Derart vorgeführt wurde noch selten eine Branche in der Schweiz. Gerade mal ein paar mickrige Minuten bevor Bundesrätin Doris Leuthard vor die Mikrofone trat und den Ausstieg aus der Atomenergie ankündigte, waren die betroffenen Stromkonzerne – Axpo, Alpiq und BKW – vorinformiert worden.

Stunden später bekamen die Platzhirsche unter den Strombaronen, Giovanni Leonardi von Alpiq und Heinz Karrer von Axpo, aus dem Mund der Innenministerin zu hören – diesmal gänzlich ohne Vorankündigung –, die Stromindustrie sei «träge» und nur daran interessiert, möglichst viel Strom zu verkaufen.

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Träge, perspektivlos, profitgierig. Man stutzte bei der Alpiq in Olten und der Axpo in Baden. Immerhin war Leuthard jahrelang selber im Verwaltungsrat der «trägen» Axpo-Tochter EGL gesessen, als Verfechterin von Sonnen- oder Windenergie war sie nicht in Erscheinung getreten. «Atom-Doris», wie sie vor ihrer Wahl in den Bundesrat von den AKW-Opponenten betitelt wurde, wird zur «Ausstiegs-Doris» – und damit zum Albtraum von Leonardi und Karrer.

Die Desavouierung der Stromindustrie, Ironie des Schicksals, bringt zwei Manager einander näher, die in vielem grundverschieden sind, sich gelegentlich tüchtig fetzen und nerven. Angesprochen auf die Differenzen zum Branchenkollegen Leonardi, meinte Karrer unlängst, doch, es gebe schon einen Unterschied: Giovanni Leonardi sei ungefähr 1 Meter 75 gross und er 1 Meter 87. Und lachte.

Karrer gegen Leonardi – zwei Strombarone, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Giovanni Leonardi, ein quirliger Südschweizer, kommt in der öffentlichen Wahrnehmung zumindest in der deutschen Schweiz suboptimal an. Er wirkt unflexibel, wenig kommunikativ. Er selbst sagt von sich: «Ich werde als Betonkopf der Schweizer Atomindustrie wahrgenommen.» Logischerweise zu Unrecht: Nicht er, sondern der Bundesrat habe in den siebziger Jahren auf die Kernkraft gesetzt. Er sagt: «Wir führen einen Auftrag aus.» So wich er lange nicht von seiner Meinung ab, die Strombranche brauche als Ersatz zwei neue AKW.

Dass Leonardi auch Wochen nach Fukushima an neuen AKW festhielt, wurde ihm als Sturheit ausgelegt. Karrer dagegen gab den agilen Manager. Zwar ist er wie Leonardi überzeugt, dass neue AKW gebaut werden müssen, weil sonst die Versorgungssicherheit nicht gewährleistet wäre. Nach dem apokalyptischen 11. März sagte er aber: «Der Schock ist so gross. In den nächsten fünf Jahren ist der Bau von Ersatzkernkraftwerken für uns kein Thema mehr.» Nach dem Super-GAU in Japan wäre es für ihn unethisch, auf den Bau neuer Atomanlagen zu pochen.

Tönt gut für einen Strommanager, der massgeblich an Gösgen und Leibstadt beteiligt ist und dem Beznau zu 100 Prozent gehört. Die Eloquenz und die Agilität machten Karrer, wiewohl beim Umsatz bloss die Nummer zwei, zum Vorzeigemanager der Branche. Nach dem Bundsratsentscheid gab er die Verteidigungslinie vor. «Ich hätte auf eine vertiefte Abklärung der Konsequenzen gehofft, die der Ausstieg mit sich bringt», sagte Karrer am Fernsehen.

Streitpunkt Rückzug. Souplesse wollte er auch zeigen, als es um die Sistierung der Rahmenbewilligungsverfahren für die neuen AKW ging. Sowohl Karrer wie Leonardi sind Fragen dazu heute eher lästig. Tatsache ist aber, dass die beiden in diesem Punkt bös aneinandergerieten. Als sich die Lage in Fukushima Mitte März zuspitzte, wollte Karrer zusammen mit der BKW die Rahmenbewilligungsgesuche zurückziehen und dies in den Medien sofort kundtun – als Zeichen des guten Willens. Leonardi sperrte sich dagegen und gab Karrer zu verstehen, dass Alpiq dabei nicht mitmachen werde. Mit dem Argument, dass ein solcher Rückzug in der Öffentlichkeit als heuchlerisch empfunden würde. Leonardi setzte sich durch. Es war schliesslich Leuthard, die das Kommando in der Sache übernahm: Am 14. März verkündete sie einseitig die Sistierung. Die zerstrittene Branche war zum Politikum geworden. Ob es zum Rückzug durch die Branche selbst kommt, lässt sich gemäss Leonardi nicht sagen: «Wir müssen mit unseren Partnern die neue Situation in Ruhe analysieren und dann entscheiden.»

