Der heilige Zorn hat den Mann auf der Bühne erfasst. Mit seinem weissen Bart sieht er aus wie ein Prophet aus dem Alten Testament, er schleudert anklagende Worte ins Publikum, rattert gigantische Zahlen von Toten herunter und ruft entschlossen zum Kampf auf. «Wir wollen Gerechtigkeit», ruft er in den brechend vollen Saal, «Gerechtigkeit für das schreckliche Attentat auf die Gesundheit!» Applaus brandet auf.
Der Mann heisst Fulvio Aurora, er ist Gewerkschaftler und einer der suggestivsten Redner im Teatro Comunale am Corso del Popolo in der italienischen Stadt Monfalcone. Wo sonst Musicals oder Komödien über die Bühne gehen, fand im November die nationale Asbestkonferenz statt. 600 Gewerkschaftler, Asbestopfer, Politiker, Beamte, Epidemiologen und Asbestspezialisten füllten den grössten Saal der Stadt bis auf den letzten Platz.
Die Veranstaltung machte deutlich, dass in der leidigen Asbestgeschichte derzeit ein weiteres Kapitel aufgeschlagen wird: Die Asbestverarbeiter von einst sollen zur Kasse gebeten werden, der Kampf um Entschädigungen kommt in die entscheidende Phase, und neue Prozesse sind in Vorbereitung. Im Visier der Asbestopfer und Gewerkschaftler ist auch ein prominenter Schweizer: Stephan Schmidheiny.
Die Hafenstadt Monfalcone östlich von Triest ist nicht zufällig Schauplatz der Asbestkonferenz. Hier stehen die Fincantieri-Werften, wo man das scheinbar perfekte Mineral während Jahrzehnten massenweise zum Brandschutz in Schiffen verwendete. 400 Todesfälle von Werftarbeitern und Seeleuten werden mit Spritzasbest in Zusammenhang gebracht. Da Fincantieri neben Frachtern und Musikdampfern auch viele Schiffe für die italienische Marine mit Spritzasbest isolierte, sind jetzt zwei gerichtliche Untersuchungen parallel im Gang: eine durch die Staatsanwaltschaft, die andere durch die Militäranwälte der Procura Militare di Padova.
Asbestzement entwickelte sich nach seiner Erfindung im Jahr 1900 rasch zum Welterfolg. Auch in Italien wurde dieses solide, dauerhafte und preiswerte Material in Kürze populär. 1906 gründete der Italiener Alfredo Mazza die Eternit SpA mit Sitz in Genua. In Casale südwestlich von Mailand liess Mazza die Fabrik hochziehen, wo während achtzig Jahren Asbestzement produziert werden sollte.
1952 verkaufte die Familie Mazza Anteile an die belgische, die schweizerische und die französische Eternit-Gruppe. Mitte der siebziger Jahre war die Schweizer Eternit mit 29 Prozent der grösste Einzelaktionär und wurde nach diversen Kapitalerhöhungen zur Sanierung der Fabriken 1980 Hauptaktionär.
Stephan Schmidheiny übernahm in dieser Zeit die Eternit Schweiz, 1984 erbte er dann die ganze international tätige Gruppe. Schon Mitte der siebziger Jahre hatte er den Ausstieg aus dem Asbestgeschäft geplant – und sich damit den Zorn der internationalen Asbestzement-Industrie eingehandelt, die auf das Mineral nicht verzichten wollte.
Wie in den anderen Werken der international tätigen Eternit-Gruppe wurden in der Schweizer Periode in Casale rasch Verbesserungen eingeführt: Unter der Leitung der belgischen Eternit war Asbest zuvor noch trocken verarbeitet worden – mit entsprechender Staubbildung. Ezio Bontempelli, der zum Messen der Fasern angestellt wurde, erinnert sich, wie das Eternit-Management 1975 die Asbestverarbeitung sofort aufs Feuchtverfahren («bagnato») umstellte und damit das Risiko der Faserverschmutzung radikal verringerte.
Der Wandel im Sicherheitsdenken ist eng verknüpft mit dem Generationenwechsel bei den Schmidheinys. Die gesundheitstechnischen Umstellungen in Casale, einem riesigen Werk mit weit über tausend Arbeitern, dauerte ein Jahr. Inzwischen verschärfte sich die wirtschaftliche Lage für die italienische Eternit, denn viele kleine Eternit-Firmen konnten billiger liefern, unter anderem, weil sie lasche Sicherheitsstandards hatten.
