösse noch keine aus: Aldi, seit Oktober 2005 aktiv, betreibt derzeit 113 Filialen in der Schweiz, Lidl hat seit ihrem Marktstart im März 2009 gerade in Basel die schweizweit 30. Verkaufsstelle eröffnet. Allein Denner verfügt über 750 Märkte und den dreifachen Umsatz von Aldi, die Grossverteiler liegen ohnehin ein Vielfaches höher.
Die Wirkung von Aldi und Lidl hat sich vielmehr im Vorfeld entfaltet: Wie beim Selbstmord aus Angst vor dem Tod haben Migros und Coop ihre Sortimente diversifiziert, Billiglinien eingeführt und den Preis als Werbemittel entdeckt. Anfang 2009 verbilligte Coop-Chef Hansueli Loosli ohne Not – Lidl hatte noch keinen Markt eröffnet – 600 Markenartikel dauerhaft. Und allein der «Klingen-Krieg» vor wenigen Monaten, als die Grossverteiler die Preise für Gillette-Rasierklingen rasierten, soll Migros nahezu zwei, Coop sogar vier Millionen Franken Gewinnmarge gekostet haben.
Vor allem die Migros wird zur Geisel ihrer erfolgreichen Billiglinie M-Budget, welche die Migros-Eigenmarken mit deren höheren Margen kannibalisiert. Coop arbeitet kassenschonender, hält ihre Prix-Garantie-Reihe schmaler und senkt ihre Preise selektiver als die Migros; Loosli greift Aldi und Lidl gezielt auf Produktebene an, bis hinunter zum einzelnen Erdbeerjoghurt.
Verglichen mit den Discounterschlachten in Deutschland, wo das Wort «Preissenkungswelle» mittlerweile zur Umgangssprache gehört, geht es hierzulande allerdings behaglich zu. Lidl Schweiz kappt die Preise allenfalls in homöopathischen Dosierungen, Aldi hält sich noch stärker zurück. Die Gründe liegen auf der Hand: Beide verdienen vor allem in Deutschland ihr Geld. Bei Aldi ist die Produktivität im Heimatmarkt mit Abstand am grössten, Lidl soll sogar den Konzerngewinn praktisch ausschliesslich dort erwirtschaften. Seit einigen Jahren stockt allerdings das Wachstum im Land der Discountpioniere, und 2009 war für beide ein unschönes Jahr. Warum sich also zusätzlich im Ausland die Erträge zerbröseln? Vor allem Aldi «achtet grundsätzlich sehr darauf, den Ertrag stabil zu halten», sagt der deutsche Handelsexperte Professor Thomas Roeb. Daher trete Aldi «normalerweise nicht sehr preisaggressiv auf». Da in der Schweiz weitere Provokateure fehlen, wie in Deutschland die Handelsketten Penny, Netto oder Norma, haben sich die Detaillisten bequem eingerichtet. Auch Aldi und Lidl geniessen die Hochpreisinsel Schweiz.
Ihr haben sich die Discounter, zum Erstaunen vieler Beobachter, ungewöhnlich stark angepasst. Aldi verkauft nicht wie üblich 700 Artikel auf gut 800 Quadratmetern, sondern hat für die Schweizer Kundschaft Fläche und Sortiment vergrössert (siehe «Schweizer Discounter» im Anhang). Lidl führt eine fast so breite Warenpalette wie Denner. Und ein Schweizer Detailhandelsmanager gesteht, «was für uns alle überraschend gewesen ist»: Die beiden Deutschen zeigen Stärke im Frischwarensegment mit Obst, Gemüse und Fleisch, zudem bei Tiefkühlkost und Backwaren. Das bedeutet mehr Arbeit und Abschreiber auf die schnell verderblichen Waren, und das sind bemerkenswerte Zugeständnisse an die anspruchsvollen Schweizer Kunden. Insbesondere die Aldi-Suisse-Muttergesellschaft Aldi Süd scheut jede Komplizierung ihres puristischen Discountmodells wie der Teufel das Weihwasser. «Einige hartgesottene Aldi-Leute kotzen regelrecht deswegen», grinst ein Branchenmann. Denner konterte und hat ihren Fokus ebenfalls erweitert. Neben den traditionell wichtigsten Umsatzbringern, der bekannt guten Weinabteilung und den Rauchwaren, stockte die Migros-Tochter ihr Frischsortiment auf – es soll gemäss Insidern inzwischen fast so viel Geschäft bringen wie die Zigaretten.
