Solange die Bank Julius Bär in Familienhand war, pflegte sie eine besondere Kultur. Zuoberst stand nicht der Gewinn um jeden Preis, sondern das Wohl der Kunden. Am 2. Dezember 2005, im Alter von 115 Jahren und 31 Tagen, verschwand diese Bank. An jenem Freitag fusionierte sie mit vier von der UBS erworbenen Finanzgesellschaften. Seither heisst es bei Julius Bär nicht mehr nur: Was ist gut für unsere Kunden? Sondern vor allem: Was ist rentabel für die Bank?
Das kann nur Ignoranten und Romantiker überraschen. Denn die wichtigsten Entscheidungsträger der neuen Julius Bär Gruppe kommen von aussen, aus der Welt der Grossen. Der eine war Chef der Vermögensverwaltung der CS, zwei weitere machten ihren Weg in der UBS, die im letzten Herbst ihre kleinen Privatbanken und eine Fondsgesellschaft für die Rekordsumme von sechs Milliarden Franken an Bär verkaufte. Dass das Topmanagement mitwechseln und mit alten Gewohnheiten brechen würde, war Teil des Deals.
Obwohl das absehbar war, verstehen langjährige Bär-Mitarbeiter die Welt nicht mehr. Sie wünschen sich die vergangenen Zeiten zurück, als ein Arbeitstag noch achteinhalb Stunden hatte und der Vorgesetzte mehr Kollege als strenger Chef war. Das Tempo, die Forderungen des neuen Managements, der Zwang zu raschen Entscheiden und der daraus entstehende Druck machen ihnen zu schaffen. Verbittert und verschüchtert wenden sich die Prokuristen und Direktoren an ihren alt-neuen Präsidenten, in der Hoffnung, wenigstens bei ihm Mut und Zuversicht für die unsichere Zukunft zu finden. Sie hoffen vergebens.
Denn der Präsident selbst ist nicht mehr der alte. Raymond J. Bär, J. wie Julius der Firmengründer, spricht nun wie jeder x-beliebige Manager der Finanzbranche: Aktionärswerte steigern, wachsen, investieren, globaler Konkurrenzkampf – der Urenkel des Patriarchen hat den einstigen Traditionen der Familienbank den Rücken gekehrt.
«Das ist eine neue Bank in einer anderen Liga und mit anderen Dimensionen», begründet der 46-Jährige seinen Wandel. Es gehe darum, dieses Finanzhaus zum Erfolg zu führen, schliesslich stehe für alle viel Geld auf dem Spiel. Insbesondere für ihn selbst: Sein Familienstamm besitzt einige Prozente der neuen Bank.
Ursprünglich wollte sich der Präsident den Fragen zur Firmenkultur nicht stellen. Erst nachdem diverse Zeitungen kritisch über das Thema berichtet hatten, änderte er seine Meinung. Nun blickt er ernst durch seine silbrig-transparente Hornbrille. Er sieht anders aus als letzten Herbst, als er seinen grossen Übernahmecoup stolz der Öffentlichkeit präsentierte. Die langen schwarzen Haare fallen nicht mehr luftig gelockt auf die Schultern, sondern kleben ihm am Kopf. Er spricht schnell, begleitet von schnellen Bewegungen. Vielleicht fordert die Arbeit ihren Tribut, vielleicht gehen ihm die Klagen der Mitarbeiter über den Führungsstil der neuen Chefs unter die Haut. Oder es ist nur der nasskalte Wind, der an diesem Dienstagabend im Januar durch die Gassen der Zürcher Innenstadt bläst und aufs Gemüt schlagen kann.
Bär ist unter Zeitdruck. Er komme eben aus einer Sitzung mit der neuen Geschäftsleitung und müsse um sechs am nächsten Meeting sein. Es bleiben 30 Minuten.
«Herr Bär, Ihre Mitarbeiter klagen über die Zerstörung der alten Kultur. Was sagen Sie ihnen?»
«Dies höre ich immer wieder. Dann frage ich die Leute: ‹Welche Kultur meint ihr denn? Die mit den unklaren Zielen? Die, dass wir immer nett miteinander waren, aber keinen Drive mehr hatten?› Meistens verstummt dann die Kritik sehr schnell.»
