Der Gegner hatte Ass und König, er nur Ass und Dame: Am 8. Mai um 22.40 Uhr war der diesjährige Grand Final der European Poker Tour in Madrid für Dieter Albrecht zu Ende. «Den Schweizern geht hier langsam die Puste aus», ist im PokerStarsBlog nachzulesen, «Dieter Albrecht verlor einen grossen Pot und musste seinen Stuhl räumen.»

Pokern ist die Leidenschaft von Dieter Albrecht, Gründungsmitglied der Bank am Bellevue. Der Banker gehört zur Top-Gruppe der internationalen Pokergemeinschaft. In Turnieren wie in Madrid – Buy-in-Summe: 10 600 Euro – wird um hohe Beträge gespielt. Adrenalin pur.

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Um an Pokerturniere zu reisen, meldet er sich regelmässig für einige Tage von seinem Job bei der Bank ab. Als Grossaktionär der Bank – Albrecht hält 6,37 Prozent an der Bellevue Group – ist er längst zum reichen Mann geworden. Doch der 50-Jährige war immer auch an der Front tätig: die letzten eineinhalb Jahre als Privatkundenberater, zuvor lange als Broker, also als Makler für Wertpapiere, für eine exklusive Klientel. Einer der Kunden: Giorgio Behr, Unternehmer und Investor aus Schaffhausen.

Wie wechselhaft das Glück sein kann, hat Albrecht zuletzt nicht nur am Pokertisch erfahren – auch für seine Bank steht derzeit viel auf dem Spiel. Die Bank am Bellevue ist in den Fokus der Finanzmarktaufsicht (Finma) geraten. Am 14. März publizierte diese eine Verfügung, in der sie der Bank vorwirft, Giorgio Behr aktiv beim heimlichen Aufbau eines grossen Aktienpaketes am Thurgauer Schleifmittelhersteller Sia Abrasives unterstützt zu haben. Dies, indem die Bank Aktien von Sia für Behr «geparkt» habe – bei Freunden und Vertrauten. Dadurch habe der Firmenangreifer unter Missachtung der Meldepflicht auf einen Schlag 22 Prozent der Aktien sammeln können. Als Dreh- und Angelpunkt des Ganzen hat die Finma den für Behr zuständigen Broker identifiziert: Poker-Crack Dieter Albrecht.

Angesichts schwerer Mängel in den Organisations- und Gewährspflichten droht die Finma der Bank nun im Wiederholungsfalle mit der Schliessung. Die Bank weist den Vorwurf von sich und hat Rekurs beim Bundesverwaltungsgericht eingereicht.

Auch wenn die abschliessende juristische Bewertung noch aussteht, manifestiert der Fall doch exemplarisch, wie unzimperlich und handfest es in der Schweizer Finanzwelt zugeht. Der Kampf um Sia wirft ein schlechtes Licht auf fast alle Protagonisten: Zunächst auf die Bank am Bellevue, deren Akteure den Eindruck machen, sie lebten noch in Zeiten des Gründungsfiebers der neunziger Jahre, als schnelle Deals unter Vertrauten die Regel waren. Aber auch auf Firmenangreifer Giorgio Behr, der sich Unternehmer nennt, aber wie ein Raider vorgeht. Auf Freunde und Vertraute, die als Trittbrettfahrer mitverdienen. Auf das Sia Management, das seine Pfründe schützt und sich einigelt. Und nicht zuletzt auch auf die Finma, die in diesem heiklen Fall mit Verfahrensfehlern patzt.

 

Vier Akte einer Firmenübernahme.

1. Akt: Die Vorbereitung. Küsnacht, 
Firmensitz der Bank am Bellevue, 
November 2007

Ihren Anfang nimmt die Geschichte am Firmensitz der Bank am Bellevue, idyllisch am Ufer des Zürichsees gelegen. Das ehemalige Industriegebäude mit seinem grossen Kamin ist heute Wirkungsstätte von knapp hundert Bankern.

Auch Dieter Albrecht ist in diesen Tagen im Herbst 2007 oft im Büro anzutreffen. Spezialität der Bank ist der Blockhandel in Schweizer Aktien, also die Vermittlung grösserer Pakete von Wertpapieren. In diesem Business mit institutionellen Investoren und vermögenden Privatkunden, das auf einem engen persönliche Netzwerk und Vertraulichkeit basiert, sind Erfahrung und Gespür gefragt. Albrecht ist seit über zwanzig Jahren im Business – und er gilt wegen seines Instinkts für die Märkte als einer der besten Vertreter seiner Gattung. Allerdings hat er seine Arbeitszeit zuletzt etwas reduzieren müssen. Er 
leidet an Parkinson, einer langsam fortschreitenden neurologischen Erkrankung, und muss sich deswegen wiederholt Ruhephasen gönnen.

