Diese Hände. Sie könnten einem Tunnelbauer gehören oder einem Maurer. Dafür geschaffen, anzupacken, grobe Dinge zu bewegen. Doch just in diesem Moment zupfen sie mit flinken, leichten Bewegungen filigrane, zu steifen Gräsern frittierte Auberginen in Form. Arrangieren auf weissen Tellern zarte Blättchen und Blüten, streuen hier und dort Grünes auf dampfendes Fleisch. Schnell und mühelos. Diese Hände. Gewohnt, Zartes für den Gaumen zu schaffen, zu schnipseln, zu rühren und zu arrangieren. Diese Hände gehören Enrico Derflingher. Optisch Ansprechendes auf den Teller zu zaubern, ist bei ihm Programm. Der Norditaliener mit der Wikingerfigur ist ein international hoch dekorierter Koch. Und seit September Chef de Cuisine im «Badrutt’s Palace» in St. Moritz.

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Glamour hinter den Kochtöpfen liegt im Trend. Nobelhotels der Luxusklasse, die etwas auf sich geben, verpflichten neuerdings Küchenchefs, die neben Kochkünsten vor allem eines mitbringen: persönliches Renommee dank Auszeichnungen in internationalen Gastroführern wie «Michelin» oder «Gault Millau». Im «Aphrodite» des «Giardino» in Ascona amtet der 17-Punkte-«Gault Millau»-Koch Ulf Braunert, im «Jasper» des Luzerner «Palace» seit November 2003 der Shootingstar Françoise Wicki mit 16 Punkten, und im «Prado» des Gstaader Grand Hotel Bellevue haben die Küchenchefs Matthias Droz und Marcel Reist in den vergangenen zwei Jahren immerhin 15 Punkte erkocht und für ihr Haus die Bezeichnung «Hotel des Jahres» erhalten. Diese Köche der Spitzenklasse verleihen ihrer Wirkungsstätte Glanz und ziehen Feinschmecker an wie Gurus ihre Jünger.

In Italien ist auch Derflingher ein Star. Seine grosse Liebe gehört der einfachen Küche. Daran hat auch sein jahrelanges Vagabundieren durch die grossen Hotels der Welt, vom «Splendid» in Portofino bis zum «Jumby Bay Resort» in Indien, nichts geändert. Im Gegenteil, er hat die, wie er sagt, «schlichte italienische Küche» verfeinert, ohne sie zu verraten. «Eine Tomate muss bei mir nach Tomate schmecken», sagt er unprätentiös auf Englisch mit hartem mediterranem Akzent, während er kritisch einen Teller inspiziert, auf dem ein braunrosa Kalbsmedaillon auf zartem Gemüse liegt.

Er steht an einer langen Anrichte am Ende einer endlosen Herd- und Ofenzeile in den Küchenkatakomben des «Palace» – Herr über 1200 Quadratmeter Küche und Chef von 72 Köchen, die rund um die Uhr für das leibliche Wohl der Gäste besorgt sind. «Enrico», schreit einer gegen den Lärm von brutzelnden Pfannen an, auf dessen blütenweisser Uniform unter dem «Palace»-Emblem der Name «Luca» eingestickt ist, «komm her, und schau dir das an!» Auf Italienisch, notabene. Derflingher hat von seinem letzten Arbeitsort, dem Restaurant Terrazza dell’Eden in Roms Edelhotel Eden, die halbe Kochcrew angeheuert. 15 Italiener haben das bestehende Team aufgemischt und legen Hand an, damit die Speisen des «Palace» den derflingherschen Ansprüchen genügen.

Hans Wiedemann
Der Neue im «Palace»


Das geschichtsträchtige Nobelhotel in St. Moritz wird Anfang April eine Zäsur erleben. Nach fünf Jahren verlässt General Manager Roland B. Fasel das Haus – aus eigenem Antrieb. Der Freiburger Volkswirtschaftler folgt seiner Familie, die 2003 nach London umgezogen ist. Ihn beerbt Hans Wiedemann, der von der Montreux-Palace SA (Hotel und Casino) zu «Badrutt’s Palace» wechselt.


