Es ist das neue Lieblingsthema der Manager und Berater. Kein Apéro, kein Netzwerkanlass, wo nicht über die neue Pflicht zur Arbeitszeiterfassung geschimpft wird – und über die Bürokraten in Bern, die nichts verstünden vom realen Wirtschaftsleben. Und die offensichtlich nichts anderes zu tun hätten, als die Unternehmen mit immer neuen Vorschriften zu quälen.
Dabei ist die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung alles andere als neu: Sie steht im Arbeitsgesetz, das seit 1966 in Kraft ist. Also seit fünfzig Jahren. Nur hat das lange niemanden interessiert. Die Arbeitsinspektoren haben weggeschaut, die Angestellten geschwiegen. Doch die Zeit des routinemässigen Gesetzesbruchs ist vorbei. Jetzt heisst es: Die Stempeluhr wieder auspacken. Oder eine moderne digitale Version davon anschaffen. Oder mit den Arbeitnehmerorganisationen einen Deal finden.
Nicht nur in der Fabrikhalle oder hinter der Kasse
Per Anfang Jahr wurde die Verordnung zum Arbeitsgesetz um zwei Artikel ergänzt, die eine leichte Aufweichung versprechen bei der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Einen administrativen Mehraufwand hat damit nur, wer sich bis anhin nicht an die gesetzlichen Vorgaben gehalten hat.
Nur: Das sind sehr viele. Plötzlich realisieren zahlreiche Arbeitgeber, dass sie die Arbeitszeit ihrer Angestellten hätten erfassen sollen. Und zwar nicht nur in der Fabrikhalle oder hinter der Kasse. Nein, auch in den Büros der Kader. Arbeitsmarktexperten gehen davon aus, dass ein paar hunderttausend Beschäftigte gesetzeswidrig ihre Arbeitszeit nicht notieren.
Zwei neue Varianten
Neu gibt es also nebst der systematischen Arbeitszeiterfassung zwei flexiblere Varianten: die «Vereinfachte Arbeitszeiterfassung» sowie den «Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung». Darauf haben sich die Präsidenten des Arbeitgeberverbands, Valentin Vogt, und des Gewerkschaftsbunds, Paul Rechsteiner, nach langem Hin und Her und mit etwas Druck von Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann im Februar 2015 geeinigt.
Gemäss Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) schaffen die zwei neuen Optionen «Rechtssicherheit», zudem würden die Unternehmen «administrativ entlastet». Richtig zufrieden mit diesem Kompromiss ist niemand: Die Arbeitgeber haben nur zähneknirschend eingeschlagen, die Gewerkschaften nur widerwillig auf gesetzlich abgesicherte Rechte verzichtet.
Die Firmen, die nun von den Erleichterungen Gebrauch machen wollen, müssen etliche Bedingungen erfüllen. Die «Vereinfachte Arbeitszeiterfassung» erfordert von den Angestellten eine relativ hohe Autonomie, und der Arbeitgeber muss mit den Arbeitnehmervertretern eine kollektive Vereinbarung treffen. Einen solchen Weg eingeschlagen haben etwa die Migros für einen Teil der Belegschaft und auch das Medienhaus Ringier.
Viel höher sind die Hürden für den «Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung». Die Bedingungen: ein Bruttoeinkommen von mindestens 120'000 Franken, eine Arbeitszeitautonomie von über 50 Prozent, die individuelle Zustimmung von jedem betroffenen Mitarbeiter, die dieser jährlich widerrufen kann. Und vor allem: Es braucht einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV). Für dieses Modell entschieden hat sich die Swisscom. Andere Unternehmen sind noch nicht so weit, haben sich noch nicht einmal für einen Lösungsweg entschieden. So zum Beispiel die Post.
Problem ist das Arbeitsgesetz
Das Problem ist das mittlerweile angegraute Arbeitsgesetz, das wiederum auf seinem Vorgänger, dem Fabrikgesetz, basiert. Trotz Strukturwandel zu einer modernen Dienstleistungsgesellschaft, trotz neuen Arbeitsmodellen und Home Office blieb es über all die Jahre hinweg unangetastet.
Es gelten im Grundsatz eine maximale Wochenarbeitszeit von 45 Stunden, Ruhezeiten von minimal 11 Stunden sowie ein Verbot der Sonntagsarbeit. Wer zweimal pro Woche das Büro etwas früher verlässt, um Freunde zu treffen oder die Kinder von der Krippe abzuholen, sich später nach dem Abendessen fürs Geschäft nochmals bis Mitternacht an den Computer setzt und am nächsten Tag um acht Uhr wieder im Büro ist, bricht das Gesetz.
Totalrevision des Arbeitsgesetzes nie ein Thema
Das ist realitätsfremd. Dennoch war eine Totalrevision des Arbeitsgesetzes nie ein Thema. In Bern sprechen Politiker und Beamte gerne von der «Büchse der Pandora», die man lieber erst gar nicht öffnet. Die Devise lautet: Weiterwursteln, weiterbasteln und neue Ausnahmen via Verordnungsweg hereinschmuggeln.