In der Bank gehört er zur Crew der alten Kämpen aus der Gründerzeit. Als Studienfreund von Bellevue-Group-CEO Martin Bisang zählt er zum innersten Kreis. Die Freundschaft wuchs unter anderem am Pokertisch, haben die Kommilitonen doch während der Uni-Zeit nächtelang zusammen gezockt. Als Bisang 1993 zusammen mit dem inzwischen verstorbenen Ernst Müller-Möhl sowie den Freunden und Bankerkollegen Hans-Jörg Graf, Jürg Schäppi und Daniel Schlatter die Bank am Bellevue gründete, war Albrecht mit im Boot.

Zu den Mitstreitern der frühen Stunde gehört auch Giorgio Behr. Bisang war bei der Gründung 1993 auf Behr zugegangen, um einen industrieerfahrenen Verwaltungsrat an Bord zu holen. Von 1998 bis im Mai 2008 sass Behr im Verwaltungsrat der Bellevue Holding – also auch in der Zeit, als das Sia-Paket aufgebaut wurde. Zudem war der Multimillionär auch Kunde. Einer, den Mitgründer Albrecht sehr engagiert betreut.

Am 15. November 2007 um 14.25 Uhr schickt Dieter Albrecht an Giorgio Behr eine E-Mail mit einer «Liste der grössten Publikumsfondsholder von Sia». Es sollte nur eine von vielen Mails in Sachen Sia sein, mit denen Albrecht Behr bis im Frühling 2008 eindeckt. Mit seinen Mails wird Albrecht noch für einigen Ärger sorgen. Denn für die Finma sind diese später Indizien für den Vorwurf des heimlichen Anschleichens an Sia.

Eine Liste mit den grössten Aktionären zeigt, wie die Aktienpakete verteilt sind. Nützliche Informationen für einen kommunen Investor – unerlässliche aber für jeden, der sich gross in eine Firma einkaufen will. Was die Finma bei der späteren Untersuchung allerdings nicht findet, ist ein konkreter Auftrag von Behr an die Bank, diese Liste zusammenzustellen. Ging der Anstoss also von Albrecht aus?

Einen Kunden mit Telefonanrufen oder Mails zu Transaktionen zu bewegen, gehört zum Daily Business eines Brokers, der Blockhandel betreibt. Für die Bank springen Kommissionen heraus, für den Kunden – wenn der Tipp aufgeht – ein Investitionsgewinn. Besonders lukrativ sind solche Deals, wenn die Bank mehr weiss als der Markt – wenn sie etwa weiss, was andere Investoren planen, und eventuell sogar Insiderinformationen über das Unternehmen hat. Genau dies war im Grunde stets das Geschäftsmodell der Bank am Bellevue gewesen: mit sensiblen Informationen ihr Brokerage anzukurbeln.

Sia ist eine Firma, die Gewinn versprechen könnte. Der Kurs ist von 500 Franken auf unter 400 Franken abgesackt. Das Unternehmen aus Frauenfeld produziert mit rund 1100 Mitarbeitern Schleifsysteme. Der Kurs ist in jenen Wochen gar tief, in der Branche munkelt man längst, das Management sei träge, aus Sia sei mehr zu machen.

Das ist offenbar auch die Meinung eines Mannes, der Behr besonders nahe steht: Heinrich Fischer, genannt Heini, Ex-CEO des Textilmaschinenunternehmens Saurer, wo Behr als Verwaltungsratspräsident wirkte. Spätestens seit den gemeinsamen Tagen bei Saurer sind Behr und Fischer enge Vertraute. Fischer wird denn auch zum Ausgangspunkt in Sachen Sia, wie Insider berichten. Er ist es, der Behr auf Sia aufmerksam macht und ihn darauf hinweist, da schlummere verstecktes Potenzial. Behr reagiert pragmatisch: Broker Albrecht teilt er mit, Sia auf die Watchlist zu nehmen. Sollte der Kurs unter eine gewisse Grenze fallen, dann wolle er eventuell einsteigen

Im November 2007 kauft Behr 22 495 Sia-Aktien. Das sind 2,99 Prozent der Stimmrechte – also haarscharf unter der Meldegrenze. Es ist der Startschuss einer Operation, mit der Behr einige Monate später einen Gewinn von 36 Millionen Franken einstreichen wird.