«Karrer ist auch ein Kommunikationsprofi», anerkennt Kontrahent Leonardi. Immerhin habe dieser beim Medienkonzern Ringier gearbeitet. Und als ehemaliger Marketing-Chef von Swisscom wisse er auch, wie man einen staatlichen Industriegiganten in der Öffentlichkeit präsentiere. Seit 2003 wird in der Schweiz die Axpo Super League gespielt, Leonardi zog Jahre später nach und sponsert seit 2009 den Skisport. Das Verständnis für Marken und Medien hat Karrer zweifellos gelehrt, dass man auch in die Niederungen hinabsteigen muss, wenn man verstanden werden will. Der Axpo-Chef ging an Dorfversammlungen, stand Red und Antwort, erklärte den Leuten die Sicherheitslage von Gösgen und Leibstadt. Wahr ist auch, dass Karrer unterschiedlichste Branchen von innen gesehen hat – Sportartikel, Telekom, Medien, Tourismus – und sich nicht seit zwanzig Jahren mit Energie beschäftigt wie ETH-Ingenieur Lombardi. Dieser weilte, als kürzlich 20 000 Demonstranten gegen AKWs marschierten, in den Tessiner Bergen, während Karrer am Pult sass und das Treiben verfolgte.

Auch zu den ärgsten Kritikern hat er ein unverkrampftes Verhältnis. Er stellte sich Umweltschützern, Ausstiegsbefürwortern, Vertretern der Alternativenergien. Selbst mit den Greenpeace-Aktivisten lässt er sich auf den Nahkampf ein. Greenpeace-Mann Kaspar Schuler, verantwortlich für Klima und Energie, hält er für einen guten Mann. Im Skandal um die russische Atomanlage Majak spannte er gar eng mit der Umweltorganisation zusammen. Rund um die Wiederaufbereitungsanlage im Südural sind Umwelt, Erdreich und Gewässer stark radioaktiv verseucht. Die Region gehört neben Tschernobyl zu den verstrahltesten Gebieten der Welt. Doch die Bevölkerung wird weitgehend im Ungewissen gelassen. Leukämie und andere Krankheiten treten in alarmierendem Ausmass auf. Axpo bezieht die Brennstäbe für Beznau 1 und 2 über eine französische Firma aus Majak. Jetzt klärt man die Lieferprozesse ab. «Das ist nicht einfach», sagt Karrer und verspricht Remedur, falls sich der Verdacht erhärten sollte, dass Majak weiter das hässliche Gesicht der Nukleartechnologie zeige.

Abgetaucht. Axpo ist indessen nicht der einzige AKW-Betreiber, der Brennelemente aus dem Ural bezieht. Auch im AKW Gösgen, an dem Alpiq eine 40-Prozent-Beteiligung hält, sind Brennstäbe aus Majak installiert. Alpiq hat sich noch nie um eine Klärung bemüht. Ein Beteiligter: «Alpiq ist einfach abgetaucht.»

Dabei hätte Leonardi es nicht nötig, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Alpiq steht wirtschaftlich nicht schlechter da als Axpo, und ihr Strommix ist weit weniger von der Atomenergie geprägt (siehe Grafiken auf Seite 38). Beide sind mit steigenden Kosten, Überkapazitäten und einer erodierenden Stromnachfrage in Europa konfrontiert. Der starke Franken lässt die Margen im Auslandgeschäft zusätzlich schmelzen. Bei Axpo kommt hinzu, dass in jüngster Zeit einiges nicht optimal gelaufen ist. Das Projekt eines Gas-Kombi-Werks bei Neapel musste aufgegeben werden. Ein Abschreiber von 90 Millionen Franken war die Folge. Ein zeitweiliger Ausfall des französischen AKW Bugey schlug mit einem Verlust von 40 Millionen Franken zu Buche, und der Konkurs einer Grosssägerei in Graubünden kostete Axpo 112 Millionen. Dazu kamen markante Verluste der EGL im Stromhandelsgeschäft.

Aneinandergeraten sind die beiden Branchengrössen nicht nur in der Sistierungsfrage. Einen heftigen Schlagabtausch provozierte auch die Diskussion um den Standort der zwei neuen AKW, die Mühleberg und Beznau ersetzen sollten. Noch heute ist Karrer verschnupft, wenn er an die Episode denkt, die erst letzte Weihnachten einigermassen bereinigt wurde. «Dieser lange Disput hat der Strombranche geschadet», sagt Karrer noch heute. Alpiq, Axpo und BKW einigten sich schliesslich auf eine gemeinsame Projektierungsgesellschaft und drei Rahmenbewilligungsgesuche, wobei die zwei besten realisiert werden sollten.

Alpiq-Chef Leonardi liess von Anfang an die Muskeln spielen. Bereits 2008 preschte er vor und brachte Gösgen in Stellung. Dort müsse eines der zwei Ersatz-AKW gebaut werden. «Wir waren die ersten Gesuchsteller, und Gösgen ist der beste Standort», liess Leonardi immer wieder zum Ärger von Karrer verlauten. Der Hintergrund des Schachzugs von Alpiq ist klar: die Sicherung eines möglichst grossen Stücks am neuen AKW-Kuchen. Die AKW liefern die Bandenergie zum Betrieb der Pumpspeicherwerke. Mit der teuren Spitzenenergie füllen die Strombarone traditionell die Kassen.

