In der verschlafenen Vorortsgemeinde Cheseaux hoch ob Lausanne thront der Hauptsitz der Firma Kudelski. Ein Glasgebäude mit tropischem Urwald im Zentrum. Von hier aus revolutionierte Firmengründer Stefan Kudelski, der Erfinder des Nagra-Tonbandgeräts, die Aufnahmequalität und wurde dafür sogar mit ein paar Oscars belohnt. Von hier aus setzte Sohn André, der das Steuer 1991 in der Krise übernommen hatte, mit Set-Top-Boxen zu neuen Höhenflügen an und musste seither mehrere Auf und Abs erleben. Kurzfristig, weil die New-Economy-Blase platzte, und mittelfristig, weil die Streamingdienste den Pay-TV-Sendern das Wasser abgraben. Doch Kudelski sattelt wieder um.
Herr Kudelski, Sie versuchen gerade, Ihre Firma neu zu erfinden...
Es ist nicht das erste Mal. Und es wird auch nicht das letzte Mal sein. Wir arbeiten in einer Branche, in der sich alles schnell bewegt. Das macht ihren Reiz aus.
Ihre zwei neuen Hoffnungsfelder heissen Cybersecurity und Internet of Things, das Internet der Dinge. Wer sagt denn, dass Sie damit nicht zu spät kommen, wenn sich doch alles so schnell bewegt?
Diese Märkte sind gerade am Entstehen: Der Reifegrad ist noch relativ gering. Wir haben nicht erst heute angefangen, uns damit zu beschäftigen. Das Cybersecurity-Geschäft haben wir vor fünf Jahren aufgesetzt. Die grundlegenden Internet-of-Things-Technologien in unserem Portfolio wurden im Laufe des letzten Jahrzehntes entwickelt. Diese Felder waren schon in den letzten Jahren wichtig, und ich glaube sogar, dass sie immer wichtiger werden.
Wieso?
Je digitalisierter unsere Gesellschaft wird, je digitalisierter die Abläufe in den Firmen, Organisationen und Behörden werden, desto grösser wird das Risiko eines Hackerangriffs und vor allem: desto grösser sind die Folgen eines solchen für die reale Welt. Stellen Sie sich vor, ein Hacker übernimmt die Kontrolle über ein selbstfahrendes Auto, über ein Flugzeug oder über ein Spital! Mit dem Internet of Things werden die Folgen viel gravierender.
Auf der einen Seite bauen Sie also das Internet der Dinge auf und damit viele neue potenzielle Gefahrenherde, auf der anderen Seite bieten Sie das dazugehörige Sicherheitsdispositiv an. Das klingt nach einem ausgeklügelten Plan.
In der Tat sind diese beiden Bereiche komplementär. Aber sie sind nicht auf demselben Niveau: Während wir bei Cybersecurity schon ziemlich weit sind, steckt das Internet of Things noch in den Kinderschuhen. Heute finden wir es vor allem bei einzelnen teuren Nischenartikeln. Doch es wird in den kommenden Jahren Schritt für Schritt in den Massenmarkt vordringen.
Alle sprechen davon, dass es im Netz mehr Sicherheit brauche, bleiben aber sehr vage. Was bieten Sie konkret an?
Wir haben Dienste zur Bestimmung von Risikoprofilen für mögliche Hackerangriffe und zur Abwehr solcher Angriffe, wir bauen für hochsensible Daten separate, von anderen Daten abgetrennte Systeme auf, eine Art «digitale Tresore», und wir betreiben für unsere Kunden, für Unternehmen, öffentliche Stellen oder internationale Organisationen, eine Art Radarsystem, mit dem wir Hackerangriffe erfassen und abwehren können.
Sie hätten also verhindern können, dass der Swisscom 800 000 Kundendaten gestohlen werden?(Lacht.) Ich will keine Einzelfälle kommentieren. Aber wir haben tatsächlich etliche Kunden davor beschützt, Opfer solcher Attacken zu werden.
Wie gehen Sie mit Ihren Daten um? Haben Sie einen Facebook-Account?