Fasel geniesst weltweit einen aussergewöhnlich guten Ruf als Spezialist für die Repositionierung von Hotels. Als Fasel 1999 im Auftrag der Rosewood-Organisation das Management des «Badrutt’s Palace» übernahm, wies das in die Jahre gekommene Haus gerade mal 27 Millionen Franken Umsatz aus. Nach grossen Investitionen von bisher rund 50 Millionen Franken in Neuerungen und Sanierung hat das «Palace» im letzten Jahr fast 40 Millionen Franken Umsatz generiert. Der Gewinn ist auf die Rekordsumme von rund acht Millionen Franken gestiegen. Für 2004 erwarten die Hotelbesitzer weitere Rekordzahlen.


Zwar ist die US-amerikanische Hotel-management-Gesellschaft Rosewood vor einem Jahr in St. Moritz ausgestiegen, doch die Eigentümer des «Palace», Hansjürg und Aniko Badrutt, und die UBS als kreditgebende Bank sind gewillt, mit dem neuen Manager Wiedemann auf dem Weg der Expansion fortzuschreiten. Bis 2008 sieht der Masterplan weitere 15 bis 20 Millionen Franken an Investitionen vor. Damit sollen die Balkone, die Fassade und der Swimmingpool erneuert werden. Jüngste, bereits sehr gut ausgebuchte Prunkstücke sind die zwei Suiten. Die 280 Quadratmeter grosse Hans-Badrutt-Suite kostet zwischen 14 000 und 18 000 Franken pro Nacht, die 250 Quadratmeter grosse Helen-Badrutt-Suite zwischen 8000 und 12 000 Franken. Butlerservice, Essen und Personal Trainer inbegriffen.

Und die sind hoch. Mit seiner leichten mediterranen Küche hat der Italiener das «Terrazza» im «Eden» in den «Michelin»-Stern-Olymp gekocht; daneben zieren allerlei persönliche Auszeichnungen seine berufliche Biografie, darunter zweimal der amerikanische Five Star Diamond Award als einer der besten Küchenchefs der Welt, für den er auch im Jahr 2004 Anwärter ist. Und, fast am wichtigsten für seine neuen Arbeitgeber in St. Moritz, Enrico Derflingher hat Glamour. Der unkomplizierte Italiener ist der Liebling der internationalen Haute Volée – nicht nur im Showbiz, sondern auch bei Adligen und bei Politikern.

Fast gelangweilt erzählt er das. Lässt gedankenverloren einen Teller zwischen den Händen kreisen, kratzt sich am Mützenrand. Oft schon wurde er danach gefragt. Hat erzählt, wie das war, damals bei den Royals. Wie er als persönlicher Leibkoch von Charles und Diana gekocht hat. Als «erster italienischer Koch in der königlichen Küche seit 400 Jahren», wie er dann doch mit einem Anflug von Stolz berichtet. 1987 war es, als er – gerade mal 25 Jahre alt und mit einem Sack voll Erfahrungen in den besten Hotelküchen der Welt – sich als Koch im Kensington-Palast bewarb. Mit dem festen Ziel, höchstens sechs Monate zu bleiben. Er lacht: «Es wurden dann drei Jahre daraus.»

Bevor er jedoch den königlichen Hoheiten die Teller füllen durfte, musste er erst die Schulbank drücken; der Umgang mit Königinnen und Prinzen will trainiert sein. Er steht auf, macht es vor: «Wende ihnen niemals den Rücken zu, du musst rückwärts aus dem Raum gehen.» Aufregende Jahre für einen Erlebnishungrigen. Als persönlicher Leibkoch reiste Derflingher mit dem Prinzenpaar um die Welt, kochte mal für die beiden privat, mal für 2000 Gäste, wenn die Royals zum Bankett luden. Und wurde gut Freund mit William und Harry, den Prinzen, die ihn noch heute besuchen; Prinz Edward hat sogar während seinem Honeymoon mit Sophie in Rom im «Eden» bei Derflingher getafelt.

1989 kocht er in Rom für Michail Gorbatschow und Ronald Reagan. Er steht in der Küche, als die Queen ein Bankett gibt und zwölf Premierminister, acht Könige und sechs Prinzessinnen zu Tisch bittet. Als US-Präsident George Bush 1990 Prinz Charles höflich anfragt, ob er den Spitzenkoch wohl ausleihen könne, wird Enrico Derflingher ins Weisse Haus transferiert – von den vornehmen Royals sozusagen in die Vorküche der Macht.