Die Verordnung 2 zum Arbeitsgesetz, wo allerlei Sonderregeln gesammelt werden, wächst und wächst. Die Liste enthält mittlerweile Ausnahmen für rund 40 Bereiche – von Restaurants über Spitex-Dienste und Bestattungsfirmen bis zu Kinos. Tendenz steigend. Erst vor einem Monat hat der Bundesrat die Liste um die Betriebe für die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte ergänzt. Den Überblick hat längst niemand mehr.
Zwei Ständeräte übernehmen
Bundesrat Schneider-Ammann wird nicht von sich aus eine Reform anstossen, bürgt er doch mit seiner Person für den Deal, den die Sozialpartner 2015 besiegelt haben. Deshalb muss der Anstoss aus dem Parlament kommen. Zwei Ständeräte haben nun den Stein ins Rollen gebracht: Karin Keller-Sutter möchte «Arbeitnehmer mit leitender Tätigkeit» sowie «Fachspezialisten in vergleichbarer Stellung» von der Pflicht der Arbeitszeiterfassung dispensieren – unabhängig davon, in welcher Branche sie tätig sind und ob es dort einen GAV gibt oder nicht. Diese Kader und Fachspezialisten organisierten ihre Arbeit sehr autonom, sagt die freisinnige Wirtschaftspolitikerin. «Sie können und wollen oft selbst über ihre Arbeits- und Ruhezeiten entscheiden.»
Noch einen Schritt weiter geht ihr Ratskollege von der CVP, Konrad Graber. Er will faktisch ganze Wirtschaftszweige oder Gruppen von Betrieben von den Fesseln des Arbeitsgesetzes befreien. Er denkt da vor allem an die Wirtschaftsprüfer, die Treuhänder, Informatiker oder PR-Berater. Also an jene Berufe, die stark projektorientiert sind, unregelmässige Arbeitszeiten kennen oder saisonalen Schwankungen unterliegen. «Mir geht es darum, die heute gängige Praxis zu legalisieren und die Firmen wieder aus der Illegalität herauszuholen», betont Graber.
Unterstützung vom Arbeitgeberverband
Die Wirtschaftsverbände hoffen, dass die Vorstösse von Keller-Sutter und Graber durchkommen. Der Arbeitgeberverband unterstützt vor allem Keller-Sutters Anliegen, um so immerhin die erweiterten Chefetagen mit ihren Stäben von der Arbeitszeiterfassung zu befreien. Die Allianz Denkplatz Schweiz, ein neuer Verbund von Verbänden aus den Bereichen Wirtschaftsprüfung, Treuhand, IT und Beratung, wiederum weibelt für Grabers Initiative. «Die Diskrepanz zwischen Arbeitsrealität und Arbeitsgesetz ist heute einfach zu gross», sagt Dominik Bürgy, Präsident des Wirtschaftsprüfungsverbands Expertsuisse sowie Initiant und Vorsitzender der Denkplatz-Allianz. «Wird Letzteres nicht angepasst, dann werden ganze Branchen abgewürgt – insbesondere im Dienstleistungssektor.»
Die Mitgliederfirmen der Allianz Denkplatz Schweiz zählen über 100'000 Angestellte, wobei der Löwenanteil leitende Mitarbeiter oder Fachspezialisten sind. Vom Vorstoss Graber könnten aber weit mehr Personen profitieren, sagt Bürgy. Anwälte etwa oder Berater, Informatiker oder Analysten. «Insgesamt dürften es rund 500'000 Personen sein.» Also zehn Prozent aller Beschäftigten.
Gesetzesrevision braucht Zeit
Bürgy fügt an, dass die Zeit für eine Korrektur auch im Interesse des Wirtschaftsstandorts Schweiz drängt: «Arbeitsplätze können in unseren Branchen schnell ins Ausland verlegt werden. Für die Kunden spielt es keine Rolle, ob zum Beispiel der Mandatsleiter in Zürich oder London sitzt.»
Doch auch eine kleine Gesetzesrevision braucht Zeit. Die erste Hürde haben Keller-Sutter und Graber genommen: Die ständerätliche Wirtschaftskommission winkte ihre Initiativen am 18. August durch. Der Protest der Linken blieb chancenlos, Appelle der Arbeitnehmerorganisationen wie des Bankpersonalverbands oder der Schweizerischen Gesellschaft für Arbeitsmedizin wurden ignoriert. Ebenso wie die brieflich geäusserten Bedenken der kantonalen Arbeitsinspektoren.
Die Knochenarbeit beginnt erst noch
Nun ist die Nationalratskommission am Zug, auch diese wird angesichts der politischen Mehrheitsverhältnisse den Anliegen zustimmen. Doch dann erst beginnt die Knochenarbeit: Bis der parlamentarische Prozess beendet ist, dürften zwei Jahre vergehen.
Graber warnt schon heute: «Die Vorlage muss referendumstauglich sein.» Denn Arbeits- und Ruhezeiten sind ein sensibles Thema, wie der Kampf um die Ladenöffnungszeiten zeigt. Bei den insgesamt 17 kantonalen oder kommunalen Abstimmungen in den letzten zehn Jahren gingen die Deregulierungssieger nicht weniger als 13 Mal als Sieger vom Platz.