Die Umsätze der Eternit SpA brachen innert weniger Jahre um die Hälfte ein, Verluste in Höhe von 20 Millionen Franken liefen auf, worauf die Firma 1986 Pleite ging. 1992 kam es zum Prozess gegen das Management der italienischen Eternit. Die grösste Gewerkschaft des Landes, die CGIL, und der Bürgermeister der Stadt Casale, Riccardo Coppo, hatten eine Klage eingereicht. Zwischen 1955 und 1986 waren von den erfassten 3365 Eternit-Mitarbeitern 953 Personen gestorben.
Zwei Dutzend leitende italienische Mitarbeiter und der Delegierte des Verwaltungsrates der Eternit SpA Genua, Leo Mittelholzer, kamen vor den Kadi und wurden zum Teil wegen fahrlässiger Tötung zu Haftstrafen verurteilt; bezahlt wurden rund fünf Millionen Franken.
Damit war die Geschichte jedoch nicht ausgestanden, und dabei wollen es viele Kläger auf keinen Fall bewenden lassen: «Asbestzement und die Folgen der Asbestverarbeitung in den Fabriken sind unser grösstes Umweltproblem», erklärt der Bürgermeister von Casale, Paolo Mascarino, in seinem stilvollen Büro in einem historischen Palazzo im Zentrum der Altstadt. In Casale betrieb Eternit ihre landesweit grösste Fabrik, und auch kleinere Firmen produzierten hier den gefragten Asbestzement. «Mehrere Generationen haben in dieser Fabrik ihren Lebensunterhalt verdient», sagt Mascarino, «von praktisch jeder Familie arbeitete ein Mitglied bei der Eternit.» Heute gibt es hier auf 100 000 Einwohner jährlich 15,54 Mesotheliomfälle, in der italienischen Stadt Vercelli zum Beispiel sind es nur 0,18.
«Wir sind weder auf die italienische Gründerfamilie noch auf die Belgier oder auf die Schweizer Industriellen wütend», erklärt Stadtpräsident Paolo Mascarino. «Wir wollen allerdings Hilfe von der verursachenden Industrie, um die Folgen dieser Katastrophe zu bewältigen.» Ein Fonds, aus dem die Auslagen der italienischen Kommune, aber auch Härtefälle und die Aufräumarbeiten entschädigt würden, wäre durchaus eine praktikable Lösung, meint der Sìndaco.
Nicht immer indes hat der Kampf um Entschädigungen redliche Gründe. Asbest ist auch ein Vehikel, um zu einer Rente oder einer Kompensation zu kommen. Und ein lukratives Betätigungsfeld für Juristen. «Nicht alle, die Asbest die Schuld geben, sind auch daran erkrankt», sagt in Casale etwa der Taxifahrer auf der Fahrt zum Bürgermeister, «manche wollen einfach bequem zu Geld kommen.»
Viele Forderungen haben sich bei genauer Betrachtung als unbegründet erwiesen. Inail, die staatliche Versicherung für Berufskrankheiten, vergleichbar mit der Suva, hat bisher offiziell 87 000 Gesuche als unbegründet abgelehnt – 254 703 Personen hatten sich bei der Versicherung gemeldet, 97 096 Fälle sind für eine Rente anerkannt worden.
Viele italienische Arbeiter waren auch im Eternit-Werk in Niederurnen beschäftigt – in einem aggressiven Flugblatt an der Asbestkonferenz flugs zur «Weltkapitale der Asbestzementproduktion» heraufstilisiert. «Die Exposition gegenüber der Krebs erzeugenden Faser geschah in den Schweizer Eternit-Fabriken ohne jeglichen Schutz», behauptet ein Papier der Asbestopferorganisation Associazione Esposti Amianto (AEA) und nennt das Werk «Todesfabrik» Pikant ist, dass sich ausgerechnet die Gewerkschaften, die jetzt Front gegen die damalige Asbestindustrie machen, lange gegen ein Rauchverbot für Arbeiter in den Asbest verarbeitenden Fabriken gestemmt hatten, weil dies die persönliche Freiheit tangiere. Obwohl Rauchen das Risiko, an der Lungenkrankheit Asbestose und dem Asbestkrebs Mesotheliom zu erkranken, exponentiell erhöht. Der heimtückische Krebs von Brust- oder Bauchfell wird in der Regel dreissig oder mehr Jahre nach dem Kontakt mit der Faser ausgelöst.