Ob es auch Teil eines gezielten Plans war, ist ungeklärt. In der Befragung durch die Finma verneinen Behr als auch Albrecht dies. Es sei ein privates Investment gewesen, so Behr, eine Strategie in Bezug auf Sia sei nicht dahinter gestanden. Behr habe ihm gegenüber die Karten nicht offengelegt, sagte Albrecht aus. «Durch die Information von Herrn Heini Fischer und durch den Positionsaufbau von Herrn Behr auf 2,99 Prozent wurde das Ganze für mich zu einem Projekt, ohne dass ich damals wusste, was das Endziel des Projektes war», ist in den Einvernahmeprotokollen nachzulesen.

Dennoch kommt jetzt Bewegung in die Sache. Zwischen Ende November 2007 und Ende Januar 2008 baut die Bank am Bellevue eine Position von 9,81 Prozent an Sia-Namenaktien auf. Ungewöhnlich viel angesichts der Bedeutung der Firma. Das Paket an Sia-Aktien wird im Dispobestand der Bank gehalten.

Die Mails an Behr werden nun konkreter. Am 24. Januar 2008 abends um 17.04 Uhr schickt Albrecht eine Mail an Giorgio Behr: «3*3 % Tierschützer done – still more @350 available.» Im Broker-Jargon heisst das, dass drei Pakete à drei Prozent unter Dach und Fach sind. Weitere Aktien zum Kaufpreis von 350 Franken wären auftreibbar.

«Tierschützer» ist der Codename für Sia. Gewählt hat ihn Behr, der dafür bekannt ist, seine Projekte mit mysteriösen Bezeichnungen zu versehen. Am nächsten Morgen legt Albrecht nach. In seiner Mail vom 25. Januar 2008, 10.05 Uhr, an Behr heisst es: «Tierschützer jetzt total 6*2,9 % (habe aber noch nicht alle Titel).»

Mit dieser Mail wird die Sache für die Finma endgültig verdächtig. Von sechs Paketen ist die Rede, jedes knapp unter der Meldeschwelle von drei Prozent und daher nicht sichtbar – zusammengeführt in einer Hand würde dies fast 18 Prozent ergeben. Eine Summe, mit der man Sia schon fast im Sack hätte. Denn eine Analyse von Präsenz und Abstimmungsverhalten an bisherigen Sia-Generalversammlungen zeigt, dass Stimmrechte von rund 23 Prozent genügen, um das Aktionariat zu dominieren. Diesen Sachverhalt sollte Albrecht seinem Kunden später in einer Mail mitteilen.

Auch auf diese Mail antwortet Behr nicht. Wiederum stösst die Finma auch auf keine schriftliche Vereinbarung und keine Telefonnotiz, mit der sich eine Aktivität von Behr nachweisen liesse.

Ab Anfang Februar 2008 erhält die Sache Dynamik: Während die Bank weiter zukauft, werden schrittweise Pakete aus dem Dispobestand der Bank am Bellevue an verschiedene Personen ausgelagert. Auffallend viele davon stehen in Beziehung zu Behr.

Am 6. Februar 2008 sinkt der Anteil Sia-Aktien im Dispobestand der Bank am Bellevue um 22 495 Aktien – genau 2,99 Prozent. Diese Aktien werden im Namen der Grapal Holding AG registriert. Präsident mit Einzelunterschrift ist kein Geringerer als Hans-Jörg Graf, Gründungsmitglied und nach Bisang mit 9,19 Prozent der zweitgrösste Teilhaber der Bank am Bellevue.

Am 14. März werden 2000 Aktien auf den Namen der Drusatsch Finanz AG eingetragen. VR-Präsident ist Robert Heberlein. Der Gatte von Ex-FDP-Ständerätin Trix Heberlein ist nicht nur ein bekannter Wirtschaftsanwalt, er war auch mehrere Jahre Präsident der Bellevue Holding. 3000 Aktien gehen an die GK-Invest in Appenzell. VR-Präsident ist Günter Kreissel. Er war bis 1998 Verwaltungsrat von Bellevue Asset Management. 1200 Aktien werden im Namen von Jörg Ruff, Kadetten Investment Pool, registriert. Präsident des Handballclubs Kadetten Schaffhausen ist Giorgio Behr.