Das ist obendrein ein Kulturwechsel. Bei den Bushs zu kochen, ist keine glamouröse Angelegenheit. «Eher wie bei Geschäftsleuten», meint Enrico. Und erlebt Einmaliges – einen Krieg, den Golfkrieg 1991, dessen Planung und Durchführung – aus nächster Nähe. Er serviert dem Präsidenten bei Lagebesprechungen zur Stärkung Sandwiches, wenn die Sitzungen im so genannten Kriegsraum unter dem Oval Office wieder einmal bis in die Nacht hinein dauern. Und er wird Zeuge, wie «George Bush und seine Frau Barbara in der Kapelle beten», bevor Bush dem Irak den Krieg erklärt. Nach Bushs Abwahl muss auch Enrico Derflingher seinen Job quittieren. Bill Clinton bringt seine eigene Küchenbrigade mit.

In der Folge eröffnet er weltweit Restaurants, von Island bis Tokio, von Puerto Rico bis Las Vegas, berät die Alitalia und wird schliesslich einer der bekanntesten Köche Italiens, kassiert als Chef de Cuisine im «Terrazza» des «Eden» Jahr für Jahr Auszeichnungen, vom «Restaurant des Jahres» bis hin zum «Michelin»-Stern. Und die Prominenz strömt zu ihm: Von Harrison Ford, der zwei Wochen bei ihm kochen lernt, über Nicole Kidman, Anthony Hopkins oder Cameron Diaz standen alle schon bei ihm in der Küche.

Jetzt ist er das Sahnehäubchen im Restrukturierungskonzept von «Palace»-General-Manager Roland Fasel. Vielleicht gar der letzte Trumpf, den Fasel kurz vor seinem Abgang und nach fünf Jahren emsigen Umkrempelns und Umbauens des zuvor verstaubten Nobelhotels aus dem Ärmel gezogen hat. Nach der Investition von rund 46 Millionen Franken unter anderem in die Neugestaltung der Zimmer, den Umbau der grossen Eingangshalle und einen neuen Wellness-Bereich will die Direktion nun, dass «die Leute auch im Food-Bereich etwas ganz Besonderes erleben», wie Marketing-Direktor Max Newiger konkretisiert.

Derflingher, sind die Manager im «Palace» überzeugt, ist die Traumbesetzung für den Job des neuen Küchenchefs. Gefunden wurde er von einem Headhunter und liess sich gerne abwerben. «Nach fünf Jahren im ‹Terrazza› hatte ich einfach genug», sagt er schlicht. Es ist übrigens sein erster Job in der Schweiz. Der Starkoch hat sich in den Kopf gesetzt, auch für das «Palace» Auszeichnungen, Sterne und Punkte zu gewinnen. Dafür ist das Hotelmanagement auch bereit, etwas springen zu lassen. Die Direktion hat Derflingher bei seiner Ankunft vor dreieinhalb Monaten Carte blanche gegeben, alle zehn Restaurants, Cafés, Bars und Bistros des Hauses neu zu gestalten. Das heisst neues Food-Konzept, neue Dekoration, neues Geschirr.

Und Enrico hat gründlich gewirbelt. Alle Restaurants unterscheiden sich heute im Aussehen und im Angebot. Während im Hauptrestaurant «Le Restaurant» französische Küche serviert wird, ist die Speisekarte der «Trattoria» italienisch, im «Relais» leicht und mediterran und an der «Relais Bar» gibt es japanische Sushi- und Sashimi-Gerichte. 480 000 Franken haben allein das eigens von Rosenthal angefertigte Chinaporzellan, die Riedel-Gläser und das Besteck für das gesamte Hotel gekostet. Und die Umgestaltung der Räumlichkeiten noch einmal 200 000 Franken.

Gut investiertes Geld, glaubt Enrico: «Der erwartete Umsatz im Food- und Beverage-Bereich beträgt im Jahr 2004 18 Millionen Franken.» Und bereits innert zwölf Monaten, so glaubt er optimistisch, wird sich die Investition amortisiert haben.

An Silvester, mit dem Einzug der auf Luxus programmierten Wintergäste des «Palace», hatte der Italiener seine erste grosse Bewährungsprobe in Sachen Stressmanagement. 1600 Menüs verliessen an diesem Abend die Küchenkatakomben, unter dem gleichzeitigen Aufgebot von allen zur Verfügung stehenden Köchen. Es ist klar, dass der Perfektionist Derflingher jeden einzelnen Teller des Viergängers inspiziert hat, vom iranischen Kaviar mit Lachs bis zum sautierten Rindsfiletmedaillon auf frischer Gänseleber. Und hier und da wird er gezupft, gestreut und zurechtgeschoben haben. Mit ebendiesen Händen.