Einen Moment lang ist es totenstill im Büro des Präsidenten, einem engen, quadratischen Raum von 20 Quadratmetern und mit sechs Meter hoher Decke, einem Silo von einem Arbeitszimmer. Was für eine Antwort für jemanden, der vor drei Jahren zum Präsidenten gewählt wurde und seither die oberste Verantwortung trägt. Falls Julius Bär zu wenig straff geführt wurde, geht das in erster Linie auf das Konto von Präsident Raymond Bär selbst.
Offenbar zählt dieser zur raren Sorte von Managern, die sich nicht über alle Masse ernst nehmen. Dazu würde passen, dass es nur wenige Bankpräsidenten geben dürfte, die in ihrem Büro einem Maskottchen einen Logenplatz einräumen. Bei Bär lugt die breite Nase eines weissen Stoffbären, den man aus der jahrelangen Werbung für die Bank kennt, über die Tischkante. Der Sitz sei wohl besetzt, fragt man beim Eintreten zur Auflockerung der Stimmung und zeigt auf den Plüschbären. Ja, antwortet der Präsident trocken. Es klingt, als wolle er sagen: Lassen Sie die Sprüche.
Kein Smalltalk also. Ja, er habe die Führung in neue Hände gelegt. Ja, es hätten jetzt Leute von aussen das Sagen. Aber genau diese Blutauffrischung fürs oberste Management sei entscheidend gewesen für den Deal mit der UBS. Wichtig sei allein, einen «respektvollen und anständigen Umgang» zu pflegen und sich auf die Kundenbedürfnisse zu fokussieren. «Erfolg ja, harte Ziele ja. Aber nicht um jeden Preis.»
Raymond Bär ist in Fahrt gekommen. Er streckt seine Hände in die Luft, weit über den Kopf, als ob er sagen wolle: Schaut her, so gross, so bedeutend, so erfolgreich wird die neue Bank, und mir habt ihr zu verdanken, dass sie dorthin gekommen ist.
Vielleicht weil er um all die Skeptiker weiss, umschliesst er jetzt mit drei wohlklingenden Sätzen die ganze wechselvolle Geschichte des Bankhauses, von den Anfängen im Jahr 1890 bis zum heutigen grossen Sprung:
Satz Nummer eins lautet: «Mein Urgrossvater war Julius Bär, Gründer dieser Bank.» (Will heissen: Ich, Raymond Bär, bin legitimer Nachfolger, habt also Vertrauen.)
Satz Nummer zwei: «Die Familie besitzt an der grösseren Gruppe immer noch knapp unter fünf Prozent der Aktien.» (Ich riskiere mein eigenes Vermögen.)
Satz Nummer drei: «Diese gezielte Weiterentwicklung garantiert die Nachhaltigkeit und Unabhängigkeit von Julius Bär.» (Der grosse Deal mit der UBS, den ich eingefädelt habe, ist die Basis für eine goldene Zukunft.)
Raymond Bärs Aussagen lassen sich so zusammenfassen: Ich bin einer, der aufbaut. Ich bin kein Zerstörer.
Viele aktive und ehemalige Mitarbeiter und ein Teil der Familie behaupten das Gegenteil. Sie sind überzeugt, dass der Präsident ihre Bank der UBS überlassen habe, die nicht nur die obersten Manager stellt, sondern auch 20 Prozent der Aktien der neuen Gruppe besitzt. Die UBS könne nun von innen heraus Julius Bär erobern, weil der eigene Präsident ihr die Tore geöffnet habe – so wie einst die törichten Trojaner.
Im Schutze der Anonymität beschreiben diese Kritiker die neuen Herren, die nichts mehr mit der früheren Unternehmenskultur am Hute hätten. Sie berichten von jungen, ehrgeizigen, zum Teil rüpelhaften Bankern, die aus einer anderen Welt und aus einem anderen Zeitalter stammen.
Einer dieser Jungtürken erregt die Gemüter besonders heftig. Er heisst Boris Collardi, ist 32 Jahre alt und leitet die Administration der Vermögensverwaltung, jenes Teils, der am stärksten aus der alten Bank Bär stammt. Trotz eher dünnem Schulsack hat er eine steile Karriere gemacht. Und im Unterschied zu Raymond Bär, dessen dunkelgrauer Anzug vom Allerweltsmodehaus PKZ stammen könnte, liebt es Collardi, seinen Erfolg zu zeigen.
