Der 24. August war kein guter Tag für Jeff Bezos (47). Erst wenige Minuten war das unbemannte Raumschiff «PM2» in der Luft über der Wüste von Texas, als der Kontakt zur Bodenstation abriss. Sekunden später geriet die Rakete in Schieflage. Trotz hektischen Versuchen gelang es der Bodencrew nicht mehr, die Kontrolle wiederzuerlangen. Auf 13 700 Meter Höhe löste das automatische Sicherheitssystem schliesslich die Selbstzerstörung aus. Millionen von Dollars explodierten in einem Feuerball, die Trümmer gingen nahe dem Highway 54 nieder. Und Bezos’ Plan, kommerzielle Rundflüge ins Weltall anzubieten, erlitt einen dramatischen Rückschlag. «Das war nicht das Ergebnis, das wir uns erhofft hatten», liess Bezos verlauten, «aber wir wussten von Anfang an, dass es schwierig würde.»
Der 28. September war ein guter Tag für Jeff Bezos. Auf der Bühne des «SIR Stage37» im New Yorker Stadtteil Hell’s Kitchen feierte er die eigenen Erfolge und präsentierte gleichzeitig eine komplett neue Produktpalette. Höhepunkt war der Kindle Fire, ein neuer und sehr günstiger Tablet-Rechner, der den von Apple dominierten Markt aufzumischen verspricht. «Wir werden viele Millionen davon herstellen», versprach Amazon-Chef Bezos.
Als Unternehmer ist Bezos deutlich erfolgreicher denn als Weltraumpionier. 112 Milliarden Dollar ist Amazon heute wert, Bezos’ Anteil daran über 20 Milliarden. Auf der Liste der reichsten Amerikaner steht er nun vor den beiden Google-Gründern Larry Page und Sergey Brin, vor Facebook-Zar Mark Zuckerberg und vor dem inzwischen verstorbenen Steve Jobs. Trotz Wirtschaftskrise hat Amazon den Umsatz in den letzten drei Jahren von 19 auf 34 Milliarden Dollar fast verdoppelt, die Gewinne explodieren. Mittlerweile arbeiten über 43 000 Menschen für den Konzern. Im Interbrand-Ranking der wertvollsten Marken der Welt liegt Amazon derzeit mit einem Wert von knapp 13 Milliarden Dollar unmittelbar hinter Nike und vor Ikonen wie Ikea, Nestlé oder Sony.
Der Visionär. Schon 1999 ernannte das «Time Magazine» den damals 35-jährigen Firmengründer zur «Person of the year» und huldigte ihm ehrfurchtsvoll als «King of cybercommerce». Zwölf Jahre später ist Jeffrey Preston Bezos auf dem vorläufigen Höhepunkt seiner Unternehmerkarriere angekommen. Ein Visionär, der neue Milliardenmärkte geschaffen hat. Ein Macher, der die IT-Industrie umgestaltet. Und nicht wenige sehen in ihm schon den nächsten Steve Jobs.
Schweizer kennen Amazon zumeist nur als virtuelles Warenhaus, wo sie Bücher und DVD kaufen. Genaue Zahlen gibt Amazon nicht bekannt, aber die Schätzungen reichen von 30 bis 100 Millionen Franken, für die jährlich Ware beim deutschen und französischen Ableger von Amazon bestellt und ab 20 Euro portofrei in die Schweiz geliefert wird. Tatsächlich ist der Versandhandel mit 57 Prozent des Umsatzes noch immer die Cash Cow von Amazon. Doch die Firma ist weit mehr: Mit ihren Kindle-Lesegeräten revolutioniert sie den über 500 Jahre alten Büchermarkt in gleicher Weise, wie das Apple mit dem (deutlich jüngeren) Musikmarkt gelang – diesen Mai verkaufte Amazon erstmals mehr digitale als gedruckte Werke. Mit ihren Cloud-Diensten ist die Firma an der Spitze jener technologischen Revolution, die derzeit die ganze Industrie durchschüttelt. Und jetzt also noch Tablet-PC.