Wie heikel der Deal mit dem Einbezug verschiedener Personen aus dem engsten Umfeld der Bank geworden ist, hätte Albrecht eigentlich bewusst sein müssen. Er liefert damit der Finma eine Steilvorlage für den Vorwurf des «Parkierens».

Umso mehr, als die Aufsicht davon ausgehen muss, dass zwischen Behr und den Bellevue-Bankern auch informell so einige Informationen geflossen sind. Schliesslich hat man im vertrauten Umfeld von Gleichgesinnten so manche Schlacht zusammen geschlagen – und dabei ordentlich Geld verdient. Beim Deal mit Metalor vor einigen Jahren etwa, als Bisang, Behr und andere Vertraute zusammen 55 Prozent an der Neuenburger Goldschmelzerei erwarben.

Am 14. März 2008 unterläuft der Bank am Bellevue ein peinlicher Fehler, infolgedessen Investor Behr in Sachen Sia beinahe geoutet wird. An diesem Tag erfolgen zwei Eintragungen im Aktienregister: 22 495 (2,99 Prozent) im Namen von Giorgio Behr und 600 (0,08 Prozent) im Namen von Giorgio Behr. Damit hat Behr 3,07 Prozent und eigentlich die Meldeschwelle überschritten. Dass die Börsenmeldestelle dennoch nichts davon erfährt, liegt daran, dass er den Eintrag umgehend korrigieren und die Aktien auf den Kadetten Investment Pool registrieren lässt. «Ein Fehler der Bank», so Behr später lakonisch.

In seiner Euphorie produziert Albrecht in jenen Wochen weitere E-Mails, die der Finma verdächtig erscheinen. Etwa jene vom 15. Januar an Mitgründer Jürg Schäppi: «Willst du da dabei sein oder willst du lieber von nichts wissen?» Albrecht erklärt später, damit sei nicht Sia, sondern ein anderes mögliches Projekt von Giorgio Behr gemeint, nämlich der Aufbau eines Industriekonglomerats im Sinne einer GE Europa. Schäppi taucht nicht als Investor in Sachen Sia auf.

Wiederholt hält Albrecht auch seinen CEO Martin Bisang in Sachen Behr auf dem Laufenden. Vereinzelt mit dem Vermerk versehen: «Strictly confidential». Auch Bisang spielt keine aktive Rolle, zeigt aber andererseits wenig Bestreben, den Deals ein Ende zu setzen. Die Passivität des Chefs erstaunt Beobachter in der Branche. «Ich verstehe nicht, warum er seinen an sich guten Ruf ohne Not aufs Spiel gesetzt hat», sagt ein Investor. Bisang hätte die heiklen Deals mit Behr «unbedingt unterbinden müssen».

Andererseits: Albrechts Wirken zeigt auf den ersten Blick wenig andere Merkmale als jene Brokerage-Aktionen, welche die Bank am Bellevue seit der Gründung betrieben hat. Solche Deals waren vielleicht mitunter in der Nähe des rechtlichen Graubereichs, aber doch nicht verboten – und was nicht explizit verboten ist, gilt als erlaubt. Sollte die Bank am Bellevue ihr Geschäftsmodell, mit dem die Gründer um Bisang reich geworden sind, beerdigen?

An der Bank muss vorbeigegangen sein, dass sich die Zeiten geändert hatten. Nach 2007 wurde – unter dem Eindruck mehrerer feindlicher Übernahmen – die Gesetzgebung in der Schweiz verschärft, etwa mit der Senkung der Meldepflichtgrenze von fünf auf drei Prozent. Parallel dazu stieg auch die Sensibilität der Aufsichtsbehörden. Sie wirken heute näher am Vorbild der amerikanischen Börsenaufsicht SEC. Im Aufsichtsrecht kann generell schneller zu Strafen geschritten werden als im Strafrecht, wo stets «im Zweifel für den Angeklagen» gilt. Wenn es zu viele Zufälle gibt, wenn eine Indizienkette bei nüchterner Betrachtung keinen anderen Schluss zulässt, dann genügt das für die Aufsicht als Beweisführung.

Da ist jeder gut beraten, vom Graubereich deutlich Abstand zu halten.