Bis ins Jahr 2000 hat das nationale Mesotheliom-Register 3446 Fälle erfasst. 52 Prozent der Erkrankungen sind eindeutig auf berufliche Exposition zurückzuführen. Bei weiteren 13 Prozent ist eine Berufskrankheit möglich. Von den restlichen Fällen sind 3,3 Prozent auf Asbestexponierung in der eigenen Wohnung zurückgeführt worden, rund 4 Prozent sollen wegen Asbest in der Umwelt erkrankt sein. Bei allen anderen Fällen kann die Ursache nicht festgestellt werden.
Das Asbestdrama hat in einer Kette von Prozessen Italiens Justiz auf den Plan gerufen. Gegenwärtig laufen zwei Verfahren gegen Ansaldo Breda, einen Hersteller von Rollmaterial für Eisenbahnen. 14 Manager dieser zur Finmeccanica-Gruppe gehörenden Firma sind wegen Totschlag angeklagt. Auch Pirelli, die neben Autopneus unter anderem Energiekabel produziert, steht unter Anklage, weil sie Asbest verwendet hat. Gegen Manager, die zwischen 1960 und 2000 das Sagen hatten, ist eine Untersuchung des Turiner Staatsanwalts Raffaele Guariniello im Gang. Den Managern wird die Verantwortung am Tod von 35 Arbeitern angelastet.
Die italienische Eternit steht in zwei Verfahren im Visier der Justiz. Rund hundert Mitarbeiter des einstigen Eternit-Werks im sizilianischen Siracusa ersuchten Ende November das Arbeitsgericht in Genua – ehemals Standort des Eternit-Hauptsitzes –, vorsorglich von Stephan Schmidheiny 58 Millionen Euro zu beschlagnahmen. Dass ausgerechnet der Industrielle, der gegen den Widerstand der ganzen Branche den Asbest im Werkstoff Eternit ersetzte, im Visier der italienischen Justiz steht, gehört zu den absurden Aspekten dieses Dramas. Bereits früher waren – bisher allerdings ergebnislos – zivilrechtliche Forderungen von weiteren Arbeitern und deren Angehörigen über 60 Millionen Euro erhoben worden. Eine Verhandlungsrunde zur Frage der Zuständigkeit findet nächstens statt.
In einer zweiten Ermittlung führt der Turiner Staatsanwalt Raffaele Guariniello eine strafrechtliche Voruntersuchung durch. Dabei geht es um Todesfälle italienischer Gastarbeiter, die in Schweizer Eternit-Fabriken arbeiteten. Die Eternit AG entsprach 2003 nach anfänglicher Weigerung auf Geheiss des Schweizer Bundesgerichts dem Rechtshilfebegehren und schickte die Krankheitsgeschichten von Asbestopfern nach Turin. Eine zweite Ermittlung betrifft die möglichen Verantwortlichkeiten der Eternit-Gruppe für erkrankte Mitarbeiter im Werk Casale.
Peter Schürmann, Sprecher von Stephan Schmidheiny, blickt mit Sorge auf die Entwicklung in Italien: «In andern Ländern hat man die Geschädigten in den Mittelpunkt gerückt», sagt er. Staat, Industrie, Gewerkschaften, Versicherer und Geschädigte hätten sich zusammengetan und das Äufnen eines Fonds beschlossen, aus dem Betroffene rasch und mit vernünftigen Beträgen entschädigt werden können – alles aussergerichtlich.
«Jedes Opfer ist eines zu viel», erklärt Schürmann, «in Italien scheint es aber nicht möglich zu sein, dass die Beteiligten einen Marschhalt einlegen und überlegen, was sinnvoll im Sinne der Geschädigten sein könnte.» Stattdessen werde vor allem auf Eternit und Schmidheiny eingeprügelt, gedroht und angezeigt. «Mit der Aussicht auf jahrelange Rechtsverfahren mit ungewissem Ausgang.»
Werner Catrina ist Autor des 1985 im Orell Füssli Verlag erschienenen Buchs «Der Eternit-Report», das den Ausstieg der Schweizer Eternit-Gruppe aus dem Asbest unter dem damaligen Eternit-Besitzer Stephan Schmidheiny dokumentiert.