Es ist ein boomender Markt, den Bezos da attackiert. 64 Millionen Tablet-Rechner werden dieses Jahr weltweit verkauft, 2015 sollen es schon 147 Millionen sein. Bislang beherrscht Apple mit rund drei Vierteln der Marktanteile das Geschäft. Die anderen Anbieter – wie Samsung, Acer, RIM – haben bis jetzt wenig Erfolg, auch deshalb, weil sie das iPad preislich nicht ernsthaft konkurrenzieren können. Anders Amazon: Der Kindle Fire wird in den USA zum Kampfpreis von 199 Dollar angeboten (Preis und Datum der europäischen Markteinführung stehen noch nicht fest). Das sind 60 Prozent weniger, als das günstigste iPad kostet, und es dürfte den noch nicht existierenden, aber potenziell milliardenschweren Low-End-Teil des Tablet-Marktes schaffen. Machbar, weil teure Features wie Kamera oder UMTS-Zugang fehlen. Machbar vor allem, weil Amazon das Gerät subventioniert.
Sein Geld wird Bezos woanders wieder hereinholen: mit digitalen Inhalten. Eine Million E-Books hat Amazon auf ihren Servern gespeichert, über 100 000 Filme und TV-Shows, 17 Millionen Songs, Hunderte von Zeitungen und Zeitschriften. 15 Milliarden Dollar setzt Amazon heute damit schon um, dank dem Kindle Fire dürften es noch einmal deutlich mehr werden. Hauptkonkurrent auch hier: Apple, die mit dem iTunes Store (4,1 Milliarden Dollar Umsatz) das zweitgrösste Öko-System zur Vermarktung digitaler Inhalte anbietet. Auch bei Cloud-Services treffen die beiden Firmen aufeinander. Während Apple das Geschäft erst dieser Tage aufnahm, ist Amazon schon viereinhalb Jahre in der Datenwolke aktiv und setzt damit geschätzte 750 Millionen Dollar pro Jahr um, Tendenz stark steigend. Amerikanische Kunden etwa können ihre bei Amazon gekauften Bücher, Songs und Filme in der Cloud lagern und von jedem internetfähigen Gerät abrufen; Daten-Back-ups stehen auch europäischen Usern offen. Die Grossrechner sind so leistungsfähig, dass Amazon sie gegen Entgelt auch Drittfirmen zur Verfügung stellt und dabei als Preisbrecher gilt. Als eine Panne im April eines der Rechenzentren lahmlegte, waren auch andere namhafte Internetfirmen wie Foursquare oder Quora nicht mehr erreichbar.
Und für noch etwas sind die Rechenzentren da: fürs Ausspionieren der User. Denn der Fire-Browser leitet den Traffic über die Amazon-Server, damit die Websites dort für das Tablet aufbereitet werden – offiziell, um das Surfen zu beschleunigen. So weiss die Firma aber auch jederzeit, welcher Kunde welche Websites besucht und sich für welche Produkte interessiert. Dieses Wissen kann Amazon für massgeschneiderte Angebote nutzen – für irgendetwas ist man ja schliesslich der weltgrösste Online-Händler. Kein Wunder, sehen Kritiker hier bereits grosse Datenschutzprobleme auf die Firma zukommen.
Pizza-Teams. Jeff Bezos wird das nicht abhalten. Seit er als Kind jeden Sommer auf der texanischen Ranch seines Grossvaters Ställe ausgemistet, Rinder kastriert und Traktoren repariert hat, weiss er: «Um etwas Neues zu schaffen, muss man stur und fokussiert sein, bis zu einem Punkt, den andere für unvernünftig halten mögen.» Und noch etwas anderes lernte er in seiner Zeit als Cowboy: Eigenständigkeit. Grosse Arbeitsgruppen oder Gruppendenken hasst er. Bei Amazon etablierte er firmenweit das Konzept des «Zwei-Pizzen-Teams» – jedes Team soll maximal so gross sein, dass es von zwei Pizzen satt wird.