Während in ihrem Aktienregister namhafte Mutationen stattfinden, ahnen die Chefs von Sia offenbar nichts vom Sturm, der sich über ihren Köpfen zusammenbraut. So kommt es denn auch zu einem freundlichen Treffen zwischen Bellevue-Bankern und Sia-Repräsentanten. Am 20. März macht Albrecht zusammen mit seinem Brokerkollegen Bruno Teta bei Sia Abrasives einen «Research-Besuch». Die beiden treffen Roland Eberle, den CEO, und Gerhard Mahrle, den Finanzchef. Der Eindruck, den das Management über Sia vermittelt, scheint nicht der beste gewesen zu sein. Der Eindruck, es bestehe Potenzial für Verbesserungen, bestätigt sich. Und einer sollte bald zum grossen Kauf ansetzen: Giorgio Behr.

2. Akt: Die Attacke. Villmergen, Sitz von Behr Bircher Cellpack, 
März 2008

Der in Villmergen ansässige Industriekonzern Behr Bircher Cellpack von Giorgio Behr ist ein Mischkonzern mit über 1200 Mitarbeitern, tätig in der Sensorik und der Verpackungstechnik. Vom Firmensanierer zum Unternehmer geworden war der studierte Wirtschaftsprüfer 1991, als er keinen Käufer für den von ihm restrukturierten Apparatebauer Bircher fand – und deshalb die Firma selber übernahm, zusammen mit dem Industriellen Anton Bucher-Bechtler.

Danach baute Behr stetig weiter an seiner Industriegruppe. Auch in diesen Monaten Anfang 2008 wälzt Behr mehrere Projekte: Verkauf von Firmenteilen, Investition der möglicherweise frei werdenden Mittel in den Apparatebauer Ascom, Kauf möglicher Beteiligungen und so weiter – viele Optionen sind offen.

Freie Mittel von 130 Millionen fliessen ihm schliesslich aus dem Verkauf einer Tochtergesellschaft zu. Weil andere Verhandlungen scheitern, vor allem auch die 100-Millionen-Investition bei Ascom, steht Behr am Ende all seiner Planspiele mit einer vollen Kasse, aber nur noch wenigen übrig gebliebenen Projekten da. Eines davon: Tierschützer.

Am 26. März kommt es in Sachen Sia zu einem wichtigen Treffen. Behr kontaktiert Peter Lehner, Manager des Anlagefonds SaraSelect. Dieser Fonds ist mit 8,4 Prozent der Stimmen der mit Abstand grösste Aktionär von Sia. Als grosser institutioneller Anleger ist er in seinem Anlageentscheid unabhängig. Lehner ist mit seinem Paket bei Sia nicht mehr glücklich, zeigt Zweifel an der Investitionsstrategie von Sia. Behr signalisiert Lehner, er wolle sich als Ostschweizer Unternehmer engagieren. Die Anfrage von Behr kommt für Lehner offenbar in einem guten Moment. Die Finanzkrise hat viele Investoren unter Druck gesetzt, Liquidität ist wichtig.

So kommen die beiden zum Handschlag. Lehner verkauft Behr mit 3,8 Prozent den bisher grössten Brocken im Spiel um Sia – und ermöglicht dem Projekt Tierschützer den Quantensprung. Bei Behrs späterem Angriff auf den Kunststoffproduzenten Quadrant wird Lehner wieder an Behrs Seite stehen.

Bei Sia muss es nun Schlag auf Schlag gehen, denn damit kann sich Behr nicht mehr unter der Meldeschwelle verstecken. Und der Investor geht auf tutti.

Für Banker Albrecht brechen nun arbeitsame Tage an, denn nach und nach müssen Aktienpakete von bisherigen Investoren zu Behr wechseln – der Blockhändler ist in seinem Element. Zwei weitere institutionelle Investoren, die Unfallversicherungsanstalt Suva und die Nationale-Suisse-Versicherung, Durchlaufkunden, welche die Bank als Broker betreut, verkaufen ihre Pakete – mit 2,8 Prozent und 2 Prozent sind dies auch wichtige Brocken.

Doch auch in die Pakete der «Friends und Family» kommt Bewegung. Am 28. März etwa werden die 22  495 Aktien von Bellevue-Mitgründer Hans-Jörg Graf und anderen, kleineren Investoren aus dem Aktienregister ausgetragen und gleichentags 23 400 Aktien für Behr Bircher Cellpack und 2605 Aktien für Giorgio Behr im Aktienregister eingetragen. Die Aktien von der GK-Invest von Ex-Bellevue-Asset-Management-Verwaltungsrat Günter Kreissel wechseln ebenso die Hand wie jene von Ex-Bellevue-Holding-Präsident Robert Heberlein oder jene des Kadetten Investment Pool. Auffallend: Mehrere Investoren zeigen bezüglich Ein- und Ausstieg ein Parallelverhalten.

