Bei der Alzheimerforschung kommt es womöglich zum lang ersehnten Durchbruch. Das US-Biochtechunternehmen Biogen hat bei der US-Medikamenten-Aufsicht FDA die Zulassung für seinen Wirkstoff Adacunamab beantragt.
Dabei waren die Biogen-Verantwortlichen noch im Frühling aufgrund damals vorliegender Studiendaten zum Schluss gekommen, dass die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Einführung von Adacunamab nicht gegeben seien. Die aktuelle Kehrtwende des Unternehmens dürfte deshalb noch einiges zu reden geben.
«Falls erfolgreich, wäre der Schritt von Biogen die dramatischste Wendung zum Guten, die die Pharmaindustrie je erlebt hat», kommentiert die Wirtschaftsagentur «Bloomberg». Der Pharma-Nachrichtendienst «Stat» schrieb von einem «shocking reversal».
«Ich musste mich kneifen», sagt der Forschungschef
«Ich musste mich selber kneifen», zitiert «Stat» Al Sandrock, den Forschungschef und Chief Medical Offiicer von Biogen. Die Veränderung gegenüber der Analyse vom März sei grossartig. Zudem sei er «sehr, sehr glücklich», denn er kenne Menschen mit leichen kognitiven Einschränkungen, «und ich hatte das Gefühl, ich hätte sie im Stich gelassen».
«Das kommt wirklich sehr überraschend, damit hat niemand gerechnet», sagt Christian Lach, Portfolio-Manager bei Bellevue Asset Management; dies zumal die FDA offenbar Biogen ermuntert habe, den Zulassungsantrag einzureichen. «Sollten sich die positiven Daten bestätigen und Biogen eine glaubwürdige Erklärung für die Unterschiede in den beiden Studien haben, könnte die Zulassung tatsächlich erfolgen», so die Einschätzung des Portfolio-Managers.
Die Biogen-Spitze meldete, der neuerliche Antrag sei nach Rücksprache mit der FDA erfolgt. Die erneute Analyse bezog sich auf grösseres Set von Patienten.
Bei Adacunamab handelt es sich um einen Amyoloid-Antikörper, eine Wirkstoff-Kategorie, die aufgrund zahlreicher Antikörper nicht mehr viel Kredit hatte. Auch das macht die Neuigkeit von Biogen so sensationell. Eine zweite Kategorie sind Tau-Antikörper, hier hat unter anderem Roche eine Studie der Pipeline.
Rund 15 Millionen Patienten pro Jahr
Das Datenset zeigte, dass der Wirkstoff den klinischen Rückgang der Gehirnfunktionen in der frühen Phase der Krankheit tatsächlich verlangsamen kann. Er bremse den Niedergang der Gedächtnisleistung sowie die Fähigkeit der Patienten, grundlegende Tätigkeiten selbstständig durchzuführen, schreibt Biogen. Die Verbesserung sei statistisch signifikant.
Sollte es zu einer Zulassung kommen, so wäre das der Durchbruch. Dutzende von Studien sind bereits gescheitert, auch die Schweizer Konzerne Roche und Novartis mussten in diesem Jahr schwere Rückschläge in der Alzheimer-Forschung hinnehmen. Bis jetzt gibt es nur Therapien, welche die Symptome lindern. Alzheimer ist die häufigste neurodegenrative Erkrankung. Weltweit erkranken pro Jahr etwa 15 Millionen Menschen neu daran.
Entsprechend stark reagierte der Aktienkurs der in New York kotierten Biogen, als die Neuigkeit bekannt wurde: Er schnellte am Dienstag im frühen US-Handel um über 40 Prozent nach oben; bei Börsenschluss betrug das Plus noch 26 Prozent.
Die Spur führt von Cambridge nach Schlieren
Doch ein Durchbruch würde nicht nur die Kassen von Biogen füllen; er könnte auch in der Schweiz für einen Geldsegen sorgen. Die Erfinder von Aducanumab sitzen nämlich nicht im amerikanischen Biotech-Mekka Cambridge, sondern im fernen Schlieren. Die hier ansässige Neurimmune, ein 2006 gegründetes Spin-off der Universität Zürich, hat den Wirkstoff an die Amerikaner auslizenziert.
«Die heutige Nachricht markiert einen substantiellen Fortschritt in den Neurowissenschaften», sagt Roger Nitsch, Mit-Gründer, CEO und VR-Präsident von Neurimmune, in einer ersten Stellungnahme: «Dies ist ein lang erwarteter Fortschritt bei der Suche nach einer Behandlung für die Alzheimer-Krankheit. Seit Jahrzehnten hoffen Patienten, Familienangehörige und Pflegepersonen auf einen wissenschaftlichen Durchbruch, der klinischen Nutzen schafft.»
Neuroimmune äussert sich nicht zu den möglichen Erträgen. Aducanumab wurde in einem frühen Stadium auslizenziert. Ein Kenner der Biotech-Industrie geht deshalb davon aus, dass die Lizenzgebühren bei 5 bis 10 Prozent liegen dürften. Bei einem möglichen Umsatz von 3 bis 5 Milliarden Dollar – so vorsichtige Schätzungen der Analysten für Aducanumab – wären das Beträge zwischen 75 und 500 Millionen Dollar.
Was, wenn? Der Bedarf wäre riesig
Bekannt ist, dass das privat gehaltene neue Biotech-Powerhaus vor den Toren Zürichs im Oktober 2017 zu Gunsten einer Einmalzahlung von 150 Millionen auf 15 Prozent der Lizenzgebühren verzichtete. Im Mai 2018 gab das Unternehmen bekannt, dass Biogen von der vertraglich vereinbarten Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, die Lizenzgebühren im Tausch gegen eine weiteren Einmalzahlung von 50 Millionen Dollar um weitere 5 Prozent zu senken.
Klar ist: Bei den Zahlen rund um Alzheimer ist noch mehr Spekulation drin als generell bei möglichen neuen Wirkstoffen, zum Beispiel gegen Krebs; eben, weil es noch keine etablierte Alzheimer-Therapie gibt. Der Bedarf ist so gross, dass eine Therapie – so grossartig sie für die Patienten auch wäre – die Gesundheitssysteme der USA und Europas ans Limit bringen könnte, sollte der Preis zu hoch angesetzt sein.
Der amerikanische Pharmakonzern Biogen forscht im Bereich der Neurologie und dabei insbesondere zu Multipler Sklerose, Immunologie und Hämatologie. Der Hauptsitz ist in Cambridge, Massachusetts, die grösste Produktionsstätte von Biogen befindet sich im Luterbach, Kanton Solothurn. Letztes Jahr erziehlte Biogen 13,5 Milliarden Dollar Umsatz.
(sg)