Nein. Ich bin sehr vorsichtig. Meine Daten sind mir zu wichtig, als dass ich sie einfach so preisgeben würde. Und ich glaube, viele Menschen unterschätzen massiv, was man mit ihren Daten heute schon alles machen kann. Dank Automatisierung und künstlicher Intelligenz können Daten systematisch ausgewertet werden. Schauen wir nur, was aktuell in China passiert, wo Leute nach ihren Verhaltensdaten kategorisiert werden. Die Summe von Daten, die für sich genommen unwichtig erscheinen, ergibt fundamentale Einsichten und kann massive Folgen haben. Die Diskussionen um die US-Wahlen zeigen, dass die Fragen rund um die persönlichen Daten nicht nur für Individuen von grosser Bedeutung sind, sondern auch für die Gesellschaft und die Demokratie.
Macht die Schweiz eigentlich genug für den Datenschutz?
Oftmals braucht es zuerst eine Katastrophe, bevor die Leute sich bewusst werden, dass es ein Problem gibt. In der Schweiz haben wir wenigstens dank unserer direkten Demokratie Übung in Volksabstimmungen. Abstruse Ideen haben keine Chance. Die Leute sind vernünftig. Damit sind wir in einer besseren Ausgangslage als andere Länder.
Cybersecurity und Internet of Things – die Finanzanalysten konnten Sie von Ihren Plänen bis anhin noch nicht wirklich überzeugen. Wieso?
Wir sind für hiesige Verhältnisse eine sehr atypische Firma, wir sind in der Schweiz und in Europa ziemlich allein unterwegs. Das ist auch ein Grund, wieso wir 2016 in den USA einen zweiten Hauptsitz eröffnet haben. Wir wollen näher dran sein, wo sich die Dinge abspielen. Heute spielt die Musik in den USA und in Asien, das war Anfang der 2000er Jahre noch ganz anders, da hatte es auch hierzulande und in Europa eine gewisse Dynamik – mit Nokia, Sony-Ericsson, Alcatel und anderen.
Das war vielleicht allzu viel Dynamik. Nach dem Platzen der New-Economy-Blase wäre Ihre Firma fast verschwunden. Heute sind die Aktien mit rund 10 Franken noch tiefer bewertet, und für 2017 mussten Sie einen Verlust ausweisen.
Wir könnten unsere kurzfristigen Gewinne steigern, denn das TV-Geschäft schrumpft zwar, ist aber noch immer stark profitabel. Doch wir haben entschieden, einen Teil der Profite in neue, zukunftsträchtige Bereiche zu investieren. Wir gehen davon aus, dass wir bei der Sparte Cybersecurity 2020 den Break-even schaffen, beim Internet of Things etwas später. Die Firma zu verwandeln, ist anstrengend und herausfordernd. Aber ich will den mittel- und langfristigen Fortbestand der Firma sichern. Auch für die Familie.
Für Ihre beiden Töchter? Interessieren sich diese für die Nachfolge?
Das ist viel zu früh. Sie sind noch zu jung für solche Gedanken.
Trotz schwierigen Zeiten verdienen Sie mit einem Chefsalär von 3,8 Millionen Franken noch immer sehr gut.
Mein Lohn wurde um rund 40 Prozent gekürzt. Das scheint mir das Normalste der Welt zu sein. Der Kapitän sollte mehr leiden als die anderen, wenn es schlecht geht. Er profitiert dann schliesslich auch mehr, wenn es wieder besser geht.
Sie präsidieren seit Anfang 2018 Innosuisse, die Förderagentur des Bundes. Haben Sie dafür überhaupt genug Zeit?
Das Amt ist mit meinem Job kompatibel. Das habe ich abgeklärt, bevor ich zugesagt habe. Zudem habe ich andere Ämter aufgegeben, so habe ich meine Armeedienstzeit beendet und den HSBC-VR verlassen.
Muss wirklich der Staat der Schweizer Wirtschaft helfen, innovativ zu sein?
Das Ziel von Innosuisse ist es, Unternehmer und Forscher zusammenzubringen. Die Schweiz ist zum einen eine akademische Supermacht, zum anderen ein Land von KMUs. Wir müssen diese beiden Milieus besser vernetzen. Damit schaffen wir Mehrwert.
Davon spricht man doch hierzulande auch schon seit Jahren: dass es hier zwar viel Potenzial für Innovation gibt, aber dass es bei der Vermarktung hapert.