Wie heikel der Deal auch in dieser Hinsicht in den Augen eines Regulators aussehen muss, ist offensichtlich. In der Tat machen die reibungslosen Verkäufe der Pakete von den Vertrauten den Eindruck, bislang «parkierte» Positionen würden nun einfach «abgerufen» – und Behr übertragen. Zum Beispiel kommen am 3.  April mehrere Aktienpakete zurück zur Bank am Bellevue von exakt denselben Parteien, denen die Bank exakt dieselben Pakete vier Wochen zuvor verkauft hat. Eine dieser Parteien ist etwa Kreissels GK-Invest.

Dass er sich der Problematik bewusst war, zeigt die Mail von Albrecht an Behr vom 25. März, 10.45 Uhr, in der er vor allzu naheliegenden Verbindungen warnt: «Toni/Heini sind suboptimale Lösungen mit Gefahr dass diese in deine Nähe gebracht werden.» Mit Toni ist Anton Bucher-Bechtler gemeint, der Partner von Behr beim Kauf von Bircher, Heini bezieht sich auf Heini Fischer, den Freund aus gemeinsamen Saurer-Zeiten.

Am 1. April meldet Behr auf einen Schlag 22 Prozent an Sia. Am Abend geht die Meldung des Grosseinstiegs von Behr über den Ticker. Broker Albrecht reagiert auf seine Weise auf die frohe Nachricht – er schickt eine E-Mail an Martin Bisang, Hans-Jörg Graf und weitere Exponenten der Bank: «Heute nach Börsenschluss/ man darf über die wunderbare Harmonie schmunzeln!»

3. Akt: Der Streit. 
Autobahnraststätte Thurau, 
März 2008

Die Ostschweizer Autobahnraststätte Thurau ist ein wenig einladender Ort. Am 29. März um sieben Uhr früh, an einem kühlen Morgen, trifft sich hier Giorgio Behr mit Sia-Präsident Peter Schifferle. Am Tag zuvor, Schifferles 64. Geburtstag, hat ihn Behr angerufen und ihm mitgeteilt, dass er Sia-Aktien in grösserem Stil gekauft habe. Seine wie üblich zum Geburtstag geplante Woche Golfurlaub stellt Schifferle zurück.

An der Raststätte kommt Behr schnell auf den Punkt: Er wolle stärkster Aktionär bei Sia werden. Der Präsident freut sich, dass die verwundbare Sia einen neuen Ankeraktionär bekommen sollte. Per Handschlag verabschiedet man sich.

Darüber, was des Weiteren besprochen wurde, herrscht Uneinigkeit. Gemäss Giorgio Behr wurde verabredet, dass er 30 bis 32 Prozent der Aktien kaufen wolle, zwei von fünf Sitzen im Verwaltungsrat, inklusive des Präsidentenamtes, besetzen wolle und Sia an der Börse bleiben solle. Gemäss Peter Schifferle sprach Behr von maximal 20 Prozent, äusserte keine Ambitionen auf einen Sitz im Verwaltungsrat und bekam zudem eine klare Ansage, dass die bei Sia gültige Stimmrechtsbeschränkung von fünf Prozent auch bei ihm angewandt werde. Enge Beobachter schliessen heute nicht mehr aus, dass es «tatsächlich ein komplettes Missverständnis zwischen Behr und Schifferle gegeben haben könnte».

Bald beginnt ein Powerplay: Sia hält den neuen Grossaktionär auf Abstand, Behr kauft weitere Aktien zu. Er sagt später zur Erklärung, er habe in der Zwischenzeit zu seiner Überraschung erkennen müssen, dass die Vereinbarungen nicht umgesetzt würden. «Ich musste dann mein Investment schützen.» In dieser Zwischenzeit ging es heftig zur Sache. Im Sia-Verwaltungsrat, berichtet einer von damals, habe Behr «uns beschimpft, als dumme Schulbuben bezeichnet und erklärt, dass er auf uns alle verzichten könne». Eine industrielle Strategie für Sia habe Behr nie vorgestellt. Andererseits bestätigen andere Beobachter, dass Sia seinerzeit zwar gute Produkte hatte, aber «eine ziemlich undynamische Firma war».