Der Kunde goutiert das breitere Angebot: Aldi dürfte in der Schweiz pro Verkaufsstelle rund zehn Millionen Franken umsetzen – ähnlich viel wie in Süddeutschland, der stärksten Heimatregion.
Auch Lidl soll gemäss Branchenschätzungen etwa auf diesem Niveau liegen. Zwar verkauft Lidl in Deutschland deutlich weniger pro Filiale als Aldi Süd, das breitere Sortiment mit einem Drittel Markenartikeln kommt dem Schweizer Geschmack jedoch stärker entgegen. Aldi führt fast ausschliesslich Eigenmarken. Dass Lidl allerdings pro Verkaufsstelle 15 bis 20 Millionen umsetzt, wie jüngst die «NZZ am Sonntag» schrieb, halten die meisten Branchenleute für weit übertrieben: Schon 15 Millionen wären doppelt so viel Geschäft pro Verkaufsstelle wie im Heimatmarkt Deutschland. In der Schweiz kämpft Lidl zudem mit diversen schwachen Standorten, die den Durchschnitt drücken dürften. Etwa an der Grubenstrasse im Zürcher Industriegebiet Binz. Versteckt zwischen Schreinereien und Lagerhäusern, träumt hier eine Lidl-Filiale vor sich hin – der kleine Kundenparkplatz, berichten Angestellte umliegender Firmen, sei meistens verwaist, und der Weg hierhin wird von zwei Denner-Märkten gesäumt. Und bei der zentral gelegenen Filiale Kloten scheint der Parkplatz beliebter zu sein als der oft schwach besuchte Laden.
Zwar hat auch Aldi suboptimale Standorte – zum Beispiel im Talgut-Zentrum in Ittigen bei Bern. Mittags sei es hier «meistens gähnend leer», ätzt ein Wettbewerber. Dafür hat Aldi, im Gegensatz zu Lidl, längst das Tessin, die Romandie und sogar das Migros-freie Engadin erobert. Hier sorgen die zahlreichen Gastarbeiter und Einwanderer für satte Umsätze.
Kein Werbeslogan. Nicht nur in der Schweiz spielt Aldi die Rolle des Vorreiters, sondern grundsätzlich. Lidl ist der Nachzügler, getrieben von einem verbissenen Willen zum Überholen. Die hoch betagten Aldi-Gründer Karl und Theo Albrecht erlebten den Zweiten Weltkrieg und die folgende Not. Das modellierte die Brüder zu spitz kalkulierenden Kaufleuten, die auch privat wie Eichhörnchen leben. Sie verzichten auf Marktforschung und Konzernstäbe. Aldi hat nicht einmal einen Slogan, sondern übertitelt die Werbung schlicht mit «Aldi aktuell». Hier investiert Aldi allerdings gewaltig: 2009 soll Aldi nahezu 40 Millionen Franken in Werbung gesteckt haben. Das wäre ein Viertel des Coop-Budgets, gut das Doppelte des Lidl-Etats und weit über Denner-Niveau. Geld ist genug da. Albrechts schrecken vor Kreditfinanzierung zurück, also hat Aldi-Süd-Patron Karl den Schweizer Ableger mit gut einer Milliarde Franken Aktienkapital ausgestattet. Das wäre einem SMI-Konzern würdig.
Lidl Schweiz muss mit 25 000 Euro Kapital auskommen. Getreu dem alten Werbespruch «Lidl ist billig» hat Gründer Dieter Schwarz seine Aufholjagd auf Aldi vor 40 Jahren gestartet: mit viel Fremdkapital. Zu den Geldgebern gehört Drogerie-Kaiser Anton Schlecker, berüchtigt für seine farbenfrohen Versace-Hemden.