Nach einer kaufmännischen Lehre und zwölf Jahren Aufstieg bei der CS holte ihn sein Förderer Alex Widmer, ehemals Private Banking Chef der CS und nun Leiter der Vermögensverwaltung, zur neuen Bär Gruppe. Dort fuhr Collardi schon bald im Ferrari vor. Bevor sich die Aufregung über den Aufsteiger legte, parkierte er erneut ein Modell des Luxuswagenherstellers im Innenhof des Hauptsitzes, der für Kunden reserviert ist. Der Ferrari hatte jetzt eine andere Farbe. Da schlug die Stimmung in Empörung um. In E-Mails beklagten langjährige Angestellte das protzige Gehabe des Jungmanagers.
Möglicherweise wurde deshalb ein Vorkommnis bekannt, das sich zwischen Collardi und Bär wie folgt zugetragen haben soll: Der junge Stabschef leitet eine Sitzung in seinem Büro, als sein Telefon klingelt. Am anderen Ende ist Bär. «Könnten Sie bitte rasch zu mir kommen», fragt er den Neuling. Dieser antwortet sinngemäss: «Nein, Herr Bär, ich habe zu tun. Wenn Sie etwas wünschen, können Sie zu mir kommen.»
Wer solches vernimmt, stellt sich Raymond Bär als Präsidenten mit beschränktem Einfluss vor. Im Gespräch mit ihm spürt man, dass dies ein diffiziler Punkt ist. Bär spricht plötzlich langsamer und betont jedes Wort. Bei Julius Bär habe nur einer das Sagen: der Präsident (also er). So aber will er sich nicht zitieren lassen, stattdessen wählt er eine sanfte Umschreibung seiner Stellung. «Die abschliessende Verantwortung für das Unternehmen trägt der Verwaltungsrat, den ich präsidiere. Die Konzernleitung erhält genügend Freiräume, um ihre Stärken und Erfahrungen entfalten und damit den Erfolg der Gruppe sicherstellen zu können.» Gibt sich Bär diplomatisch, weil er selbst annimmt, dass seine Macht limitiert sei, und verhindern möchte, als Prahler dazustehen?
Die wahren Machthaber sind auf jeden Fall andere. Sie profitieren davon, dass wichtige Funktionen wie Finanzen, Personal und Rechtliches von der Zentrale in die Geschäftsbereiche verschoben werden. Die Autonomie ihrer Bereiche wird dadurch noch grösser. CEO Hans de Gier, auch ein Manager von der UBS, erreicht in vier Jahren das Pensionsalter und will sich kein Bein mehr ausreissen. «You run the business», lautet sein Auftrag an die Bereichsleiter, und er delegiert die Verantwortung nach unten. Der über de Gier gesamtverantwortliche Verwaltungsrat ist dadurch noch weiter vom Geschehen entfernt.
Die zwei operativen Chefs sind verschiedene Typen. Der eine heisst Alex Widmer, ein Profi des Vermögensverwaltungsgeschäfts, der für viel Geld ein globales Filialnetz aufbauen kann. Er wählt die Strategie des geringsten Widerstands. Widmer lässt die übernommenen Privatbanken Ferrier Lullin in Genf, Ehinger & Armand von Ernst in der Deutschschweiz und Banco di Lugano an der langen Leine, in der Hoffnung, die Partner und deren vermögende Kunden nicht zu verlieren. Dass sich dadurch die Synergien des Zusammenschlusses verkleinern, scheint Widmer nicht zu stören. Er wird vor allem daran gemessen, wie rasch das Geschäft in Fernost und anderen Wachstumsregionen zum Blühen kommt. Seine Methoden sind unzimperlich: Von seiner Ex-Arbeitgeberin CS wirbt er ganze Teams ab, denen er fixe Boni verspricht, die für die Bank zur jahrelangen Belastung werden können.
Der zweite starke Mann bei Bär ist David Solo, Chef des Bereichs Asset Management, wo Fonds und andere Finanzprodukte kreiert werden. Solo polarisiert. Um den bald 41-Jährigen ranken sich Gerüchte und Mythen. Vor allem seine Nähe zu Marcel Ospel, dem machiavellistischen UBS-Chef, gibt zu reden. Eine gängige Erklärung lautet, Ospel, der keinen Universitätsabschluss hat, bewundere Solos Intelligenz, umgekehrt sehe Solo in Ospel seinen beruflichen Ziehvater. Der Amerikaner sei ein kalter Fisch, sagt stellvertretend für viele ein Weggefährte aus UBS-Zeiten: blitzgescheit, analytisch, mit einer fantastischen Auffassungsgabe ausgestattet, andererseits unnahbar, misstrauisch und ungeduldig.