Über die Börse und durch die Vermittlung weiterer Pakete durch die Bank am Bellevue steigert Behr den Anteil an Sia bis auf 38 Prozent. Im August 2008 schreitet er zur finalen Attacke: Er macht ein öffentliches Übernahmeangebot und bietet 385 Franken pro Aktie. Die Empörung bei den Sia-Chefs Schifferle und Eberle ist gross, denn damit würde sich Behr die Firma zum Schnäppchenpreis sichern.

Die Sia-Oberen machen sich auf die Suche nach einem «weissen Ritter», der das belagerte Unternehmen vor dem Raider schützen sollte. Man nimmt Kontakt mit dem Grosskunden Bosch auf. Zwei Jahre vor Behrs Angriff hatte Bosch bereits bei Sia angeklopft: Die Ostschweizer wollten allerdings nicht verkaufen, und Bosch scheute eine feindliche Übernahme. Nun, unter den neuen Vorzeichen, nimmt Schifferle das Gespräch wieder auf. Bosch legt ein Übernahmeangebot vor und bietet den freien Aktionären 435 Franken. Richtig Reibach aber macht Behr: Er lässt sich sein Paket mit 515 Franken pro Aktie vergolden – ein enormer Aufschlag als Blockprämie, der vielen Kleinaktionären aufstösst.

Für Behr aber ist die Operation «Tierschützer» aufgegangen. Bosch zahlt ihm für seine Aktien 154 Millionen Franken – Behr macht unter dem Strich einen Gewinn von 36 Millionen Franken. Auch die Trittbrettfahrer im Pokerspiel um Sia profitieren, allerdings deutlich weniger üppig als Behr. Hans-Jörg Graf verkauft seine Aktien 2,92 Prozent über dem Einstandspreis, Robert Heberlein 3,24 Prozent. Einen höheren Schnitt erzielt die Suva mit einem Plus von 8,95 Prozent.

Andere beteiligte Investoren beklagen sich hinterher im kleinen Kreis, vom Gewinn im Vergleich zu Behr nur einen kleien Teil abbekommen zu haben. Die Freundschaft zwischen Behr und einzelnen Repräsentanten der Bank scheint sich inzwischen deutlich abgekühlt zu haben.

Sia, durch Behrs Attacke in die Arme von Bosch getrieben, verliert dafür ihre Unabhängigkeit. Im September 2008 reicht die Sia Abrasives Holding AG Anzeige bei der Eidgenössischen Bankenkommission ein, «betreffend Verdacht auf Meldepflichtverletzung durch Herrn Giorgio Behr et al.».

4. Akt: Die Strafe: Bern, 
Sitz der Finanzmarktaufsicht Finma, 
November 2009

David Wyss ist einer der jüngeren Beamten bei der Finanzmarktaufsicht Finma und gilt als ehrgeiziger Mann. Der Abteilungsleiter im Bereich Enforcement ist mit der Untersuchungsführung in Sachen Bank am Bellevue betraut. Im November 2009 eröffnet die Finma aufgrund der Untersuchung bereits das zweite Verfahren in Sachen Sia: gegen Investor Giorgio Behr wegen möglicher Meldepflichtverletzungen. Einige Monate zuvor, im Juni 2009, ist bereits ein Verwaltungsverfahren gegen die Bank am Bellevue eröffnet und ein Untersuchungsbeauftragter eingestellt worden. Hintergrund dafür war die Vermutung, die Bank habe Behr unzulässigerweise beim Beteiligungsaufbau unterstützt.

Die von der Finma angeheuerten Untersuchungsbeauftragten – ein Team der Zürcher Anwaltskanzlei Bill, Isenegger und Ackermann – gehen ihre Aufgabe forsch an. Im Juni 2009 klopfen sie an die Pforten der Bank und begehren Einlass. Sofort machen sie sich an die Kontrolle von Akten und Computereinträgen. In der Presse sollte später von einer regelrechten «Razzia» gesprochen werden.