Lidl, heute mit der Parole «Lidl lohnt sich» unterwegs, war schon immer etwas schriller als Aldi. Aus Norwegen zog sich Lidl mit hohen Verlusten zurück. Im Baltikum hatte der Konzern bereits 50 Grundstücke gekauft, wagte den Markteintritt aber schliesslich doch nicht. Und in Rumänien fuhr Lidl einen Schlingerkurs: rein in den Markt, raus, doch wieder rein. Im Frühjahr 2008, ein volles Jahr vor dem Marktstart, kursierten Berichte, Lidl habe sich in der Schweiz bereits «62 Läden gesichert». Heute, zwei Jahre später, sind gerade einmal 30 Verkaufsstellen an der Arbeit. Die gesamte Detailhandelsbranche lästert über Lidls Werbekampagne, in der die eigenen Mitarbeiter ihren Arbeitgeber loben dürfen: «Wer so etwas machen muss, hat ein Problem», sagt ein Handelsmanager. Tatsächlich deuten zahlreiche Stelleninserate darauf hin, dass es Lidl schwerfällt, Personal zu rekrutieren.
Solche Dinge erlaubt sich Aldi nicht. Der Erfinder des Discountmodells ist zugeknöpfter, aber verfolgt seine Linie ungerührt. Eine Milliarde Grundkapital erlaubt, falls nötig, einen langen Überlebenskampf. Frühere Mitarbeiter berichten, Aldi Suisse habe für die ersten zehn Jahre keinen Gewinn kalkuliert. Schwierige Märkte wie England verlässt Aldi nicht, sondern wartet ab, bis die Akzeptanz der Kunden wächst. Das heikle Thema, ob mit den Zulieferanten fair umgegangen wird, thematisierte Aldi Suisse in einer Plakataktion – offensichtlich mit Erfolg: «Aldi verhält sich schweizerischer als mancher Schweizer Detailhändler», urteilt Handelsberater Gotthard Wangler. Allerdings gibt es auch über Lidls Einkäufertruppe keine Klagen. Beide haben erkannt: Zu viel Druck auf die heimischen Lieferanten brächte Gefahren fürs Image.
Vorbild Österreich. Geführt wird Aldi Suisse offensichtlich von der Ländergesellschaft Österreich. Nicht nur, weil Österreicher mit ihrem weichen Idiom als bekömmlichere Gesprächspartner für Schweizer Lokalpolitiker galten, als es Deutsche hätten sein können – die dortige Aldi-Tochter Hofer gilt auch als glänzende Ertragsperle. Poliert hat sie Länderchef Armin Burger, dem die Schweiz unterstellt war, bevor er dann nach einem internen Streit Aldi Süd verliess. Die heutigen Chefs, Geschäftsführer Günther Helm und Präsident Johann Mörwald, sind beide Österreicher und haben auch ihren Wohnsitz dort. Lidl-Chef Andreas Pohl ist schweizerisch-deutscher Doppelbürger, er stammt aus Muttenz BL.
Aldi und Lidl schielen nun als Zwischenziel auf die magische 200: Mit so vielen Filialen wären die jeweils drei teuren Verteilzentren ausgelastet, welche die Billiganbieter planen. Inhaltlich geht die Reise Richtung Sortimentsausbau: In Deutschland führt Aldi Süd Backautomaten ein, um auch abends warmes Brot im Regal zu haben, und Hofer in Österreich verkauft neuerdings Discountbenzin: Vor den ersten Tankstellen stauten sich die Autos kilometerlang, Ende des Jahres sollen 30 Hofer-Märkte ihre eigenen Zapfsäulen haben.
In der Schweiz stehen Aldi und Lidl am Anfang. Falls nicht die steinreiche Migros irgendwann den Preiskampf lostritt, werden Aldi und Lidl die Initiative ergreifen. In jedem Fall wird der Druck auf die Grossverteiler zunehmen.