Widerstand vorprogrammiert
Eines ist heute schon klar: Die Gewerkschaften werden sich gegen jegliche Aufweichung des Arbeitsgesetzes wehren – bis zum Schluss. Auch wenn sich auf den ersten Blick nicht erschliesst, wieso sie plötzlich für die Rechte gut verdienender McKinsey-Manager oder PwC-Steuerberater kämpfen.
Doch für Luca Cirigliano, den Dossierverantwortlichen beim Gewerkschaftsbund, geht es erstens ums Prinzip: Die Arbeitszeit sei das zentrale Element in der Gleichung «Lohn gegen Arbeit». Ohne Arbeitszeiterfassung steigt seiner Meinung nach die Gefahr, dass letztlich «gratis» gearbeitet werde – insbesondere in den Zeiten ständiger Erreichbarkeit.
Ciriglianos zweite Sorge: die Gesundheit der Arbeitnehmer. «Je weniger Arbeitszeiterfassung, je weniger Ruhezeiten, desto höher der Druck auf die Mitarbeiter, desto grösser das Risiko, dass sie krank werden.» Die Burn-out-Quote sei in der Schweiz im internationalen Vergleich bereits heute sehr hoch, sagt Cirigliano und verweist auf Studien, die besagen, dass gut ein Viertel der Arbeitnehmer unter Stress leidet.
Grosser Anwendungsradius
Und noch etwas motiviert Cirigliano, gegen die Vorstösse von Keller-Sutter und Graber vorzugehen: Er ist überzeugt, «dass ihr Anwendungsradius weit grösser sein wird, als die Initianten uns glauben lassen wollen». Es seien Gummiparagrafen, die mit unbestimmten Rechtsbegriffen wie «Fachspezialisten» oder «Arbeitnehmer mit leitender Tätigkeit» operierten, erklärt Cirigliano.
«Wenn das Parlament dies so durchwinkt, dann verlieren potenziell 50 Prozent der Arbeitnehmer ihr Recht auf Arbeitszeiterfassung.» Das wären knapp 2,5 Millionen Beschäftigte – und damit deutlich mehr als die von der Allianz Denkplatz Schweiz postulierten 500'000 Personen.
Zwist begann in der Bankenbranche
Die Stempeluhr ist also zurück auf der politischen Agenda. Angefangen hat der Zwist in der Bankenbranche, wo unter dem Label «Vertrauensarbeitszeit» Berge von Überstunden geleistet wurden, die kaum je bezogen werden konnten, sagt Denise Chervet, Geschäftsführerin des Schweizerischen Bankpersonalverbands.
Eskaliert ist die Sache aber erst 2007, als ein Mitarbeiter der «Winterthur» eine Klage beim Arbeitsinspektorat in Zürich einreichte. Die Versicherung schob die Schuld auf ihre frühere Eigentümerin, die Credit Suisse, wie sich Chervets Vorgängerin Mary-France Goy erinnert. Damit war das Thema gesetzt. Wegschauen war keine Option mehr. Das Seco machte Lösungsvorschläge und initiierte einen Pilotversuch mit den Sozialpartnern in der Bankenbranche: 2009 bis 2011 testeten rund 45'000 Mitarbeiter in sieben Instituten das Leben mit der «Vertrauensarbeitszeit».
Arbeitnehmerorganisationen erhöhten den Druck
Zwei Jahre und einen Stapel an Studien später war das Resultat ernüchternd: So geht es nicht, lautete das allgemeine Fazit. Die Arbeitnehmerorganisationen erhöhten den Druck, und der Bankpersonalverband reichte 2013 eine Klage gegen Goldman Sachs ein. Die Gewerkschaften aus der Medienwelt sprangen auf den fahrenden Zug auf und verfassten 2014 ebenfalls Klagen – gegen Tamedia und Ringier. Den Bankenchefs blieb nichts anderes übrig: Sie mussten einen Ausweg finden, auch wenn es die anderen Branchen kaum interessierte.
Das Resultat: Der Arbeitgeberverband der Banken hat mit dem Bankpersonalverband und dem KV Schweiz auf der Basis der neuen Verordnung eine Vereinbarung ausgehandelt, die seit Anfang Jahr in Kraft ist und der sich rund zwei Drittel seiner Mitglieder angeschlossen haben.
Diese Finanzinstitute können nun von Erleichterungen bei der Arbeitszeiterfassung profitieren. «Wir haben jetzt eine Lösung», sagt Balz Stückelberger, Geschäftsführer des Arbeitgeberverbands der Banken. Die Rückmeldungen der Mitglieder seien zu rund 80 Prozent positiv. Stückelbergers Verband begrüsst zwar die Vorstösse von Keller-Sutter und Graber, aber er ist nicht mehr darauf angewiesen. «Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht.»
Die anderen Branchen hingegen büssen nun für ihr Abseitsstehen, als die Banken in der Bredouille waren. Sie stehen ganz am Anfang des Prozesses zur Problemlösung. Und haben damit noch genug Gesprächsstoff für mehrere Apéros.