Laut Reglement muss der Untersuchte die Kosten der Untersuchung selber tragen. Die Anwaltskosten der Bank sollen inzwischen in die Millionenhöhe gehen.Später mit den Ergebnissen der Untersuchung konfrontiert, wird der Bank klar, dass sie in der Bredouille ist. Die Finma kommt zum Schluss, Bellevue habe Behr beim heimlichen Aufbau einer Sia-Position unterstützt, Aktien parkiert und abgerufen. Die Strafe, die folgen wird, ist hart, droht die Aufsicht doch im Wiederholungsfall mit Lizenzentzug. Erschwerend kommt hinzu, dass eine solche mögliche aufsichtsrechtliche Liquidation, der juristische Tod der Bank sozusagen, ohne Verjährungsfrist, also auf unbestimmte Zeit, angedroht wird. Ausserdem stellt die Verfügung in keiner Weise klar, was denn genau als Wiederholungsfall gewertet würde.

Die Bank ist dadurch faktisch unverkäuflich. Für die Gründer steht ihr Lebenswerk auf dem Spiel.

Derweil kämpfen sich Bisang und seine Mitstreiter durch schwere Zeiten. In der Branche ist es üblich, dass einzelne institutionelle Kunden die Zusammenarbeit mit einer Bank auf «freeze» setzen, wenn sie im Clinch mit der Aufsicht liegt. Gemeint ist, dass die Compliance-Verantwortlichen ihren Portfoliomanagern auftragen, die Bank zu meiden und auf andere Broker zu setzen, bis die Sache geklärt ist. Im ohnehin durch die lauen Märkte gedrückten Brokerage-Business ein gewichtiger Nachteil.

Angesichts der Bedeutung des Falles fällt auf, wie schludrig die Finma teilweise vorgegangen ist – und so selber Angriffsfläche bietet. So ist der Tonfall, den sie in der Verfügung wählt, in Rechtsschriften unüblich und wirkt unprofessionell. In der Verfügung finden sich Wendungen wie «schaltete und waltete» oder «Tür und Tor öffnen». Zudem treten Verfahrensfehler auf. Wichtige Zeugen wurden bis heute nicht einvernommen, Sia-Grossaktionär Peter Lehner von SaraSelect etwa, der mit dem Verkauf von 3,8 Prozent Behr den grössten Brocken lieferte.

Generell herrscht bei der Bank der Eindruck vor, Entlastungszeugen seien zu wenig stark einbezogen worden. Dem Ganzen liegt ein struktureller Mangel zugrunde: In aufsichtsrechtlichen Fällen wie diesem sind die untersuchende und die strafende Behörde dieselbe.

Schon früh reichte die Bank in dieser Teilfrage Beschwerde ein und bekam letztes Jahr vor Bundesverwaltungsgericht recht. «Indessen stellt insbesondere das Ignorieren des wiederholten Antrags auf Zeugeneinvernahme einen offensichtlichen, nicht leicht zu nehmenden Verfahrensmangel dar», schreiben die Bundesrichter. Einen Beweis für Voreingenommenheit sehen die Richter darin aber nicht. In der Hauptfrage hat die Bank denn auch juristisch bisher nicht an Boden gewinnen können.

Bankintern haben die Finma-Untersuchungen und die hohe Medienpräsenz für Missmut gesorgt. Doch nicht nur den Regulatoren und Journalisten gilt der Groll, auch die Kritik der jüngeren Banker im Team gegen die alten Kämpen wächst. Hat CEO Bisang mit unglücklichen Interviews zum Geschäftsverlauf der Bank am Bellevue schon einiges Geschirr zerschlagen, so belastet das Nachbeben des Wirkens von Albrecht die Bank zusätzlich. Viele wünschen sich einen Neuaufbruch, ohne die Lasten der Vergangenheit – und auch ohne manche ihrer Vertreter.

Für die Protagonisten stehen Veränderungen an. Finma-Beamter David Wyss wurde im März zum Chef des Bereichs Enforcement befördert. Für Giorgio Behr sind die Voruntersuchungen abgeschlossen. Nun wird das Finanzdepartement eine Verfügung erlassen und gegebenenfalls eine Busse verhängen. Schätzungen gehen von mindestens einer Million Franken aus. Bank-CEO Martin Bisang hat mit einer Beschwerde ans Bundesverwaltungsgericht den Verteidigungskampf verstärkt und kämpft um den Ruf der Bank.

Der wichtigste Mann räumt das Feld: Broker Dieter Albrecht wird die Bank am Bellevue per 1. Juni verlassen. Er wird danach zumindest mehr Zeit fürs Pokerspiel haben. Das nächste grosse Turnier der Pokerwelt steht bereits an. Es findet ab Ende Mai in Las Vegas statt.