Klingt verrückt? Mag sein. Aber Bezos prägt und dominiert sein Unternehmen in ähnlichem Masse, wie das bei Steve Jobs mit Apple der Fall war. Und er gilt als ebenso penibler Mikromanager, der sich über die Empfehlungen seiner Mitarbeiter hinwegsetzt. Wie die Homepage aussieht, bestimmt Bezos selber, bis zum letzten Pixel. Der eigens dafür angeheuerte Larry Tesler, vorher Chefwissenschaftler bei Apple und der wohl geachtetste Experte auf dem Gebiet der Interaktion zwischen Mensch und Computer, versuchte ihn drei Jahre lang zu überzeugen, dass die Website zu kompliziert sei – bis er schliesslich resigniert kündigte. «Bezos ist superintelligent, versteht mich nicht falsch», schrieb der Ex-Mitarbeiter Steve Yegge kürzlich in einem vielbeachteten Blogeintrag. «Aber im Vergleich zu ihm sieht ein normaler Kontrollfreak aus wie ein bekiffter Hippie.» Alles, was quantifizierbar ist, will Bezos mit Spreadsheets messen; selbst die Kriterien, warum er seine Frau Mac-Kenzie heiratete, soll er einst nach Wichtigkeit geordnet aufgeführt haben.
Das freilich reicht noch nicht, um ein Milliardenunternehmen zu schaffen. Bezos, Montessori-Schüler wie die Google-Gründer Brin und Page, zeichnet sich dadurch aus, immer wieder grosse Wetten einzugehen – und dabei langfristig zu denken. Als er 1994 seinen gut bezahlten Job als Investment Banker an der Wall Street aufgab, um in Seattle einen virtuellen Buchladen im gerade entstehenden World Wide Web zu eröffnen, sah sein Businessplan keine Gewinne vor für die folgenden vier bis fünf Jahre (es wurden dann sogar acht Jahre). «Etwas zu erfinden, benötigt die Bereitschaft, zu scheitern und lange Zeit missverstanden zu werden», sagt der Mann mit dem lauten Lachen. Marktanteile zu gewinnen, das Angebot zu erhöhen oder den Service zu verbessern, war ihm lange Zeit wichtiger als Gewinne.
Und er zögert auch nicht, seine eigenen Ertragsquellen aufs Spiel zu setzen, wenn es dem Kunden nützt: Als er in den späten neunziger Jahren den Amazon-Shop für Drittanbieter öffnete, welche die gleichen Produkte teilweise billiger anbieten, erklärten ihn nicht wenige für verrückt. Heute macht dieses Drittgeschäft 34 Prozent des Warenumsatzes aus – und generiert zum Teil überdurchschnittlich hohe Margen, weil die Lagerhaltungskosten entfallen. Als Amazon 2007 den E-Book-Reader Kindle lancierte, setzte Bezos sein eigenes Mediengeschäft (Bücher, Musik, Filme, Games) aufs Spiel, das damals zwei Drittel des Gesamtumsatzes ausmachte. Im Jahr 2011 gehört das Lesegerät mit geschätzten 18 Millionen verkauften Exemplaren zu den grössten Umsatztreibern im Konzern. Und anders als Apple öffnet Amazon ihre virtuelle Bibliothek für alle möglichen Geräte – vom PC übers iPad bis zum Smartphone. Damit erreichen die Inhalte einen deutlich grösseren Markt.
Mit seinem kundenzentrierten Ansatz schuf Bezos Features, die heute banal erscheinen, bei ihrer Einführung aber eine Sensation waren: etwa dass Käufer die Ware bewerten dürfen (auch negativ), die automatisch generierten Produktempfehlungen («Ihnen könnten diese Artikel gefallen») oder das One-Click-Shopping. Traditionelle Konkurrenten aus dem Buchgeschäft sind weit zurückgefallen (Barnes & Noble) oder haben die Segel gestrichen (Brooks). Mittlerweile reicht Amazons Angebot von Frischfleisch über Windeln bis zu Schuhen und Möbeln.