Ja, aber mit der Digitalisierung bekommt diese Schwäche eine ganz andere Bedeutung. Das Problem ist, dass sich hierzulande viele nicht bewusst sind, was für grundlegende Umwälzungen diese digitale Revolution mit sich bringen wird. Wir betrachten die Digitalisierung als Werkzeug, doch sie wird zum Motor. Google zum Beispiel ist nicht mehr nur eine Suchmaschine und eine Werbeplattform. Je nach Interface kann Google zum Konkurrenten von fast allem werden.
Auf zwei Kontinenten
André Kudelski (57) studierte an der ETH Lausanne physikalische Technik, stieg 1984 in der Firma des Vaters ein, übernahm 1991 den Chefposten und brachte sie 1996 an die Börse. Das traditionelle TV-Geschäft, das heute noch rund die Hälfte zum Umsatz von rund einer Milliarde Dollar beiträgt, ist rückläufig. Deshalb setzt Kudelski auf zwei neue Geschäftsfelder: Cybersecurity und Internet of Things.
Dafür hat er einen Teil seiner Firma in die USA verlagert, wo er in Phoenix, Arizona, 2016 einen zweiten Hauptsitz eröffnet hat. In der Schweiz arbeiten noch rund 750 der 3900 Mitarbeiter. Die Familie hält 35 Prozent der Aktien und 63 Prozent der Stimmrechte. Kudelski, nebenbei Vizepräsident des Flughafens Genf und Präsident von Innosuisse, ist verheiratet, hat zwei Töchter (14 und 17 Jahre) und lebt in Phoenix und Lutry bei Lausanne.
Muss Google zerschlagen werden?
Wer sollte das tun? Die USA? Aber diese haben kein Interesse daran, im Gegenteil. Die Internetgiganten haben davon profitiert, dass die US-Regulierung lasch war. Und dass es in Europa keine Dynamik gab, die stark genug war, um in diesem Bereich ein solches Unternehmen hervorzubringen. Das Problem mit Europa ist auch, dass es zwar in Bezug auf den Zugang ein einziger Binnenmarkt ist, im digitalen Bereich aber sind es 28 Märkte.
Was müsste die Schweiz jetzt machen?
Wir müssen in der Schweiz aufpassen, dass wir nicht einfach eine digitale Kolonie des Auslands werden. Deshalb müssen wir deutlich mehr in die Forschung investieren. Und wir müssen eine Brücke bauen von der Forschung in die Wirtschaft, damit in diesen Schlüsselsektoren Firmen entstehen können. Denn die Digitalisierung wird letztlich alle Branchen umwälzen.
Haben Sie auch deshalb einen zweiten Hauptsitz in den USA eröffnet, um nicht in einer digitalen Kolonie zu leben?
Wir haben mit der Cybersecurity auf dem Schweizer Markt angefangen. Aber es fehlt einfach die kritische Grösse. Die Schweiz ist ein Nanomarkt. Deshalb sind wir in den amerikanischen Markt eingetreten.
So minimieren Sie das Risiko, in Trumps «America First»-Ära plötzlich mit hohen Importzöllen bestraft zu werden.
Ich hatte diese Bewegung kommen sehen. Die USA haben zu lange als «Consumer of Last Resort» gedient, weil die europäischen Volkswirtschaften nach der Banken- und Finanzkrise ihre Rolle als Konsumenten nicht mehr gespielt haben.
2017 legten Sie den Abschluss erstmals in Dollar vor: ein Indiz für den baldigen Umzug von Cheseaux nach Phoenix?
Nein. Wir haben zwar Personal von Cheseaux nach Phoenix transferiert. Aber wir zählen hier noch immer rund 750 Mitarbeiter. Es ist ein Vorteil, zwei Standbeine zu haben, auf zwei Kontinenten. Ich glaube fest an die Schweizer Innovationskraft und Ingenieurskunst, aber der Markt hier ist viel zu klein. Deshalb braucht es beides. Und was die Umstellung auf Dollar betrifft: Sie hat ganz praktische Gründe. 56 Prozent unserer Einnahmen sind in Dollar, unsere Hauptmärkte sind im Dollarraum, zudem ist das Wachstum dort viel grösser.