Solos Karriereweg verläuft – mit einer einzigen Ausnahme – gerade und steil. Nach einem Ingenieurstudium am renommierten Massachusetts Institute of Technology in Boston arbeitet er sich bei O’Connor zum Partner hoch. Diese auf moderne Finanzvehikel spezialisierte Firma in Chicago wird Anfang der neunziger Jahre von Ospel akquiriert und ist später entscheidend für dessen Sprung an die UBS-Spitze. Ospel fördert Solo und macht ihn 1998, nach einem Milliardenverlust mit einem undurchsichtigen Fonds namens LTCM, zum Mitglied seiner Konzernleitung. Bevor er 2004 bei der UBS-Tochter GAM – eine der vier an Julius Bär verkauften Gesellschaften – die Führung übernimmt, verwaltet Solo zwei Jahre lang seinen eigenen Fonds. Seine Rückkehr in den sicheren UBS-Hafen könnte darauf hindeuten, dass er als Unternehmer wenig Erfolg hat.
Als Manager hingegen erzielt er gute Resultate. Meist agiert Solo als Feuerwehrmann, der Krisen rasch unter Kontrolle bringt. Beim LTCM-Crash 1998 gelingt ihm dies ebenso wie bei seinem Kurzeinsatz 2001 bei UBS Private Equity, wo riskante Geschäftsideen finanziert werden und ein tiefes Schuldenloch entstanden ist.
Auffällig an seinem Curriculum ist, dass sich Solo nie lange um die gleiche Aufgabe kümmert. «Es wird ihm rasch langweilig», sagt ein UBS-Manager, der früher eng mit ihm zusammenarbeitete. Seit 1996, als er in London eine Topposition in der Grossbank übernimmt, verharrt er maximal zwei Jahre lang am selben Ort. Selbst in der Konzernleitung der UBS, für die meisten Manager der Karriereolymp, hält es ihn nur kurz.
Solo ist ein Einzelgänger, der nur seine Vertrauten an sich heranlässt. Der Basis dagegen geht er aus dem Weg, für sie bleibt er selbst nach mehreren Jahren gemeinsamer Arbeit ein unbeschriebenes Blatt. Auch die Öffentlichkeit kann nur über ihn rätseln, Interviews lehnt er meist ab. Und selbst Kunden bekommen ihn kaum zu Gesicht. Ein Bär-Manager erzählt von einem Kunden von GAM mit einer Milliarde auf dem Konto. Der habe Solo als damaligen CEO der Firma treffen wollen. Solo habe sich verweigert, worauf der Kunde sein Geld abgezogen habe. Solo kann das egal sein, weil er finanziell längst ausgesorgt hat. Seit dem Verkauf von O’Connor an die UBS ist der Ex-Partner Multimillionär.
Solo und Widmer werden die neue Kultur von Julius Bär prägen. Der Umgangston dürfte härter werden, Machtspiele verbreitet vorkommen, wie eine Sequenz aus einer Telefonkonferenz vom letzten Herbst zeigt. Da schildert ein Mitarbeiter Widmers einen Sachverhalt, worauf sich Solo zu Wort meldet: «This is the biggest bullshit I’ve ever heard.» (Dies ist der grösste Quatsch, den ich je gehört habe.) Wenig später faucht Widmer zurück: «Von wem stammt dieser Blödsinn?», im Wissen, dass das Konzept aus Solos Küche kommt.
Der Schlagabtausch zeigt den neuen Ton und die taktischen Winkelzüge. Beide Alphatiere versuchen, den anderen im internen Wettbewerb um Einfluss und Ressourcen zu schwächen. Für Raymond Bär wird es zur grossen Herausforderung, den versprochenen menschlichen Umgang sicherzustellen. Ihm selbst hilft vielleicht eine Holzplastik des Tessiner Künstlers Raffael Benazzi, die in seinem Büro steht. «Mein Energiespender», schwärmt Bär. «Ich lege die Hand aufs Holz, und schon fühle ich mich gestärkt.»