eBay als letzter Konkurrent. Einziger ernstzunehmender Herausforderer im E-Commerce ist heute eBay. Doch auch diesem ist Amazon enteilt. Und das dürfte so weitergehen. Ursprünglich plante Bezos 2011 mit neun weiteren vollautomatisierten Logistikcentern. Jetzt werden es 15 – zwei davon in China, wo Bezos eigene Velokuriere beschäftigt, um die Ware in den verstopften Metropolen zu verteilen. «Amazon wächst in den USA beim Online-Handel viermal und international immer noch zweieinhalbmal schneller als der Wettbewerb», sagt Scott Devitt, Analyst bei J.P. Morgan.
Auch das Geschäft mit Inhalten wird dank Tablets weiter stark zunehmen, im nächsten Jahr soll zudem ein zweiter, grösserer Tablet-Rechner folgen. Wichtigster Hoffnungsträger aber sind die Cloud-Services: Irgendwann sollen die Wolkendienste so viel Geld bringen wie heute das Stammgeschäft – etwa 25 Milliarden Dollar. «Wir werden aufgrund des enormen Potenzials weiter ins Cloud-Geschäft investieren», sagt Amazon-Finanzchef Thomas Szkutak. «Es wächst enorm schnell.» Im letzten Quartal betrug die Steigerungsrate 85 Prozent. Und selbst als Verlagshaus versucht sich Amazon nun: Diesen Herbst kommen 120 eigene Titel auf den Markt. Den Verlegern schwant Böses: Sie könnten nach den Buchhändlern Bezos nächstes Opfer werden. Analyst Devitt rechnet damit, dass Amazon in vier Jahren insgesamt mehr als 100 Milliarden Dollar umsetzt. Das wäre noch einmal eine Verdreifachung – und eineinhalb mal so viel wie der Umsatz von Apple heute.
Jeff Bezos, der neue Steve Jobs? Es gibt tatsächlich einige Parallelen, die über die unternehmerische Leistung hinausgehen. Angefangen bei den Äusserlichkeiten. Wie Jobs mit seinen Bluejeans und dem schwarzem Rollkragenpollover hat auch Bezos seine Arbeitsuniform: Bluejeans, hellblaues Hemd, dazu manchmal ein dunkler Blazer. «Ich trage seit zehn Jahren jeden Tag das Gleiche», gestand er schon 2001 dem US-Magazin «Esquire». «Ich möchte morgens nicht darüber nachdenken, was ich anziehen soll.» Sein Gehalt ist ebenso wie das des Apple-Gründers relativ bescheiden: Mit 1,8 Millionen Dollar Jahresgehalt verdient Bezos weniger als Swisscom-Chef Carsten Schloter; auf Optionen verzichtet er. Zwar entwickelte Bezos nie eine eigene Design- und Marketingsprache wie der verstorbene Apple-Chef. Aber auch er gilt als sehr technologieorientiert, manchmal kühl und abweisend, als bisweilen mit den Leuten sehr harsch. Interviews gibt er ebenfalls nur äusserst selten.
Und Bezos nimmt offenbar bewusst Anleihen bei Steve Jobs. Der Event in New York war genau so choreografiert wie ein Anlass von Apple: klar strukturiert, nur ein Mann auf der Bühne, wenige pointierte Slides, deutliche Aussagen, der Höhepunkt (das Tablet) zum Schluss. Doch während Jobs ebenso wie sein Nachfolger Tim Cook stets frei sprach, las Jeff Bezos von den Monitoren ab. Während Apple eine Show bot, präsentierte Amazon Produkte. Während Jobs sein Publikum immer wieder zu Begeisterungsstürmen hinriss, blieb es im «SIR Stage37» während der ganzen 50 Minuten still. Und statt stehender Ovationen erntete der Amazon-Gründer am Schluss der Veranstaltung nur einen zaghaften Applaus.
An seinem Auftritt muss Jeff Bezos noch arbeiten, wenn er dereinst im selben Atemzug genannt werden will wie Steve Jobs.