Forsch ging Leonardi zur Sache, als er der durch Fukushima verunsicherten Bevölkerung die Kosten eines Ausstiegs vorrechnete. In einem seiner in letzter Zeit häufiger werdenden Interviews in der Deutschschweizer Presse liess er verlauten, dass bei einem Atomausstieg eine vierköpfige Familie «6000 Franken pro Jahr» bezahlen müsste – eine Vervierfachung der Stromrechnung. Derweil meinte der Branchenkollege von Axpo: «Die Stromkosten werden um rund ein Drittel steigen.» Mit ihrer Kakofonie trugen beide weiter zur Verunsicherung bei.

Finanzdisput. Einen Disput gab es auch wegen der Investitionskosten für neue Atomanlagen. Bei Alpiq war man dezidiert der Meinung, dass der gleichzeitige Bau von zwei Anlagen die Kräfte der Schweizer Stromkonzerne übersteigen würde. Eine Fremdfinanzierung sei unvermeidbar. Doch für sich allein sei der Schweizer Kapitalmarkt zu klein, und das Kapital über den Euroraum zu beschaffen, sei wegen der höheren Zinsen zu teuer. Dazu käme noch ein unwägbares Währungsrisiko. Schon jetzt investieren Alpiq und Axpo Milliarden in Sanierung und Ausbau der bestehenden Kraftwerke. Für Alpiq würde es zu eng.

«Ein neues Kernkraftwerk», so Karrer, «kostet sieben bis neun Milliarden Franken.» Es gebe heute keinen Grund zu glauben, dass eine Finanzierung nicht möglich sei. Abklärungen hätten die Auffassung der Axpo bestätigt. «Es gibt Institute, die so grosse Transaktionen tätigen», sagte Karrer in einem Interview. Es seien nicht unbedingt die Schweizer Banken, die sich zur Finanzierung neuer Atomanlagen eher kritisch äusserten.

Karrer könnte sich täuschen und Leonardi recht behalten. Die Finanzierungskosten von AKW steigen stetig – aufgrund der wachsenden Sicherheitsanforderungen und der Entsorgungskosten, die aus dem Ruder laufen. Aus der Renaissance der Kerntechnologie, die Karrer bis vor kurzem noch inständig beschwor, wird wohl nichts, wie Erfahrungen im Ausland belegen. Der Bau der finnischen Atomanlage Olkiluoto ist finanziell völlig ausser Kontrolle geraten. Statt der projektierten drei Milliarden Euro kostet der Bau nun sechs Milliarden. Dazu kommt eine Bauverzögerung von mittlerweile drei Jahren, und ein Ende ist nicht abzusehen. Ob die Anlage je profitabel betrieben werden kann, steht derzeit in den Sternen. Fachleute sind überzeugt: «Die neuen Sicherheitsstandards nach Fukushima werden die Kosten derart in die Höhe treiben, dass ein wirtschaftlicher Betrieb gar nicht mehr möglich ist.»

Teurer Rückbau. Nicht seriös berechnet haben die AKW-Betreiber ausserdem die Kosten für den Rückbau stillgelegter Kernanlagen. In Deutschland, wo im Osten die ersten Anlagen wie Greifswald vom Netz genommen wurden, belaufen sich die Kosten auf das Doppelte oder gar Dreifache des budgetierten Betrags von einer Milliarde Euro – kein gutes Omen für den Rückbau von Mühleberg und Beznau. Der Entsorgungs- und Stilllegungsfonds der Schweizer AKW-Betreiber reicht voraussichtlich nirgends hin. Nach Angaben des Bundesamtes für Energie dürfte beim Fonds ein geschätztes Defizit von sechs Milliarden Franken anfallen. Will die Schweizer Atomlobby die fehlenden Milliarden auftreiben, sind gigantische Anstrengungen erforderlich.

Ob Ausstieg oder nicht – in einem Punkt hat Karrer die besseren Karten: Politisch ist er bestens vernetzt. Im Verwaltungsrat der Axpo, die zu 100 Prozent den Nordostschweizer Kantonen gehört, sitzen Schweizer Politiker und Vertreter der Kantone wie der Glarner Ständerat Pankraz Freitag, die Regierungsräte Reto Dubach aus Schaffhausen oder Ernst Stocker aus Zürich. Im Verwaltungsrat der Alpiq tummeln sich zwar ebenfalls Politiker wie der Solothurner Regierungsrat Christian Wanner oder der Lausanner Stadtrat Jean-Yves Pidoux. Die grösste Fraktion im zwölfköpfigen Gremium stellen indessen die Vertreter der Electricité de France (EDF). Mit vier Mitgliedern sind sie als Minderheitsaktionäre mit 25 Prozent Aktienkapital deutlich übervertreten. Die EDF ist bekanntlich der Atomstromkonzern par excellence. Ihre Abgesandten dürften sicherstellen, dass der Stromkonzern Alpiq und ihr Chef Leonardi vorerst auf Atomkurs bleiben.